Für mich war es ein Imperativ

Vom Philanthropen zum Botschafter

Scott C. Miller kam im Januar 2022 als US-Botschaf­ter in die Schweiz. Zuvor war er Co-Präsi­dent der Gill Foun­da­tion. Die grösste Stif­tung, die sich für LGBTQ-Anlie­gen in den USA einsetzt, wurde 1994 von seinem Mann und Soft­ware-Unter­neh­mer Tim Gill gegründet.

Muss­ten Sie lange abwä­gen, ob Sie den Posten als US-Botschaf­ter in der Schweiz annehmen?

Scott C. Miller: Am 7. April 2021 erhielt ich einen Anruf von Joe Biden. Ich kenne die Bidens schon lange. Aber es war das erste Mal, seit er Präsi­dent ist, dass ich mit ihm sprach. 

Und war Ihnen der Grund des Anrufs gleich klar?

Ich hatte eine Ahnung, er könnte eine Posi­tion für mich vorge­se­hen haben. Aber ich hätte mir nie eine Aufgabe von dieser Bedeu­tung vorge­stellt. Ich hatte keinen Gedan­ken daran verlo­ren, dass ich als Vertre­ter der US-Regie­rung ins Ausland ziehen könnte. Nach­dem er mir während 30 Minu­ten seine Über­le­gun­gen vorge­stellt hatte, bat ich ihn um 24 Stun­den Bedenk­zeit. Es war eine Fami­li­en­ent­schei­dung. Ich habe meinen Mann ange­ru­fen und ihm von meinem Tele­fo­nat mit Präsi­dent Biden berichtet. 

Wie hat er reagiert?

«Ich hoffe, du hast ja gesagt», war seine erste Antwort … und jetzt bin ich hier. Es ist die bedeu­tendste Stelle, die ich je inne­hatte und wohl je haben werde. Das Aufga­ben­ge­biet eines Botschaf­ters ist extrem breit. Und ich habe ein wunder­ba­res Team.

Scott C. Miller, US-Botschaf­ter in der Schweiz: “Die phil­an­thro­pi­sche Arbeit war die perfekte Vorbereitung.”

Bevor Sie Botschaf­ter wurden, waren Sie zusam­men mit Ihrem Mann Tim Gill Co-Präsi­dänt der Gill Foun­da­tion. Ist es Ihnen schwer gefal­len, diese Aufgabe abzugeben?

Unter der aktu­el­len Admi­nis­tra­tion gilt, wer eine Aufgabe inner­halb der Admi­nis­tra­tion über­nimmt, muss alle exter­nen Mandate abge­ben. Das soll Inter­es­sen­kon­flikte verhin­dern. Aber es war die schwie­rigste Entschei­dung. Tim grün­dete die Stif­tung 1994. Sie ist sein Lebenswerk. 

Wie sties­sen Sie dazu?

Wenn dich dein Lebens­part­ner fragt, ob du Mitglied des Stif­tungs­rats werden willst, ist das eine bedeu­tende Sache. Ich konnte neue Inter­es­sen, Perspek­ti­ven und Arbeits­wei­sen einbrin­gen. Die phil­an­thro­pi­sche Arbeit war die beste Vorbe­rei­tung auf die Aufgabe als Botschaf­ter. Und wahr­schein­lich werde ich nach meiner Zeit als Botschaf­ter wieder in die Stif­tung zurückkehren.

War es heraus­for­dernd, sich in der gröss­ten Stif­tung für LGBTQ-Anlie­gen in den USA zu exponieren?

Ich traf meinen Mann 2002. Tim Gill war ein expo­nier­ter Anfüh­rer der LGBTQ-Bewe­gung. Bereits als er mit seiner Soft­ware­firma star­tete hatte er sich geoutet. Alleine der Fakt, dass ich sein Part­ner, sein Verlob­ter und schliess­lich sein Mann war hat mich expo­niert. Ich hatte nie eine Option, in phil­an­thro­pi­schen oder poli­ti­schen Krei­sen nicht expo­niert zu sein. Aller­dings hatte ich als Kind die Sorge, dass das Coming-Out publik werden könnte mit nega­ti­ven Folgen. Umge­kehrt hätte ich nie Joe Biden getrof­fen, wenn ich nicht Phil­an­throp und Akti­vist gewor­den wäre. Weil der Präsi­dent diese Themen prio­ri­siert, bin ich über­haupt in dieser Position. 

Sie wären nicht Botschaf­ter geworden.

Ich kannte Joe Biden wegen meines LGBTQ-Enga­ge­ment und wegen meiner phil­an­thro­pi­schen und poli­ti­schen Spen­den. Hätte ich nicht mein wahres authen­ti­sches Ich gelebt und wäre ich nicht meiner Leiden­schaft gefolgt, sässe ich jetzt nicht hier. Aber für mich war es ein Impe­ra­tiv, als ich 2014 meine Stelle bei der UBS verlas­sen habe, dass ich mich für diesen Zweck einsetze. Ich wollte wie jeder andere Ameri­ka­ner verhei­ra­tet sein mit dem Menschen, den ich am meis­ten liebe. Dafür zu kämp­fen war es wert.

War der Einsatz für die gleich­ge­schlecht­li­che Ehe der grösste Erfolg der Stiftung?

Wir sind vorsich­tig, die Lorbee­ren für die Stif­tung zu bean­spru­chen. Stif­tun­gen spie­len eine wich­tige Rolle. Sie erzäh­len die Geschich­ten der Menschen. Wenn ich auf die Entwick­lung der Ehe für alle in den USA zurück­bli­cke, waren Stif­tun­gen zu 80 Prozent für die Ände­rung in den Ansich­ten und Herzen verant­wort­lich. Mit 20 Prozent folg­ten Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker. Mit unse­ren phil­an­thro­pi­schen Mitteln wollen wir Botschaf­ten über­mit­teln, Daten erhe­ben und Wissen vermit­teln. Dabei arbei­tet die Gill Foun­da­tion mit ande­ren Bewe­gun­gen zusam­men, die sich für ähnli­che Themen einset­zen wie für die Rechte der Frauen an ihrem Körper. Wir sind uns bewusst, dass wir dabei auf den Schul­tern von Gigan­ten stehen wie der Frau­en­recht­le­rin Gloria Stei­nem oder der ehema­li­gen Rich­te­rin am Obers­ten Gericht der USA Ruth Bader Gins­burg. Diese Menschen haben in ihren Gebie­ten wich­tige Vorar­beit geleistet.

Und die Stif­tun­gen können dies weiterführen?

Sie können den Boden für viele Entwick­lun­gen legen. Dabei gilt es zu beach­ten, dass sich Stif­tun­gen in den USA nicht poli­tisch enga­gie­ren dürfen. Deswe­gen haben wir auch immer eine starke Fire­wall zwischen der juris­ti­schen Einheit der Stif­tung und jener für das poli­ti­sche Engagement. 

Was hat die Gill Foun­da­tion zum Wandel beigetragen?

Als Tim Gill mit der Stif­tung star­tete, gaben nur gerade 20 Prozent der Menschen an, dass sie eine schwule oder lesbi­sche Person kennen. Deswe­gen war es und ist es immer noch wich­tig zu erzäh­len, dass homo­se­xu­elle Menschen im Alltag der Gesell­schaft teil­neh­men, diesel­ben Sorgen teilen und sich für diesel­ben Themen wie Kultur und Bildung enga­gie­ren. Wir wollen sie bei ihrem Coming-out unter­stüt­zen. Die Gill Foun­da­tion ist zwar die grösste Geld­ge­be­rin für LGBTQ-Anlie­gen. Aber alles ist eine Leis­tung des Teams. Es braucht die Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten, welche die harte Arbeit in jeder Stadt, in jeder Gemeinde leis­ten. Es ist ein ganzes Ökosys­tem. Die Phil­an­thro­pin­nen und Phil­an­thro­pen sind das Benzin, die Akti­vis­ten und Akti­vis­tin­nen das Feuer: Alle brau­chen alle.

«Es dauert seine Zeit, bis gesell­schaft­li­che Verän­de­run­gen Fuss fassen und sich Bürger­rechte entwickeln.»

Scott C. Miller

Die Gesell­schaft ist in den vergan­ge­nen 20 Jahren offe­ner gewor­den. Gleich­zei­tig auch stär­ker pola­ri­siert. Hat dies die Arbeit der Stif­tung verändert?

Soziale Verän­de­run­gen und die Entwick­lung der Bürger­rechte brau­chen Zeit. Akzep­tanz wird erreicht und dann folgt wieder ein Rück­schritt. Das hat der Entscheid des Obers­ten Gerichts bezüg­lich der Abtrei­bungs­frage in den USA gezeigt. 

Was bedeu­tet dies für die LGBTQ-Bewegung?

Wir müssen konti­nu­ier­lich für unsere Rechte kämp­fen. Wir müssen mit jeder Gene­ra­tion arbei­ten, um zu verste­hen, dass eine Gesell­schaft, die alle akzep­tiert, besser ist. Alle sollen eine faire Chance erhal­ten. Wir müssen dies als Phil­an­thro­pen und Akti­vis­tin­nen im Kopf behalten. 

Können Sie sich als Botschaf­ter weiter für die LGBTQ-Anlie­gen engagieren?

Natür­lich reprä­sen­tiere ich alle Inter­es­sen der US-Regie­rung. Aber ich denke, es war ein unaus­ge­spro­che­nes Einver­ständ­nis, dass ich diese Platt­form nutze, um die LGBTQ-Commu­nity zu fördern. Ich habe an der Pride in Zürich teil­ge­nom­men und an der ersten Pride in Liechtenstein. 

Welche Schritte braucht es als nächstes?

Am stärks­ten setzt sich in den USA aktu­ell die Wirt­schaft für die Anlie­gen ein. Es stärkt die Moral und die Resi­li­enz, wenn Perso­nen aus verschie­dens­ten Fami­lien und mit den unter­schied­lichs­ten Erfah­run­gen zusam­men­kom­men. Wir agie­ren heute in einem anspruchs­vol­len Arbeits­markt. Kein Unter­neh­men will seinen Pool mit poten­zi­el­len Talen­ten mit diskri­mi­nie­ren­den Mass­nah­men selbst einengen.

Was kann die Schweiz bei der Diver­si­tät von den USA lernen?

Die wenigs­ten sind sich bewusst, dass die Schweiz mit 300 Milli­ar­den Dollar die siebt­grösste Inves­to­rin in den USA ist. Wir haben eine starke Verbin­dung. Unter­neh­men, die in den USA präsent sind, können die Werte von diesen Stand­or­ten einbe­zie­hen und über­neh­men. Ich sehe zwar Verän­de­run­gen. Beispiels­weise hat es heute mehr Frauen in Verwal­tungs­rä­ten als noch vor ein paar Jahren. Aber wir müssen auch akzep­tie­ren, dass ein solcher Wandel nicht über Nacht geschieht. Wir müssen den Menschen Zeit lassen um zu lernen – und es müssen sich Oppor­tu­ni­tä­ten erge­ben. Wir können nicht einfach alle alten weis­sen Männer entlas­sen. So errei­chen wir weder den Verstand noch das Herz. Auf diese Weise ändern wir die Gesell­schaft nicht. Wir müssen Schritt für Schritt gehen.

Hatten Sie schon Kontakt zu Schwei­zer Stiftungen?

Mit eini­gen war ich in Kontakt, um die Struk­tu­ren kennen­zu­ler­nen. Und ich bin aktu­ell im Stif­tungs­rat des Fund for the Afghan People – das einzige externe Mandat, das ich anneh­men durfte. Wir arbei­ten mit der Schwei­zer Regie­rung und der Bank für Inter­na­tio­na­len Zahlungs­aus­gleich (BIZ) zusam­men. Es ist eine Team­ar­beit für die Menschen in Afgha­ni­stan. Die Stif­tung verwal­tet blockierte Gelder der Zentral­bank Afgha­ni­stans mit dem Ziel, dass die Gelder wieder zurück­flies­sen, wenn die Zentral­bank wieder als unab­hän­gig einge­stuft wird. Das Einrich­ten dieser Stif­tung ist auch eine Aner­ken­nung für den Stand­ort. Die Schweiz hat für die Phil­an­thro­pie förder­li­che Rahmenbedingungen. 

Global sind aber gerade Stif­tun­gen wie die Bill und Melinda Gates Foun­da­tion von Bedeu­tung. Sie haben eine Grösse und Macht, die auch zu Kritik führt. Wie können diese Stif­tun­gen ihre Verant­wor­tung gegen­über der Gesell­schaft wahrnehmen?

Ich habe Bill und Melinda Gates immer bewun­dert. Sie haben sehr früh entschie­den, einen gros­sen Teil ihres Vermö­gens in eine Stif­tung abzu­ge­ben. Es gehört ihnen nicht mehr, auch wenn es eine private Stif­tung ist. Und sie haben die Stif­tung stra­te­gisch auf Berei­che wie Gesund­heit und Bildung fokus­siert. Sie nehmen ihre Verant­wor­tung wahr, ohne dass sie eine poli­ti­sche Macht haben.

«Wir müssen mit jeder Gene­ra­tion zusam­men­ar­bei­ten, um zu verste­hen, dass eine Gesell­schaft, die jeden akzep­tiert, eine bessere Gesell­schaft ist.»

Scott C. Miller

Ein Vorbild?

Alle Phil­an­thro­pen soll­ten dies tun. Auch mein Mann hat die Hälfte seines Vermö­gens für das Thema einge­setzt, das ihm am Herzen liegt: die LGBTQ-Bewe­gung. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen einen Teil ihres Vermö­gens abge­ben und sich für ihre Herzens­pro­jekte einset­zen, um die Welt besser zu machen.

So nehmen Stif­tun­gen und Phil­an­thro­pen ihre Rolle wahr?

Sie helfen, das Leben von Menschen zu verbes­sern, die in unse­rer Gesell­schaft margi­na­li­siert werden und die von ihrer Commu­nity oder der Regie­rung unge­nü­gend versorgt sind. Diesen Menschen eine Stimme zu geben und ihnen eine faire Chance auf ein anstän­di­ges Leben zu geben, wird immer eines der wich­tigs­ten Anlie­gen sein, für die sich Stif­tun­gen einset­zen können. Natür­lich über­neh­men sie auch andere Aufga­ben und füllen Lücken, bspw. in der Kultur oder bei der Bewah­rung unse­rer Geschichte. 

Viele Stif­tun­gen welt­weit verfol­gen ähnli­che Ziele. Sehen Sie Verbes­se­rungs­po­ten­zial bei der Zusammenarbeit?

Abso­lut. Immer wenn du von einem Peer lernen und mit diesem teilen kannst, profi­tie­ren alle. Die Gill Stif­tung hat deswe­gen die Outgi­ving Konfe­renz gestartet. 

Was war das Ziel?

Alle LGBTQ-Phil­an­thro­pen und ‑Phil­an­thro­pin­nen soll­ten zusam­men­kom­men und ihre Erfah­run­gen teilen. 

War es schwie­rig, Phil­an­thro­pin­nen, Phil­an­thro­pen und Stif­tun­gen zur Teil­nahme zu bewegen?

Tim veran­stal­tete die Konfe­renz 1996 das erste Mal. Er hatte reali­siert, dass er keine Peer­gruppe hatte. Damals woll­ten sich viele Menschen noch nicht öffent­lich zur LGBTQ-Bewe­gung beken­nen. Viele Spen­den gescha­hen anonym. Es zeigte sich, dass sich die Menschen bewe­gen lassen, wenn man kurz­fris­tig erreich­bare Ziele defi­niert, denen sie zustim­men, einen Gewinn sehen und wenn sie etwas beitra­gen können. 

Hat sich die Konfe­renz gelohnt?

Ein gros­ser Teil der Ergeb­nisse bestand in der Koor­di­na­tion der Anstren­gun­gen unter­ein­an­der. Dies hat schliess­lich zur Einfüh­rung der gleich­ge­schlecht­li­chen Ehe in den USA beigetra­gen. Es gibt auch andere Themen wie den Kampf gegen den Klima­wan­del, bei welchen sich Stif­tun­gen zusam­men­schlies­sen. Aber es braucht mehr Koor­di­na­tion. Das braucht Zeit und Geld. Wir müssen diese Diskus­sio­nen führen, denn das ist unsere Zukunft. Die Probleme unse­rer Welt sind nicht mehr regio­nal isoliert. Als globale Gemein­schaft können wir nicht in diesem Tempo weiter wach­sen, ohne vorher Lösun­gen für die Probleme zu finden. Wenn ich als Botschaf­ter beim Vernet­zen der Stif­tun­gen helfen kann, bin ich gerne bereit. 

Haben Sie ein spezi­el­les Anlie­gen, für das Sie sich in Ihrer Zeit als Botschaf­ter einset­zen wollen?

Die Schweiz und die USA haben eine gute bila­te­rale Bezie­hung und viel erreicht. Was mir am Herzen liegt, ist das Modell der Lehre. In der Schweiz ist das etabliert. Genau das müsste in den USA auch gesche­hen: mit den Jugend­li­chen arbei­ten und sie fördern. Sie über­neh­men Verant­wor­tung und schu­len ihre sozia­len Fähig­kei­ten. Ich denke, spezi­ell Unter­neh­men, die Nieder­las­sun­gen in den USA betrei­ben, könn­ten das Modell in die USA über­füh­ren. Es ist eine Inves­ti­tion in zukünf­tige Arbeits­kräfte. Alle Länder soll­ten sich so engagieren.

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