Gegründet wurde AVINA 1994 von Ihrem Mann Stephan Schmidheiny. Weshalb haben Sie die Stiftung neu ausgerichtet, als Sie vor gut sechs Jahren die Leitung übernommen haben?
Viktoria Schmidheiny: Die Inspiration kam eigentlich direkt aus der Küche. Nach dem Abschluss seiner Kochausbildung in London fing Laurenz an, mit verschiedenen Gerichten herumzuexperimentieren, worauf mein Mann Stephan neugierig wurde und kurz danach mit Freude mitmachte. Schnell erkannten wir das enorme Potenzial und spontan fiel die Entscheidung, die AVINA Stiftung neu auszurichten. Das Thema Ernährung eignet sich in unseren Augen wie kein anderes, da es jeden täglich betrifft und man genussvoll und mit Freude seinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten kann.
Schaut man bei der AVINA Stiftung zurück – auch vor die Zeit der Zweckänderung – fällt auf, dass Sie schon immer Menschen zusammenbringen wollten. Was ist Ihr Gedanke dahinter?
Laurenz Werner: Es gibt viele grandiose Ideen und Projekte, aber deren Erfolg liegt immer an der ausführenden Person. Wir glauben in erster Linie an den Menschen, der inspiriert sein Projekt lebt, nur dann glaube ich, kann es zum Erfolg und zur gewünschten Wirkung führen. Es braucht Menschen mit Strahlkraft, die begeistert ihr Projekt leben und andere begeistern können. Diese gilt es zu finden, zu fördern und zusammenzubringen.
Deswegen liegt unser Fokus darauf, die richtigen Personen zu identifizieren. Dabei gehen wir sehr selektiv vor. Wir setzen in unserer Auswahl auf menschliche Qualitäten und die richtigen Werte.
VS: Genau. Die Projekte nur auf dem Papier zu beurteilen, war für mich keine Option. Ich möchte mit Menschen zusammenarbeiten, sie persönlich treffen und erleben. Das ist für mich wesentlich, um die Werte der Projektpartner zu erfassen.
Welches sind die Werte von AVINA?
VS: Werte wie Freude, Begeisterung, Verbundenheit und Authentizität sowie Originalität, Echtheit und Demut versuchen wir selbst zu leben und in die Stiftungsarbeit zu tragen. Gerade Demut scheint mir wichtig, weil sie in der Verbindung vom Menschen zur Natur eine Rolle spielt.
LW: Insbesondere zur heutigen Zeit mit der Entwicklung und dem Infiltrieren von künstlicher Intelligenz in unser Leben muss umso mehr der Fokus auf den Menschen und das, was ihn ausmacht, gelegt werden. Ich glaube, wir sind an einem enorm wichtigen Punkt, an dem wir bewusst genau dies stärken sollten.
VS: Es ist entscheidend, dass wir das Zwischenmenschliche mehr sehen und fördern. Mir ist wichtig, dass wir aufhören, alles so isoliert zu betrachten, sondern anfangen, Zusammenhänge zwischen der Ernährung und der Natur zu verstehen. Was für den Planeten gesund ist, ist eigentlich immer auch gesund für uns.
Sie verstehen sich als Plattform für innovative Köpfe und zukunftsweisende Ideen. Ist Ihr Ansatz kollaborativ?
LW: Ja, das ist er. Wir versuchen immer, Interdisziplinarität zu fördern und den Austausch zwischen unseren Projektpartnern zu beleben. Wir organisieren zum Beispiel Retreats, in denen wir mit unseren Projektpartnern zusammenkommen und disziplinübergreifend das Verständnis vergrössern, um einerseits Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und andererseits auf neue Themenbereiche zu kommen.
VS: Wir erleben unsere Partner so auf eine andere Art und Weise und lernen die Menschen hinter einem Projekt kennen. Das letzte Mal haben wir Pilze in Baumstämme geimpft, was Fantasie und Spieltrieb bei allen Teilnehmenden geweckt hat – das Ganze soll ja auch Freude bereiten. Es braucht Vernetzung, Dialog und Interaktion. Wir leben das.
Wie funktionieren Ihre Netzwerke?
LW: Sie entstehen und entwickeln sich vielleicht etwas langsamer, weil uns die Qualität und das Vertrauen zu den Projektpartnern sehr wichtig ist. Wir legen grossen Wert auf einen regelmässigen Austausch. Durch diese engere Beziehung weiss man voneinander deutlich mehr, was einem das Zuspielen von Kontakten vereinfacht und dies auch vertraulicher macht.
VS: Ausserdem sind wir bis heute die einzige Stiftung mit einer holistischen Betrachtung für nachhaltige Ernährung in der Schweiz und würden uns wirklich freuen, wenn sich noch mehr Stiftungen für dieses Thema engagieren würden. Es ist so faszinierend und es gibt noch so viel zu tun!
«Wir versuchen immer, Interdisziplinarität zu fördern und den Austausch zwischen den Projektpartnern zu beleben.»
Laurenz Werner
Wie weit verfolgen Sie neue Formen der Ernährung? Gibt es rote Linien, bspw. Gentechnologie?
LW: Wir sind in einem konstanten Prozess des Lernens und können demnach nur den heutigen Stand unseres Lernerfolges wiedergeben. Zu Beginn sahen wir noch die grosse Hoffnung in neuen Technologien von Fleischersatzprodukten, Lab Grown Meat und Precision Fermentation … Ich glaube immer noch, dass diese Dinge in Zukunft eine Rolle spielen werden, nur meine Vermutung ist, dass es sich um eine Symptombekämpfung handeln könnte, die zu anderen Problemen und unvorhergesehenen Konsequenzen führen könnte. Wir wollen Projekte fördern, durch die wir uns wieder mehr als Teil unserer Erde fühlen können. Wenn wir uns selbst als Natur erkennen, können wir eher Entscheidungen treffen, die dieser zuträglich sind. Sehen wir uns jedoch als abgesonderten, «erhabenen» Teil, werden wir sie nie wirklich verstehen, sondern wir werden versuchen, sie zu dominieren und auszubeuten.
Aktuell berichten die Medien, dass viele in der Coronazeit entstandenen Projekte im Bereich der solidarischen Landwirtschaft ins Straucheln geraten sind. Können Sie sich vorstellen, weshalb sich die Menschen nicht auf ein solches Experiment einlassen?
LW: Das ist eine knifflige und komplexe Frage. Generell sind viele Vorhaben und Erkenntnisse, die während der Coronazeit entstanden sind, einfach wieder verpufft. Wir hatten die Möglichkeiten, ein «neues» Normal zu kreieren, und doch gewann die Trägheit des Systems wieder die Oberhand. Während der Pandemie haben viele die Verlangsamung genossen. Die Menschen haben wieder Freude am Selberkochen und ‑backen gefunden, ihre Kreativität wurde gefordert und dadurch entstanden neue Initiativen. Zusätzlich durften wir lernen, wie wichtig zwischenmenschliche Beziehungen und Nähe sind, doch es scheint all dies grossteils wieder verpufft zu sein – Ich habe mich auch gefragt, weshalb das so ist.
VS: Ich glaube, wir wurden wieder abgelenkt und sind so wieder zurück in alte Gewohnheiten gefallen. Wo dieser Moment der Pause, des kurzen Stehenbleibens und Innehaltens doch so befreiend war – es war entschleunigend.
Viktoria Schmidheiny ist doppelte Fachärztin. Sie hat an der Universitätsklinik Wien studiert und eine Praxis für orale Chirurgie geführt. Sie ist Präsidentin des AVINA Stiftungsrats. Ihr Sohn Laurenz Werner ist Ernährungscoach, Personal Trainer, Koch und Pâtissier. Im Stiftungsrat ist er für die Themen Forschung und Entwicklung zuständig. AVINA ist eine unabhängige Schweizer Förderstiftung, die sich darauf konzentriert, den Menschen und die Erde auf eine zirkuläre und ausgewogene Weise zu ernähren.
avinastiftung.ch
LW: Genau, aber wie konnten wir so wenig von diesen bereichernden Erkenntnissen weiterführen?
VS: Ich glaube, es hat sich die Normalität wieder eingeschlichen, weil es uns an einer Vision mangelt. Aktuell leben wir in einer extremen Komfortsituation. Wir können zu jeder Zeit, überall, auf Knopfdruck alles bestellen, und schlimmer noch, es wird uns eingeredet, wir hätten nicht genug. Aus diesem Status quo ist jegliche äussere Veränderung mit Verzicht verbunden, also braucht es eine höhere Vision, für die wir bereit sind, zu verzichten. In all der Informationsüberflutung brauchen wir einen Filter, damit wir die Richtung erkennen.
Gilt das auch für die Ernährung?
LW: Ja, natürlich. Und diese Vision gilt es mit der richtigen Intention gemeinsam zu entwickeln. Es braucht eine kritische Menge bewusster Menschen, die dieses Thema vorantreiben und dabei andere inspirieren, um einen Richtungswandel zu stimulieren. Ich glaube, jeder kann bei sich selbst anfangen und als Beispiel für andere leben. Je mehr das verstehen, desto schneller wird es gehen.
VS: Der Mensch nimmt stets, was er gewohnt ist. Er hat Angst vor Veränderung. Aber Leben ist Veränderung. Alles ist im Fluss und miteinander verwoben. Auch unser Schwerpunkt ist in Veränderung und bewegt sich weiter. Zu Beginn war unser Thema Protein Transition, was damals sehr faszinierend war. Jedoch lernten wir in unserem Prozess eine holistischere Betrachtungsweise kennen. Heute sind wir auf einem Weg, auf dem wir beginnen, besser zu verstehen, wie sehr alles miteinander verbunden ist und wie stark zum Beispiel die Gesundheit des Bodens mit der unseren zusammenhängt.
LW: Ich glaube zwar noch immer, dass pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte eine Rolle spielen werden. Allerdings sehe ich sie heute eher als eine Art Symptombekämpfung. Wir verpassen den Bewusstseinswandel, wenn wir nur auf diese Produkte setzen. Eine Haltungsänderung erreichen wir über eine regenerative Landwirtschaft.
Viele Menschen haben den Bezug zur Natur verloren. Sie können sich die Produktions- und Lieferkette eines Rüeblis nur schwer vorstellen? Wie können wir dieser Entkoppelung entgegenwirken?
LW: Philipp Blom, Schriftsteller und Historiker, dem wir kürzlich begegnet sind, beschreibt in seinem Buch «Die Unterwerfung» die Geschichte der menschlichen Herrschaft über die Natur. Nur wenn wir die Erde als Einheit betrachten und wir uns als Teil davon sehen, können wir Entscheide für das Ganze treffen. Ansonsten werden wir die Natur immer auf die eine oder andere Weise ausbeuten. Ausserdem glaube ich, dass wir durch einige unserer Projekte solche Dinge wieder erlebbar machen. Benedikt Bösel ist ein gutes Beispiel, das die Auswirkungen zeigt, wenn der Mensch versucht, wieder im Einklang mit der Natur zu wirtschaften. Es wird spürbar und erlebbar gemacht und ich glaube, das ist der stärkste Hebel. Es geht darum, die Neugierde der Menschen zu wecken und sie für dieses Thema zu faszinieren.
Werden wir dem Klimawandel mit Innovation erfolgreich begegnen?
VS: Hier gibt es eine Analogie zur Medizin: Die Diagnose hinkt dem gegenwärtigen Prozess nach. Wir sind demnach immer etwas zu spät. Natürlich müssen wir auch Symptome bekämpfen. Aber wir verpassen aktuell das Wesentliche.
LW: Wenn wir Innovation nicht als Entwicklung neuer Produkte und Technologien verstehen, sondern als Gesinnungswandel, der uns zu einer neuen Haltung führt, wird sie uns hilfreich sein. Sollte also der Klimawandel zu einem Bewusstseinswandel führen, dann haben wir gewonnen.
Weshalb engagieren Sie sich als Ärztin im Thema Ernährung? Welche Bedeutung hat das Thema Gesundheit bei Ihren Projekten?
VS: Ich habe früh erkannt, wie wichtig die richtige Ernährung für unsere Gesundheit ist, und bin heute noch fassungslos, wie wenig Aufmerksamkeit diesem Thema in der Medizin geschenkt wird. Die Forschung des menschlichen Mikrobioms zum Beispiel ist erst am Beginn und enthüllt mehr und mehr die Zusammenhänge zwischen Nahrung und etlichen Vorgängen in unserem Körper. Und denkt man in diesem Ansatz weiter, wie das Bodenmikrobiom für das Immunsystem der Pflanze verantwortlich ist und die hier produzierten Stoffe wiederum unserem Immunsystem dienlich sind, ist klar, dass alles miteinander in dynamischen Verbindungen steht. Ist das nicht unfassbar faszinierend und macht Freude auf mehr?
Wurde das Thema auch von der öffentlichen Hand erkannt?
VS: Mir scheint, das Thema kommt langsam in der Öffentlichkeit an, und es ist zweifellos wichtig, dass auch staatliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Idealerweise ist es auch hier ein Miteinander: Die Philanthropie, die sich durch ihre bewegliche und rasche Entscheidungsfindung auszeichnet, übernimmt die Speerspitze und erspart der öffentlichen Hand mögliche Umwege, bevor es in die Umsetzung und Skalierung kommt.
LW: Wir können uns mit AVINA engagieren, um Neugierde in diesen Themen zu wecken und dadurch Bewusstsein zu stimulieren. Anstatt noch mehr Zeit zu verlieren und unseren Untergang weiter zu erforschen, sollten wir unsere Energie lieber in die praktische Anwendung fliessen lassen und endlich etwas bewegen.