Die ehemalige Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli ist seit 2018 Präsidentin von Greenpeace Schweiz. Sie betont die pragmatische Seite von Greenpeace und wo die Unabhängigkeit unantastbar ist.
Stehen Sie als Stiftungsratspräsidentin von Greenpeace unter spezieller Beobachtung?
Das glaube ich nicht. In dieser Funktion wirke ich nicht besonders in der Öffentlichkeit. Meine Arbeit ist mehr nach innen gerichtet, was ich sehr schätze. Wir haben unsere Fachexpertinnen und ‑experten. Diese vertreten unsere Anliegen gegen aussen.
Aber besteht nicht ein Druck, dass Sie sich in Umweltfragen vorbildlicher verhalten sollten als der Rest der Gesellschaft?
Ich war als grüne Regierungsrätin in einem bürgerlichen Kanton für die Unterbringung der Asylsuchenden zuständig – ich bin es gewohnt, angefeindet zu werden (lacht). Aber natürlich fühle ich mich privat der Nachhaltigkeit verpflichtet. Zwar bin ich kein Engel. Aber ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Mein Ex-partner und ich haben ihn in einen Biohof umgewandelt. Ich bin bei den Grünen. Ich bin Initiantin des Start-ups «weltweit-essen». Wir produzieren biologische Lebensmittel nach der Methode der Permakultur.
Wie funktioniert dies?
Es geht darum, Sorge zu tragen zur Natur. Man nimmt, aber man gibt auch. Es ist ein uraltes Wissen. Der sorgsame Umgang mit der Natur gibt mir grosse Zufriedenheit. Wenn die Menschheit überleben will, sind wir darauf angewiesen, dass unsere Lebensgrundlagen, Boden, Wasser und Luft, aber auch das Klima für uns gesund erhalten bleiben. Aber um die Umwelt müssen wir uns nicht so viele Gedanken machen. Sie wird uns Menschen überleben.
Ihnen geht es also gar nicht um Umweltschutz, sondern um Menschenschutz?
Das hängt davon ab, wie wir die Welt anschauen. Wenn ich die Natur beobachte, bin ich immer wieder erstaunt, mit welcher Kraft sie mit Veränderungen umgeht. Die Frage ist, ob die Menschheit diese Veränderungen überleben wird. Die Vision von Greenpeace ist, dass das Leben in seiner ganzen Vielfalt stattfinden kann. Ich möchte eine Erde, bei der es nicht nur ums Überleben geht. Das klingt nach Kampf. Ich will eine Erde, auf der das gute, das sozial gerechte Leben zählt, ein gesundes Leben für alle. Und auf die Natur bezogen heisst das: Wir brauchen die Natur. Sie braucht uns nicht. Wenn wir wissen, wie viel Boden jedes Jahr unfruchtbar wird, weil wir ihn übernutzen, so versteht doch jedes Kind, dass wir uns die Lebensgrundlage entziehen – und damit auch die vieler anderer Lebewesen. Denn was wir der Natur antun, fällt früher oder später auf uns zurück. Die Gesundheit von Ökosystemen, Menschen und Tieren ist eins. Darum ist das CO2-Gesetz so wichtig, darum unterstütze ich auch die beiden Pestizidinitiativen. Wir müssen uns mehr bewusst werden, dass wir uns selbst schaden.
Wie machen wir das?
Ein Beispiel ist die Corona-Pandemie. Diese ist für uns Menschen ein Problem, nicht für die Natur. Dass es so weit kam, hat mit unserem Lebensstil, der Zerstörung von Lebensräumen, der Globalisierung, der hohen Mobilität zu tun. Ich hoffe, dass sich die Menschen überlegen, wem wir mit unserem Verhalten schaden. Denn das sind vorwiegend wir selber.
Sie waren Regierungsrätin. Sie kennen das Funktionieren des Staates. Werden NGOs und Freiwillige dort aktiv, wo der Staat versagt?
In der Schweiz wird in extrem vielen Bereichen sehr viel Freiwilligenarbeit geleistet. Ist das ein Versäumnis der Politik? Oder ist es nicht vielmehr ein Versäumnis der Gesellschaft? In einer Demokratie bildet die Politik die Gesellschaft ab. Daher würde ich sagen, es sind Versäumnisse der Gesamtgesellschaft. Aber es ist halt immer sehr einfach, wenn man der Politik die Schuld geben kann. So ist man selbst aus dem Schussfeld.
Was kann eine Stiftung besser als der Staat oder ein Unternehmen?
Der Wirtschaft geht es vorwiegend um Gewinnmaximierung. Für NGOs steht die Sache im Vordergrund. Für diese stehen sie ein, für diese haben sie sich verpflichtet. NGOs oder Stiftungen können die Gesellschaft immer wieder auf Versäumnisse aufmerksam machen, auf eine wahrhaftigere oder unverfrorenere Art. Sie sind nicht so verbandelt. Sie müssen nicht so viel Rücksicht nehmen.
Wie frei sind Sie als Greenpeace Schweiz, wie stark müssen Sie auf die internationale Organisation Rücksicht nehmen?
Natürlich ziehen wir alle an einem Strick. Wir unterstützen Greenpeace International bei den Zielen, die weltweit angestrebt werden. Als Länderorganisation brechen wir diese herunter. Steht der Schutz der Antarktis oder der Meere im Vordergrund, versuchen wir diese «einzuschweizern». Wir überlegen: Wie können wir dieses Thema für die Menschen in der Schweiz zugänglich machen.
Antarktis und Walfang bedeuten spektakuläre Bilder.
Starke Bilder bewegen Menschen. Nehmen Sie das Plastikproblem. Die Schweiz hat einen extremen Plastikverbrauch. Auch wir tragen also dazu bei, dass die Meere mit Plastik verschmutzt werden. Wir nutzen das Plastik. Wir sorgen dafür, dass es produziert wird. Man darf mit spektakulären Bildern auf diese Probleme aufmerksam machen. Aber Greenpeace arbeitet nicht nur mit spektakulären Bildern. Wir arbeiten wissenschaftlich. Diesen Winter haben wir mit einer Feldstudie aufgezeigt, wie chemisch-synthetische Pestizide abdriften und sich via Luft weiterverbreiten. Ausserdem hilft Greenpeace, Lösungen zu finden. Wir versuchen, mitzuhelfen und aufzuzeigen, wie unsere Gesellschaft es besser machen kann.
Wie eng können Sie mit der Wirtschaft zusammenarbeiten?
Wir tauschen uns mit anderen Akteuren aus. Beispielsweise benennen wir Alternativen zu Einwegverpackungen. Gleichzeitig bewahren wir immer die Unabhängigkeit, um die Unternehmen öffentlich kritisieren zu können.
Fotos: Herbert Zimmermann
Sie haben dazu aufgerufen, die Takeaway-Angebote der Restaurants zu nutzen.
Die Pandemie ist eine aussergewöhnliche Situation. Sie treibt die Menschen um und in die Not. Mit unserem Aufruf wollten wir auf die schwierige Situation der Gastronomie hinweisen – und sehr pragmatische Lösungsvorschläge präsentieren.
Aber Takeaway bedeutet Plastik.
Es ist so, dass sehr viele Gastronomieunternehmen kurzfristig auf Takeaway umgestellt haben. In dieser Zeit konnten die wenigsten auf die Schnelle Mehrweg-Takeaway organisieren. Aber Greenpeace will dazu beitragen, das Problem langfristig zu lösen. Einfach nur mit dem Finger zeigen, wer was falsch macht, das nützt niemandem.
Wo ziehen Sie die Grenze zur Wirtschaft?
Was nie gehen würde, ist, Geld oder Leistungen anzunehmen. Unabhängigkeit ist bei uns ganz stark verankert. Wir nehmen Spenden von Privatpersonen und von Stiftungen. Wir sind und wollen finanziell unabhängig sein – genauso wie wir politisch unabhängig sind.
Das heisst?
Das Ausüben von politischen Ämtern auf der Stufe Gemeinde oder höher ist nicht mit einer Anstellung bei Greenpeace vereinbar.
Greenpeace ist politisch unabhängig, mischt sich aber in politische Themen ein. Aktuell gibt es Stimmen, die verbieten wollen, dass steuerbefreite NGOs sich in die Politik einmischen dürfen. Ist dies auch in anderen Ländern ein Thema?
In gewissen Ländern ist das ein grosses Thema. Einige unserer Büros sind extrem unter Druck und werden sogar durchsucht. Es ist schwierig, in diesen Ländern das notwendige Geld für die Arbeit zu erhalten.
Und in der Schweiz?
Bis zur Konzernverantwortungsinitiative war der Druck in der Schweiz auf NGOs nicht so hoch. Aber der Abstimmungskampf war vergiftet. Mit der finanziellen und lobbyierenden Macht der Konzerne können wir niemals konkurrieren. Immer mehr Menschen wollen diese Macht der Konzerne nicht länger goutieren. Und das ist gut so! Die Verflechtungen von Grosskonzernen und Politik sind Gift für das Klima, die Biodiversität und das Gemeinwohl. Greenpeace deckt auf, dokumentiert, mobilisiert, bringt Expertise ein im Umwelt- und Klimaschutz. Wir drücken den Finger auf den wunden Punkt. Zu sagen, NGOs dürfen politisch nicht aktiv sein, halte ich für sehr gefährlich.
Weshalb?
In einem Land wie der Schweiz geschehen Veränderungen über die Politik. Es werden immer wieder Abstimmungen auf uns zukommen. Es ist von Bedeutung, dass die Stimmen der NGOs dabei gehört werden. Denn die anderen wird man auch hören.
Wird es schwieriger, gehört zu werden? Nachhaltigkeit ist aktuell. Immer mehr Organisationen positionieren sich in diesem Thema.
Mich stört es nicht, wenn viele Akteure dieses Thema bearbeiten. Jede Organisation schafft es, andere Leute anzusprechen. Die Klimabewegung spricht ganz junge Menschen an und bewegt sie dazu, sich zu engagieren und politisch zu denken. Natürlich könnten sie sagen, dass dies potenzielle Spenderinnen und Spender sind, die uns verloren gehen. Aber das ist für mich keine Konkurrenz.
Mehr ein Miteinander?
Nachhaltigkeit ist ein grosses Thema. Da können wir froh sein, dass es Mitstreiterinnen und Mitstreiter gibt, die andere Felder bearbeiten, die einen anderen Zugang zur Politik oder zur Wirtschaft haben. Das ist eine gute Ergänzung. Es braucht das gemeinsame Engagement.
Aber das Thema wurde komplexer. Ist es schwieriger für Sie zu erklären, was Greenpeace einzigartig macht?
Ich sehe dies nicht negativ. Je tiefer wir Menschen in ein komplexes Thema eintauchen, umso mehr realisieren wir, dass wir noch nicht alles wissen. Wissen zu schaffen und zu vermitteln: Das ist die Aufgabe von Greenpeace. Wir müssen Verständlichkeit schaffen. Und dies machen wir auf unsere einzigartige und unabhängige Weise. Denn natürlich sind wir auf Spendengelder angewiesen. Wir können diese Arbeit nur machen, wenn die Menschen uns damit betrauen.
Welche grossen Herausforderungen sehen Sie für Greenpeace?
Nicht nur Greenpeace wird herausgefordert, wir Menschen sitzen doch alle im gleichen Boot. Wir müssen Sorge tragen zu unserer Erde. Wir als Schweizerinnen und Schweizer sind besonders herausgefordert, weil wir die Ressourcen, die Bildung, die Möglichkeiten zu Veränderungen haben. Menschen brauchen ein gutes und gerechtes Leben in seiner ganzen Vielfalt auf der ganzen Welt.