Gemma Bull setzt sich für eine moderne Fördertätigkeit ein, die auf den fünf Werten Demut, Chancengerechtigkeit, Evidenz, Dienstbereitschaft und Sorgfalt basiert.
Diversität sei eine Frage der Chancengerechtigkeit, sagt sie. Nur wenn sie intrinsisch motiviert sei, könne sie etwas bewegen.
Sie sprechen im Buch «Modern Grantmaking» ausführlich von Privilegien und Macht – was läuft schief in der Philanthropie?
Fest steht: Privilegien und Macht sind grosse Herausforderungen für die Philanthropie. Die meisten Förderer und Förderinnen, denen wir bei unserer Recherche für das Buch begegneten, stammen aus der Mittelklasse, besitzen einen Uniabschluss und besetzen soziale Machtpositionen: Sie sind privilegiert. Diese Privilegien können in starkem Kontrast stehen
zu jenen, die Fördermittel empfangen. Diese gehören eher benachteiligten Gruppen an.
Was ist die Folge?
Die beiden Gruppen – Förder:innen und Empfänger:innen – weisen unterschiedliche Hintergründe auf. Die Menschen in den Förderorganisationen, speziell Stiftungsrät:innen, haben möglicherweise nur wenig Erfahrung damit, was es bedeutet, wenn beispielsweise ein Jugendclub schliesst. Sie haben kaum je Armut oder gar Rassismus erlebt. Woher sollen die Entscheidungsträger:innen wissen, wie eine zugängliche und nützliche Förderung aussieht, wenn sie die Probleme, die mit der Förderung angegangen werden sollen, nicht selbst erlebt haben?
Privilegiert zu sein, ist aber kein Verbrechen. Wir können nichts dafür, hier geboren worden zu sein. Wichtig ist, dass die Fördernden realisieren und akzeptieren, dass sie Macht und Privilegien besitzen, denn das führt zu Förderentscheiden, die besser und wirkungsvoller sind.
Man hört den Ruf nach mehr Diversität in der Stiftungswelt – löst sie das Problem?
Ich habe Förderorganisationen gesehen, die sich genau überlegen, wer ist im Stiftungsrat vertreten und wer nicht, wem verteilen wir Fördermittel. Sie achten auch bei den Mitarbeitenden auf Diversität. Die besten Organisationen verstehen aber, dass Diversität in ihrer Kultur verankert sein muss und dass es ihre Kultur ist, die sich verändern muss. Diversität sollte intrinsisch motiviert und mit dem Wunsch nach mehr Chancengerechtigkeit und Inklusion verbunden sein. Sie sollten die Arbeitspraxis und die Organisation inklusiv gestalten.
Treffen inklusive Stiftungsräte bessere Entscheide?
Ein Stiftungsrat sollte repräsentieren, was die Stiftung erreichen will. Es spielt eine Rolle, in welchen Regionen sie aktiv ist und welche Themen sie bearbeitet. Sinnvoll ist, Menschen mit konkreten Erfahrungen in diesem Feld zu involvieren. Organisationen mit einem diversen Gremium beurteilen ihre Entscheide jedenfalls als fundierter, gemessen an ihrer Strategie und Mission.
Wie divers sind Stiftungsräte in Grossbritannien?
Anleitung zur einer wertebasierten Vergabe. Modern Grantmaking von Gemma Bull und Tom Steinberg.
Sie sind meist nicht repräsentativ für die Gesellschaft in Grossbritannien. Sie setzen sich vornehmlich aus weissen Männern zusammen, die älter als 50 Jahre alt sind. Denn es ist auch eine Frage, wer es sich leisten kann, sich unbezahlt zu engagieren.
Welche Rolle spielen das Management und die Mitarbeitenden bei der Diversität?
Die ganze Organisation muss mitgedacht werden: Wer sitzt im Stiftungsrat? Welche Menschen sollen für die Organisation arbeiten? Wie muss eine Stellenausschreibung aussehen? Es gibt verschiedene Bewegungen in Grossbritannien, die einen Austausch unter Förderstiftungen ermöglichen. Die «Initiative 2027» etwa will junge Menschen aus der Arbeiterklasse dazu motivieren, sich in Förderorganisationen zu engagieren.
Bis sich etwas ändert, kann es aber ganz schön dauern …
Wenn wir überzeugt sind, dass die Fördertätigkeit aktueller, zugänglicher und gerechter werden soll, dann müssen sich alle überlegen, was sie dazu beitragen können. Wer für eine Organisation arbeitet, die bereits sehr divers aufgestellt ist und viel Erfahrung in der Praxis gesammelt hat, der sollte diese Erfahrungen teilen, andere inspirieren und motivieren und ihnen sagen: Sie können das auch.
Was hat Sie dazu veranlasst, für diese
Botschaft ein Buch zusammen mit Tom Steinberg zu schreiben?
Tom und ich bringen viel Erfahrung im NPO-Bereich mit – sowohl
im Aufbau wie in der Leitung, in Grossbritannien und international. Geschrieben haben wir das Buch erstens, weil sich ein Grossteil der bestehenden Literatur über Philanthropie und Fördermittelvergabe an Millionär:innen, Milliardär:innen und Entscheidungsträger:innen gewichtiger Förderorganisationen richtet. Damit ist aber die grosse Mehrheit gar nicht angesprochen, die jeden Tag in unterschiedlichsten Organisationen in der Vergabe von Fördermitteln tätig ist.
Und zweitens?
Wir wollten den Menschen im Sektor helfen, nicht nur die eigenen Fähig-keiten zu verbessern, sondern die Fördertätigkeit insgesamt zu reformieren.
Weshalb muss sie sich ändern?
Als wir mit unserer Recherche starteten, zeigte sich, dass wir ein ganzes Buch nur über die Probleme der traditionellen Fördermittelvergabe schreiben könnten. Wir hörten Klagen von arrogantem Umgang, Diskriminierung, fehlender Empathie für die Gesuchsteller:innen oder von Missachtung der Evidenzen. Tom und ich wollten aber einen lösungsorientierten Ansatz. Wir wollten vor allem Informationen teilen, Impulse geben und generell Hilfestellungen für die praktische Arbeit liefern. Das Buch soll einen Beitrag leisten, die Fördertätigkeit gerechter, zugänglicher und nützlicher zu gestalten.
Ist ein Buch die richtige Form?
Wir hatten tatsächlich viele Diskussionen über die richtige Form. Wir haben uns schliesslich für ein Handbuch entschieden, das auf dem Schreibtisch liegen kann oder das Sie auf Ihren E‑Reader laden, in dem Sie einzelne hilfreiche Tipps finden, ohne das ganze Buch lesen zu müssen. «Modern Grantmaking» ist für den Alltag gemacht.
Ihr Buch trägt den Titel «Modern Grantmaking» – ein vollkommen neuer Ansatz?
Nein, wir erfinden in diesem Buch nichts vollkommen neu. Wir geben Praktiken, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben, eine Bühne. Die Definition von Modern Grantmaking bezieht sich aber nicht auf eine einzelne Anwendung in der Praxis. Wichtig ist uns: Die Vergabe von Fördermitteln soll auf einer Handvoll Werten basieren: beispielsweise auf der Chancengerechtigkeit.
«Es sollten mehr Förder-organisationen über partizipative Ansätze nachdenken.»
Gemma Bull
Zusätzlich nennen Sie die Werte Demut, Evidenz, Dienstbereitschaft und Sorgfalt: Sind das zeitlose Normen?
Es stimmt, dass in Grossbritannien zunehmend Förder:innen über diese Werte diskutieren und zum Beispiel überlegen, wie sich die Chancengerechtigkeit stärken lässt. Insgesamt sollten die fünf Werte aber als zeitlos verstanden werden.
Verbessert Modern Grantmaking das traditionelle Fördersystem oder handelt es sich um eine grundsätzlich neue Förderform?
Wenn sich Förder:innen und Organisationen diesen Werten verpflichten und diese in die Praxis übertragen, können sie im Alltag Wirkung erzielen. Die Förderung wird zugänglicher und gerechter, speziell für Menschen und Gemeinschaften, die in der Vergangenheit bei der Vergabe der Mittel benachteiligt waren. Die Fördertätigkeit wird nützlicher – das haben uns auch viele Verantwortlichen in Förderorganisationen gesagt, als wir für unser Buch recherchiert haben.
Und damit gelingt der Wandel Schritt für Schritt oder braucht es ein disruptives Element?
Ein gewisses Mass an Disruption braucht es. In der traditionellen
Fördertätigkeit fehlt es an Anreizen für Veränderung. Ohne externe Anregung, sich zu verbessern und zu verändern, geschieht kaum etwas oder wenn, dann nur sehr langsam. Es braucht Initiativen wie die «Grant Givers’ Movement» in Grossbritannien, die den unabhängigen Austausch über Philanthropie und Ethik fördert. Sie bringt neue Perspektiven. Wenn also disruptive Elemente helfen,
die Förder:innen aufzurütteln, um Veränderungen zu beschleunigen,
so sehe ich das positiv.
Kann sich ein Stiftungsrat ohne Input von aussen selbst in Richtung Modern Grantmaking reformieren?
Ich bin ein grosser Fan von Förderorganisationen, die sich selbst öffnen, um die Erfahrungen anderer Förder:innen, Gesuchstellenden, Zuschussempfänger oder Partner besser zu verstehen. Wir alle sind immer in Mustern und Verhaltensweisen gefangen. Deswegen ist es schwierig, selbst objektiv zu sein. Externes Feedback und externe Daten sind unglaublich wichtig, weil sie helfen, die eigenen Annahmen zu hinterfragen. Stiftungsrät:innen sollten sich also fragen, wie sie qualitativ hochwertige, anonyme Feedbacks von den Organisationen erhalten, mit denen sie zusammenarbeiten.
Kann eine Einzelperson versuchen, Privilegien und Macht auszugleichen, oder ist das Aufgabe eines ganzen Gremiums?
Jede einzelne Förderperson sollte über die eigenen Privilegien und ihre Macht nachdenken und überlegen, wie sich dies auf die eigene Arbeit auswirken kann. Erstens sollten Förder:innen das Machtungleichgewicht zwischen ihnen und Antragsteller:in oder Fördermittelempfänger:in offen anerkennen. Zweitens sollten Förder:innen nicht versuchen, den Antragstellenden ohne triftigen Grund vorzuschreiben, was sie zu tun haben.
Das heisst?
Förder:innen müssen ihre Worte bewusst wählen. Sie müssen sicherstellen, dass sie mit der Macht ihrer Aussagen einen Projektträger nicht dazu bewegen, die eigenen Projekte anzupassen. Ein unbedachtes Wort im Sinn «Denken Sie nicht, Sie sollten das noch?» kann einen Projektträger aus der Spur bringen.
Wie kann das eine Förderin oder ein Förderer verhindern?
Mit dem ersten Wert: Demut. Ich muss mich fragen, wie es ist, in den Schuhen der Gesuchsteller:innen zu stecken. Das Mitglied einer Förderorganisation sollte nicht annehmen, dass es mehr weiss als ein:e Projektträger:in. Diese haben aus gutem Grund ihre eigenen Strategien. Natürlich können Förder:innen diese mit konstruktiven Fragen herausfordern. Diese müssen aber sehr sorgsam gewählt sein.
«Wenn wir überzeugt sind, dass die Fördertätigkeit aktuell, zugänglicher und gerechter werden soll, dann müssen sich alle überlegen, was sie dazu beitragen können.»
Gemma Bull
Auch der Gesuchsprozess zeigt das Machtgefälle. Wie liesse sich dieser vereinfachen?
Schlechte Erfahrungen bei den Gesuchstellenden sind keine Ausnahme. Wir haben Feedback erhalten, wie: «Das Gesuchsformular auszufüllen ist schlimmer als sterben.» Wir schlagen vor, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Förderorganisationen sollten den Gesuchsprozess als Service verstehen. Sie sollten sich überlegen, wie es als User in diesem Prozess, ist und die User Experience beachten. Ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess soll die Feedbacks der User aufnehmen. Das Gegenteil davon ist, den Gesuchsprozess aufzusetzen und die folgenden fünf Jahre nicht mehr zu hinterfragen.
Wie geht eine Förderorganisation als Ganzes mit dem Thema Macht um?
Es sollten mehr Förderorganisationen über partizipative Ansätze nachdenken. Eine Gemeinschaft von Menschen kann die besseren Entscheide treffen als ein kleines Gremium, das Entscheide aufgrund limitierter Annahmen trifft. Partizipative Fördertätigkeit kann zu langfristigen Veränderungen beitragen.
Eignet sich dieses Modell für alle?
Um in einer Krise schnell zu reagieren, ist es für eine Organisation, die nicht bereits partizipativ aufgestellt ist, kaum der passende Ansatz. Meiner Meinung nach sollte aber jede Förderorganisation diesen Ansatz für sich prüfen. Dabei ist es wichtig, dass sie sich Zeit dafür nimmt, sorgfältig die eigenen Fähigkeiten prüft und von anderen lernt. Wird es nicht gut umgesetzt, laugt es die Menschen aus.
Gibt es Fördertätigkeiten, die sich nicht für einen partizipativen Ansatz eignen?
Es gibt die Ansicht, dass sich Fördertätigkeiten, die viel Expert:innenwissen verlangen, wie beispielsweise in der Medizin, nicht für einen partizipativen Ansatz eignen. Meiner Meinung nach gibt es diesen allgemeinen Ausschluss nicht. Man sollte vorsichtig sein bei der Definition, wer relevantes Wissen hat und wer nicht. Wie ist erlebte Erfahrung im Vergleich zu anderem Wissen zu werten? Auch wenn es Ausnahmen gibt, bin ich sicher, die besten Entscheide basieren auf vorhandenen Evidenzen, einer Mischung aus wissenschaftlich theoretischem Wissen und erlebten Erfahrungen.
Hat der Philanthropiesektor die Kraft, bei diesen Entwicklungen vorauszugehen?
Es gibt immer Menschen, die in der Philanthropie und in der Fördermittelvergabe arbeiten und diese Entwicklungen vorantreiben. Die Förderorganisationen werden zwar zurecht kritisiert, dass sie sich oft langsamer entwickeln als andere Industrien und Berufe. Es gibt aber interessante Bewegungen, die den Sektor voranbringen. Zum Beispiel das «UK Foundation Practice Rating». Jedes Jahr bewertet es 100 zufällig ausgewählte Stiftungen nach Kriterien wie Transparenz, Rechenschaftspflicht oder Diversität. Das Rating berücksichtigt nur öffentlich zugängliche Informationen. Und es zeigt sich, dass gerade zu Diversität und Inklusion sehr wenig Informationen verfügbar sind. Das stellt die Frage, welche Priorität das Thema hat. Ich denke, es gibt noch viel zu tun, damit Chancengerechtigkeit nicht nur ein schönes Wort bleibt, sondern in der Praxis erlebbar wird.