«Erst kommt das Fressen, dann die Moral.» So heisst es in der Ballade «Wovon lebt
der Mensch?» in der Dreigroschenoper. Ihr Autor, Bertolt Brecht, liebte die Provokation. Er hielt seinem Publikum aber auch gern den Spiegel vor und präsentierte die Realität ungeschminkt. Auch dort, wo keiner sie sehen wollte. Beispielsweise beim Thema Essen. Kaum ein Thema ist alltäglicher, vielschichtiger und grundlegender. Und kaum eines ist relevanter – heute wie zu Brechts Zeiten.
Essen ist nicht selbstverständlich
«Fressen», das ist die notwendige Nahrungsmittelaufnahme bei Tieren, aber auch Ausdruck der dekadenten Steigerung von Essen zur Masslosigkeit, Dekadenz oder Völlerei – der Genuss des Zuviels. In Europa ist die Verfügbarkeit von Essen für fast alle eine Selbstverständlichkeit. Wir fragen uns nicht, ob, sondern was wir wann in welcher Qualität essen – und wenn es schmeckt, darf es auch etwas zu viel sein. Hunger ist für uns ein Problem der anderen. Vor allem der Menschen in weit entfernten Ländern.
Vermeintlich. Denn mit der zunehmenden Inflation ist die Zahl der Menschen, die in unserem Land beim Lebensmittelkauf an den Anschlag ihres Budgets gelangen, gestiegen. Dies geschieht im Verborgenen. So war beispielsweise Soup & Chill in Basel während sechs Jahren in Abbruchliegenschaften oder in Containern zu Hause. Die soziale Institution gibt in den Wintermonaten Brot, Früchte, Tee, Kaffee und Suppe gratis ab. Für die allermeisten von uns gilt eine andere Lebensrealität. Wir kennen nur tiefe und breite Sortimente, mit einer ganzjährigen Verfügbarkeit von eigentlich saisonalen Produkten. Menüs in unterschiedlichen Verarbeitungsstufen – aufwändig verpackt – sind immer verfügbar. Wir kaufen zu viel, und was übrig bleibt, werfen wir weg. Der Problematik dieses Konsumverhaltens sind wir uns meist sogar bewusst.
Ernährungssysteme
Die Produktion von Lebensmitteln wird immer billiger. Damit steigt der Preisdruck auf die Landwirtschaft und die gesamte Wertschöpfungskette. Gleichzeitig ernähren wir uns ungesund und verursachen dadurch Kosten in anderen Bereichen. Man spricht deshalb vom Ernährungssystem: Ein Wandel kann nicht durch isolierte Pilotprojekte eines Teils aus der Wertschöpfungskette ausgelöst werden, sondern nur durch einen systemischen Blick und ein gemeinsames, miteinander abgestimmtes Vorgehen. Verschiedene gemeinnützige Organisationen leisten hier wertvolle Beiträge: Sie pflegen alte Sorten, testen neue Technologien und versuchen in Netzwerken diesen Wandel zu gestalten. Ihre Arbeit zeigt, dass Ernährung in der Philanthropie ein Querschnittsthema ist, das sich in vielen Bereichen verortet: Im Gesundheitsbereich engagiert sich beispielsweise die Stiftung des Vitaminherstellers DMS Sight and Life Foundation gegen Fehlernährung. Die Seedling Foundation, die sich mit ihrer Fördertätigkeit im Klimaschutz engagiert, setzt den Fokus auf das Ernährungssystem. Und im sozialen Bereich sammelt die Stiftung Schweizer Tafel täglich über 25 Tonnen Lebensmittel, verteilt sie an soziale Institutionen und verringert gleichzeitig den Foodwaste.
Sicherheit und Nachhaltigkeit
Essen hat mit vielen aktuellen Themen zu tun. Und es besteht akuter Handlungsbedarf: Ernährungssicherheit braucht eine nachhaltige und regenerative Lebensmittelproduktion. «Unser Ernährungssystem ist nicht nachhaltig. Um unsere Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen zu erhalten, braucht es eine Neuausrichtung über die gesamte Wertschöpfungskette», heisst es im Vorwort zum Leitfaden «Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz». Dass wir uns an die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln gewöhnt haben, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies nicht so sein muss. Wir selbst hätten einen grossen Hebel in der Hand. Das Bundesamt für Umwelt BAFU schreibt, dass die Landwirtschaft im Jahr 2020 für 14,6 Prozent der Treibhausgasemissionen der Schweiz verantwortlich war. Dabei stand die Milch- und Fleischproduktion im Zentrum. Ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen geht auf das Ernährungssystem zurück, schreibt der WWF Deutschland. Dabei zählt die Umweltorganisation auch die Emissionen durch Brandrodungen als indirekte Emissionen dazu. Diese entstehen zwar geografisch weit entfernt, stehen aber, bei einem Selbstversorgungsgrad der Schweiz von nur 50 Prozent, in direkter Verbindung mit dem schweizerischen Lebensmittelsystem. Auch unser Biodiversitäts-Fussabdruck ist durch die Auswirkungen unseres Konsumverhaltens im In- wie im Ausland negativ. Nahrungs- und Futtermittel haben dabei den grössten Einfluss, hält das BAFU fest. Mit anderen Worten: Die Wahl unserer Lebensmittel hat entscheidende Auswirkungen. Und deshalb kommt – mit Verlaub, Bertolt Brecht – zuerst die Moral. Und dann das Essen.