Die SAJV wird in diesem Jahr 90 Jahre alt. Was ist die wichtigste Entwicklung, die in dieser Zeit gelungen ist?
Eine solche lange Zeitspanne erfordert für unsere Daseinsberechtigung wohl mehr als einen Erfolg! Wenn ich etwas auswählen müsste, wäre das der Beitrag der SAJV an die Existenz einer nationalen Jugendpolitik. In den 60er-Jahren baute die SAJV ihre internationalen Kontakte aus. Als Folge wurde sichtbar, wie rückständig die Schweiz in der Jugendpolitik war. Das gab den Anschub und die notwendige Energie und Motivation, der Schweiz mittels Studien und politischer Arbeit Beine zu machen. Die Bemühungen gipfelten 1991 im Bundesgesetz zur Förderung der ausserschulischen Jugendarbeit mit der dauerhaften Regelung des Jugendförderungskredits sowie des unbezahlten Jugendurlaubs. Dies beschäftigt uns bis heute: Gerade hat der Bundesrat die Verlängerung des Jugendurlaubs auf zwei Wochen befürwortet.
Wie hat sich die Rolle der Jugendverbände in dieser Zeit verändert?
Anfang des 20. Jahrhunderts war der Zweck der Jugendverbände, dass junge Menschen mit ihrer Freizeit etwas Sinnvolles anstellen und nicht nur in Wirtshäusern rumsitzen (damals wurde die Wochenarbeitszeit auf 59 bzw. 48 Stunden verkürzt). Heute liegt der Fokus definitiv mehr auf der Citoyenneté (der Teilhabe) von jungen Menschen. Wir wollen keine Jugendlichen, die die Gesellschaft nicht stören, wir wollen Jugendliche, die die Gesellschaft prägen. Auch wenn Jugendverbände nicht so progressiv sein können wie Jugendbewegungen, leisten sie aufgrund der institutionellen Macht viel Übersetzungsarbeit für Gesellschaft und Politik.
Auch wenn Jugendverbände nicht so progressiv sein können wie Jugendbewegungen, leisten sie aufgrund der institutionellen Macht viel Übersetzungsarbeit für Gesellschaft und Politik.
Aina Waeber, Mitglied der kollektiven Geschäftsleitung SAJV
Viele ihrer Mitglieder sind auf Freiwilligenarbeit angewiesen. Welche Entwicklungen sehen Sie, wie verändern sich die Bedürfnisse und Ansprüche junger Freiwilliger?
Freiwilliges Engagement kann verschiedene Formen haben. Trotz rückläufiger Zahlen der «formellen» Freiwilligenarbeit (also in einem Verein), engagieren sich viele Jugendliche heute eher punktuell in wichtigen Sachanliegen, beispielsweise gegen Rassismus. Diesen Wandel sehe ich auch positiv: Es ist in meiner Erfahrung insbesondere Ausdruck einer kritischeren Haltung zur Leistungsgesellschaft. Freiwilliges Engagement ist unbezahlt, zeitintensiv und emotional anstrengend. Gleichzeitig werden die Anforderungen an die Freiwilligen höher. Wichtig ist ausserdem das Gemeinschaftsgefühl, die Sinnhaftigkeit des Engagements in einem ideellen wie auch praktischen Sinn und die Möglichkeit, ohne Konsequenzen lernen und Fehler machen zu dürfen. Die Räume dafür werden kleiner.
Sie engagieren sich dafür, dass Jugendliche an politischen Entscheiden partizipieren können. Was ist die Herausforderung: Haben die Jugendlichen keinen Zugang zu den entscheidenden Gremien oder fehlt ihnen die Motivation?
Das eine ist wahrscheinlich eine Folge des anderen. Es gibt erstens sehr wenige Gefässe, in welchen Jugendliche mitreden, mitgestalten und mitentscheiden können. Zweitens wird ihnen (ausserhalb ihres Kompetenzgebietes qua Geburt – den sozialen Medien) erstaunlich wenig zugehört und zugetraut. Das meine ich nicht nur auf einer institutionellen Ebene, sondern bereits in Familie und Schule. So würde mir die Motivation für die Beschäftigung mit politischen Themen auch fehlen. Ich bin dankbar, dass ich in der Pfadi Selbstwirksamkeit lernen konnte und deshalb überzeugt bin, dass auch meine Stimme zählt.
Die nationalen Wahlen stehen an. Sie rufen die jungen Erwachsenen auf, wählen zu gehen. Wie sind die Reaktionen auf den Aufruf?
Es gibt keine negativen Reaktionen darauf. Dass auch junge Menschen wählen gehen sollen, ist politisch kein umstrittenes Thema. Es gibt viele weitere Organisationen und Jungparteien, die sich eine höhere Wahlbeteiligung von jungen Menschen wünschen. Die Schwierigkeit ist, die unpolitischen oder politikverdrossenen Jungwähler:innen zu erreichen. Dagegen könnte man mittels Senkung des Stimmrechtalters entgegenhalten, indem sich junge Menschen bereits zu Schulzeiten damit auseinandersetzen können.
Trauen Sie sich, die Fäden aus der Hand zu geben.
Aina Waeber, Mitglied der kollektiven Geschäftsleitung SAJV
Was kann die ältere Generation leisten, um die Jungen besser einzubinden?
Trauen Sie sich, die Fäden aus der Hand zu geben. Lassen Sie junge Menschen ihre eigenen Erfahrungen mitsamt Erfolgen und Fehlern machen und seien Sie da, wenn junge Menschen ihren Rat wollen. Bringen Sie Ihren Kindern und Enkeln bei, wie man zusammen Dinge verändern und kritisch hinterfragen kann. So erhalten sich junge Menschen den Willen zur Mitgestaltung und werden selbst aktiv. Das ist in meinen Augen der nachhaltigste Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe. Ah, und wenn Sie selbst Partizipationsgefässe aufbauen wollen, nehmen Sie junge Menschen von Anfang an mit ins Boot und statten Sie sie mit Entscheidungskompetenzen aus. Wie die Studie der EKKJ (Eidgenössische Kommission für Kinder und Jugendfragen) zu politischer Partizipation zeigt, heisst Partizipation nicht, nur Feedback zu geben!
Ihre Mitglieder – von Cevi über Unia bis WWF – sind in den unterschiedlichsten Themenfeldern aktiv. Was sind die gemeinsamen Fragestellungen?
Unsere gemeinsame Überzeugung, dass die Gesellschaft junge Menschen als Subjekte wahrnehmen muss, lässt uns genügend gemeinsamen Boden finden. Bis unser gemeinsamer Ansatz von echter Jugendpartizipation überall die Norm ist, wird es noch eine Weile gehen. Ausserdem sind Jugendverbände noch nicht für alle Kinder und Jugendliche gleichermassen zugänglich. Auch wir sind nicht frei von gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen. Schliesslich sorgen wir uns um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, egal ob aus einer hauptsächlich liberalen, gewerkschaftlichen oder ethischen Perspektive.
Wie gelingt es ihren Mitgliedern, die junge Generation nicht nur als Zielgruppe ihrer Aktivitäten zu sehen, sondern sie wirklich partizipieren zu lassen?
Die meisten unserer Mitgliederorganisationen (inklusive uns) sind alte Hasen, nicht Kinder dieser Zeit. Viele Verbände waren indes auch Jugendgruppen von grossen Organisationen und wurden durch Erwachsene geführt. Unser Selbstverständnis hat sich aber schnell verändert: Wir verstehen Jugendarbeit als Empowerment von jungen Menschen. Wir schaffen für junge Menschen den Raum, damit sie sich selbst früh Kompetenzen aneignen und unsere Gesellschaft mitgestalten können. Entsprechend sind sowohl unsere Strukturen wie auch Prozesse von jungen Menschen und Partizipationsgefässen geprägt. Wir sind immer auf der Suche nach jungen motivierten Menschen, die bereit sind, unsere Vorstellungen herauszufordern, uns kritisch zu begegnen und uns und unsere Projekte zu verändern.
Wir verstehen Jugendarbeit als Empowerment von jungen Menschen.
Aina Waeber, Mitglied der kollektiven Geschäftsleitung SAJV
Wo sehen Sie noch Potenzial, wie die SAJV als Dachverband die Rolle der Jugendverbände in der Gesellschaft zukünftig noch stärken kann?
Die Jugendverbände leisten eine immense Arbeit im Bereich der ausserschulischen Jugendarbeit. Diese wird leider oft als subsidiär zur schulischen Bildung gesehen und manchmal nicht klar abgegrenzt. In diesem Bereich sehen wir noch Entwicklungspotenzial für die Jugendpolitik in der Schweiz. Wo die Schweiz in den letzten Jahren Rückschritte gemacht hat, ist bei den europäischen und internationalen Austauschmöglichkeiten. Wir sind überzeugt, dass interkulturelle Kompetenzen für die gesellschaftliche Teilhabe unabdingbar sind. Schliesslich wäre die Errichtung einer nationalen Bundesstelle für freiwilliges Engagement für unsere Mitglieder sehr wertvoll und eine logische Folge der schweizerischen Tradition des bürgerlichen Engagements. Sie sehen: Uns geht die Arbeit definitiv nicht aus!