Die Slow-Food-Bewegung, einst als Gegenentwurf zu Fast Food angedacht, erreichte die Schweiz kurz vor der Jahrtausendwende, zu einer Zeit, als Bäuerinnen mit der Direktvermarktung von Hofprodukten begannen, das Lebensmittelhandwerk regionale Spezialitäten in den Detailhandel brachte, innovative Gastronom:innen das kulinarische Erbe der Alpen wiederentdeckten und die Schweizer Genusswoche lanciert wurde. Langsam zeigt sich, dass die Sensibilisierung der Menschen für eine genussvolle Ernährung einen positiven Einfluss auf die Zukunft des Ernährungssystems hat.
Kommunale Ernährungspolitik nimmt Fahrt auf
Das Bewusstsein in der Bevölkerung für eine nachhaltige und gesunde Ernährung ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Immer mehr Menschen legen beim Kauf von Lebensmitteln Wert auf Regionalität, Nachhaltigkeit, Gesundheit und Fairness. Die Versorgung mit gesunden, nachhaltig produzierten Lebensmitteln ist einerseits ein Grundbedürfnis, andererseits aber – anders als bei anderen Grundbedürfnissen wie z. B. dem Wohnen – historisch gesehen keine kommunale Aufgabe und der Steuerung durch übergeordnete Politikebenen und «dem Markt» überlassen. Seit Anfang der 2000er-Jahre beschäftigen sich jedoch immer mehr Städte mit dem gegenwärtigen Ernährungssystem. Und auch die Zivilgesellschaft engagiert sich mit der lokalen Wirtschaft und den Bildungsinstitutionen für eine gezielte Verbesserung unserer Ernährungsgewohnheiten im modernen Alltag.
Charta für kommunale Ernährungspolitik
Kommunale Ernährungspolitik ist seit dem «Milan Urban Food Policy Pact (MUFPP)» von 2015 und der Glasgow-Erklärung «Ernährung und Klima» am 26. UN-Klimagipfel im Jahr 2021 auf der Agenda auch in der Schweiz, wo bereits 85 Prozent der Bevölkerung in Städten und Agglomerationen lebt. Städte und Gemeinden können eine grosse Wirkung erzielen, wenn sie mit gezielten Strategien und Massnahmen ihre Ernährungssysteme nachhaltiger gestalten und in ihren Schulen, Spitälern, Pflegezentren und Personalrestaurants für eine genussvolle und nachhaltige Ernährung sowie für die Erhöhung der Ernährungskompetenz ihrer Bevölkerung besorgt sind.
Das Forschungsprojekt «Städte als Triebkräfte für nachhaltige Ernährungssysteme», ein gemeinsames Projekt des Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Agrar‑, Forst- und Lebensmittelwissenschaften BFH-HAFL untersuchte die Food-Governance-Strategien der Städte Basel, Bern, Biel, Freiburg, Genf, Lausanne, St. Gallen, Winterthur, Zürich und bewertet Wirkung und Bedeutung von laufenden Massnahmen. Der Schweizerische Städteverband SSV ist an dieser Arbeit beteiligt. Er lanciert zudem in wenigen Wochen die «Charta Nachhaltige Ernährung der Schweizer Städte und Gemeinden». Sie definiert die Ziele und Handlungsfelder kommunaler Ernährungspolitik. Eine aktive Rolle bei der Umsetzung soll das Schweizer Netzwerk der Genussstädte mit der Genussakademie der «Fondation pour la Promotion du Goût» übernehmen.
Ernährungsforum als Plattform für kommunale Ernährungspolitik
Auf lokaler Ebene spielen für die Gestaltung und Umsetzung kommunaler Ernährungspolitik geeignete Kooperationen mit Verbänden, Unternehmen, Bildungsinstitutionen und der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. In Basel, Bern und Zürich sind solche Kooperationen als Ernährungsforen organisiert. Ernährungsforen sind ein Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen und unternehmerischen Akteur:innen auf lokaler oder regionaler Ebene, die sich ein gerechtes, zukunftsfähiges und innovatives Ernährungssystem wünschen und sich für eine genussvolle und nachhaltige Ernährung engagieren. Der Aufbau solcher Ernährungsforen sowie die Moderation von Plattformaktivitäten wie Systemreflexion mit dem Ziel, positive Kipp-Punkte für Systemveränderungen zu erkennen und darauf ausgerichtete Aktionen zu entwickeln, erfordern besondere Fähigkeiten, genügend Ressourcen und die Legitimation durch eine Vereinbarung mit der Gemeinde oder dem Kanton. Nirgends in der Schweiz sind diese Voraussetzungen bereits hinreichend erfüllt.
Bedarf für gemeinsame Entwicklungsarbeit
Die bereits bestehenden Ernährungsforen werden daher in den nächsten Jahren ein Austausch- und Bildungsformat entwickeln und ihr Wissen mit allen Interessierten für den Aufbau und Betrieb von Plattformen für kommunale Ernährungspolitik in Städten und Gemeinden teilen. Dafür ist die Kooperation mit dem Schweizerischen Städteverband SSV sowie dem Netzwerk der Genussstädte und der Genussakademie der Fondation pour la Promotion du Goût vorgesehen, wie auch mit den Hochschulen, die sich mit kommunaler Ernährungspolitik in der Schweiz und in anderen Ländern befassen. Der Bedarf für gemeinsame Entwicklungsarbeit in diesem Politik- und Praxisfeld ist gross, wie auch der Bedarf an Förderung durch Stiftungen, die sich als «Change Agents» im Ernährungssystem verstehen.