Edvard Munch (1863–1944). Norwegischer Maler des Expressionismus. Das Bild heisst «Verzweiflung» und drückt eine Angstattacke Munchs aus.

Stärke finden, Krise gemein­sam bewältigen

Wie persönliche Resilienz gestärkt und das Tabu um psychische Gesundheit durchbrochen werden kann.

Ein Flug­zeug­ab­sturz, ein Tunnel­brand, ein Amok­lauf: Kaum vorstell­bar, was ein solches Ereig­nis und das damit Erlebte mit einem machen. Sie gesche­hen. Unver­hofft und plötz­lich. Sie fordern die betrof­fe­nen Menschen und über­for­dern sie. Für Verant­wort­li­che in invol­vier­ten Unter­neh­men eine riesige Heraus­for­de­rung. Sie müssen im Krisen­mo­ment einer Viel­zahl Mitar­bei­ten­den Unter­stüt­zung anbie­ten und sie müssen selbst mit der Situa­tion umgehen. 

Die Stif­tung Care­link ist auf die Bewäl­ti­gung solcher Ereig­nisse spezia­li­siert. Gross­ereig­nisse gehö­ren zu ihren Aufga­ben. «Die häufigs­ten Einsätze gelten jedoch Situa­tio­nen, die eine klei­nere Gruppe von Menschen betref­fen, beispiels­weise Suizide in Unter­neh­men, Unfälle oder Über­fälle, Bedro­hun­gen, Gewalt­an­wen­dun­gen», sagt Geschäfts­füh­re­rin Caro­lin Wälz. «Solche Gescheh­nisse erschüt­tern die Menschen in der unmit­tel­ba­ren Umgebung.»

Extrem­si­tua­tio­nen

Was in diesen spezi­el­len Situa­tio­nen geschieht und wie ein Mensch reagiert, ist schwer vorher­zu­se­hen. «Unter extre­mem Stress reagie­ren Menschen häufig ganz anders, als sie dies von sich selbst kennen», sagt Caro­lin Wälz. Hilf­lo­sig­keit, Ohnmacht, aber auch Wut und Trauer – die Reak­tio­nen können sehr unter­schied­lich ausfal­len. Care­link bietet Entlas­tung. Sie unter­stützt die Betrof­fe­nen dabei, wieder Struk­tur, Sicher­heit und Ruhe zu finden. Ziel ist es, das Erlebte zu verste­hen und einzu­ord­nen. «Wenn die Betrof­fe­nen dies arti­ku­lie­ren können, wird eine innere Ordnung herge­stellt», sagt sie. Weil Care­link auf diese Ereig­nisse spezia­li­siert ist, kann sie mit ihrer Erfah­rung den Unter­neh­men und den betrof­fe­nen Menschen in der Krisen­si­tua­tion zeigen, wie diese durch­ge­stan­den werden kann. Diese Führung hätte auch in der Extrem­si­tua­tion Pande­mie in den vergan­ge­nen Jahren für die Gesell­schaft als Ganzes hilf­reich sein können. In dieser Zeit wurde lange die psychi­sche Belas­tung für breite Teile der Bevöl­ke­rung vernachlässigt. 

«Die Pande­mie war eine Extrem­si­tua­tion für die Gesell­schaft und stellte für viele Menschen eine Heraus­for­de­rung für die psychi­sche Gesund­heit dar», sagt Stépha­nie Merte­nat Eicher, Geschäfts­lei­te­rin der Fonda­tion O2. Die in der West­schweiz ange­sie­delte Stif­tung ist ein Kompe­tenz­zen­trum für Entwick­lung und Präven­tion, Gesund­heits­för­de­rung und nach­hal­ti­ges Entwick­lungs­pro­jekt­ma­nage­ment, das sich insbe­son­dere mit der psychi­schen Gesund­heit befasst.

Sie fügt an: «Diese Zeit war für alle äusserst kompli­ziert, vor allem aber bei Menschen, die bereits geschwächt sind, hat die psychi­sche Gesund­heit stär­ker gelit­ten.» Während sich ein Unter­neh­men auf Krisen­si­tua­tio­nen vorbe­rei­ten und die Resi­li­enz stär­ken kann, indem es Notfall­pläne ausar­bei­tet und ein Betreu­ungs­an­ge­bot einplant, muss auch eine Gesell­schaft aus den erleb­ten Ereig­nis­sen die Lehren ziehen. Denn die Pande­mie hat bestehende gesund­heit­li­che und soziale Ungleich­heit verstärkt. «Laut Statis­ti­ken des Gesund­heits­ob­ser­va­to­ri­ums (OBSAN) waren Jugend­li­che, die sich bereits in einer Über­gangs­phase befan­den, die komplex sein konnte, von der Pande­mie stark betrof­fen und müssen sich heute neu aufbauen und vor allem einen Sinn finden», sagt Stépha­nie Merte­nat Eicher.

«Der Schrei» von Edvard Munch. Der Expres­sio­nist drückte in seiner Kunst viel von seiner eige­nen inne­ren Zerris­sen­heit aus.

Viele Betrof­fene

«Nach Anga­ben dersel­ben Beob­ach­tungs­stelle leidet jeder zweite Mensch mindes­tens einmal in seinem Leben an psychi­schen Proble­men (einma­lig oder lang­fris­tig) und rund 18 Prozent der Bevöl­ke­rung leiden an einer oder mehre­ren psychi­schen Störun­gen», sagt Stépha­nie Merte­nat Eicher. «Grund genug, darüber zu spre­chen, weil es uns alle angeht, und zu handeln, um diesen Proble­men und Sorgen vorzu­beu­gen.» Auch die Schwei­ze­ri­sche Gesund­heits­be­fra­gung 2022 zeigt die Belas­tung der jungen Menschen, insbe­son­dere der Frauen. Bei den 15- bis 24-Jähri­gen sind 22 Prozent psychisch mittel oder stark belas­tet. Bei den jungen Frauen sind es 29 Prozent. 18 Prozent der Frauen in diesem Alter litten im vergan­ge­nen Jahr unter Angstzuständen.

Spra­che als Heilmittel

«Wage es, darüber zu reden» ist ein Slogan, der dazu ermu­tigt, sich frei zu äussern. Er kommt häufig in Kampa­gnen zur Förde­rung der psychi­schen Gesund­heit vor. Stépha­nie Merte­nat Eicher sieht derzeit eine posi­tive Entwick­lung bei jungen Menschen, die Hilfs­an­ge­bote wie ciao.ch nutzen. Doch bis das Tabu im Bereich der psychi­schen Gesund­heit fällt, sei es noch ein weiter Weg. Die Akzep­tanz von Proble­men stärkt  ihrer Meinung nach die Wider­stands­fä­hig­keit einer Gesell­schaft. Es ist jedoch wich­tig, das Bewusst­sein für psychi­sche Gesund­heits­pro­bleme weiter zu schär­fen und die Stig­ma­ti­sie­rung zu bekämp­fen. Tatsäch­lich trägt das offene Spre­chen über psychi­sche Gesund­heit durch den Austausch persön­li­cher Erfah­run­gen und die Sensi­bi­li­sie­rung dazu bei, Stig­ma­ti­sie­rung abzu­bauen und ein gesund­heits­freund­li­che­res Umfeld zu schaffen. 

Auf die Bedeu­tung einer öffent­li­chen Diskus­sion des Themas weist auch Muriel Langen­ber­ger, Geschäfts­füh­re­rin von Pro Mente Sana, hin. Der Mensch sei als sozia­les Wesen auf regel­mäs­sige Begeg­nun­gen ange­wie­sen. «Während der Pande­mie waren Begeg­nun­gen lange Zeit einge­schränkt, was für viele eine grosse Heraus­for­de­rung darstellte.» Unsi­cher­heit und Fremd­be­stim­mung hätten die psychi­sche Gesund­heit erheb­lich belastet. 

Eigene Resi­li­enz fördern

Die Pande­mie­si­tua­tion hat Probleme offen­bart, die unab­hän­gig davon bestehen. Denn die psychi­sche Gesund­heit ist auch von Selbst­wirk­sam­keit und Kontroll­über­zeu­gung abhän­gig. Die eigene Resi­li­enz hängt damit zum einen von der eige­nen Fähig­keit und dem Vertrauen, eine schwie­rige Situa­tion zu meis­tern, ab. Zum ande­ren ist es auch das Wissen, in Krisen­si­tua­tio­nen ein sozia­les Netz aus Freun­den und Fami­lien zu haben, die einen auffan­gen. Nicht alle verfü­gen über ein solches Netz. Und die Pande­mie hat diese Situa­tion verschärft. «Deshalb ist es wich­tig, dass Menschen in der Krise zusätz­li­che Unter­stüt­zung erhal­ten, zum Beispiel in Form von Bera­tung und Beglei­tung», sagt Muriel Langen­ber­ger. Es gibt verschie­dene Möglich­kei­ten, aktiv etwas für das eigene Wohl­be­fin­den zu tun und damit die eigene Resi­li­enz zu fördern. «Regel­mäs­sige Bewe­gung, ausge­wo­gene Ernäh­rung, das Entde­cken von Neuem und ausrei­chend Schlaf tragen dazu bei, genauso wie das Pfle­gen sozia­ler Kontakte», führt sie aus. Die eigene psychi­sche Gesund­heit zu stär­ken, hilft, belas­tende Lebens­um­stände besser zu bewäl­ti­gen. Nichts­des­to­trotz kann es sein, dass die Balance zwischen Ressour­cen und Belas­tung aus dem Gleich­ge­wicht gerät: Eine psychi­sche Erkran­kung kann jede und jeden treffen.

Gemein­same Bewältigung

Die Geschäfts­lei­te­rin der Fonda­tion O2, Stépha­nie Merte­nat Eicher, weist auf einen weite­ren Punkt hin: Unsere mentale Gesund­heit entwi­ckelt sich stän­dig weiter. «Wir können von einem Konti­nuum spre­chen, da der Mensch je nach gesell­schaft­li­chem Kontext und entspre­chend seiner persön­li­chen Veran­la­gung unter­schied­li­che Zustände erlebt. Jeder kann sich neue Fähig­kei­ten aneig­nen, um schwie­rige Phasen zu bewäl­ti­gen.
Das muss aber erlernt werden. Man muss gut unter­stützt und bera­ten werden, um die rich­ti­gen Schlüs­sel zu finden.»

Das gilt auch für die Mitar­bei­ten­den in Unter­neh­men. Sie können gemäss Caro­lin Wälz dazu beitra­gen, die Resi­li­enz der Unter­neh­men zu stär­ken, indem es gelingt, Empower­ment, Diver­sity oder Kolla­bo­ra­tion zu etablie­ren. «Zentral ist, dass es Unter­neh­men gelingt, die Ressour­cen bei ihren Mitar­bei­ten­den zu akti­vie­ren, welche als entlas­ten­des Gegen­ge­wicht zur belas­ten­den Ausnah­me­si­tua­tion bei der Ereig­nis­be­wäl­ti­gung unter­stüt­zen», sagt sie. Aber jede Situa­tion zeige, dass verschie­dene Akteure Verant­wor­tung über­neh­men müssen und dass die Bewäl­ti­gung einer Krise nicht eine Einzel­leis­tung sei, betont sie weiter. Kanto­nale Care­teams oder die Blau­licht­or­ga­ni­sa­tio­nen seien genauso einge­bun­den. Dieser Ansatz gilt aber nicht nur für die Krise. Auch im Aufbau der Resi­li­enz gilt es, die verschie­de­nen Aspekte zu berück­sich­ti­gen. «Die Stär­kung der psychi­schen Gesund­heit ist eine gemein­same Verant­wor­tung, die sowohl den Einzel­nen als auch die Gesell­schaft als Ganzes einbe­zieht. Wir können nicht allein handeln», so Stépha­nie Merte­nat Eicher. Bereits in der Kind­heit können Fähig­kei­ten erlernt werden, die später helfen, Probleme, bspw. Stress, zu bewältigen.

Edvard Munch mit seinen sehr persön­li­chen Bildern. Er nannte sie auch seine Kinder.

Sicht­bar machen

Auch wenn sich jede und jeder Einzelne um seine eigene psychi­sche Gesund­heit kümmern muss, ist Unter­stüt­zung von aussen manch­mal uner­läss­lich. Denn psycho­so­ziale Fach­kräfte bieten eine objek­tive und neutrale Sicht­weise auf psychi­sche Gesund­heits­pro­bleme, die komplex sein können. «Es ist daher von entschei­den­der Bedeu­tung, zu erken­nen, dass die Pflege der eige­nen psychi­schen Gesund­heit nicht unbe­dingt bedeu­tet, dass man sich seinen Proble­men allein stel­len muss. Perso­nen können Hilfe und Unter­stüt­zung von verschie­de­nen psycho­so­zia­len Fach­kräf­ten erhal­ten, um ihr psychi­sches Wohl­be­fin­den zu verbes­sern. Die Bevöl­ke­rung über die bestehen­den Möglich­kei­ten zu infor­mie­ren, ist die Aufgabe von Orga­ni­sa­tio­nen wie der unsri­gen», betont Stépha­nie Merte­nat Eicher. Dem pflich­tet Muriel Langen­ber­ger bei. Und sie erkennt, dass die Bereit­schaft, über die psychi­sche Gesund­heit zu spre­chen, gestie­gen sei. Seit Corona würden auch die Medien häufi­ger über das Thema berich­ten. Doch sie fügt an: «Was nicht bedeu­tet, dass psychi­sche Erkran­kun­gen kein Tabu mehr sind. Betrof­fene können nach wie vor Stig­ma­ti­sie­rung und Diskri­mi­nie­rung erfah­ren. Deshalb ist es wich­tig, über psychi­sche Gesund­heit und die verschie­de­nen Erkran­kun­gen zu infor­mie­ren. Je mehr Wissen da ist, desto besser können Vorur­teile abge­baut werden.» 

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