Der 1. August naht und kurz danach folgt das 175-Jahre-Jubiläum der Bundesverfassung. Die Schweiz feiert sich. Wie beurteilen Sie den Zustand der Schweizer Demokratie gerade auch im internationalen Umfeld?
Die Schweiz war lange bekannt als Demokratie-Hotspot. Doch heute haben wir zunehmend Schwierigkeiten, unsere Demokratie weiterzuentwickeln und auszubauen. Dies zeigt sich bei Themen wie Stimmrechtsalter 16, E‑Collecting oder dem Stimm- und Wahlrecht für die ausländische Wohnbevölkerung.
Sie lancieren eine Volksinitiative zur Totalrevision der Bundesverfassung. Sehen Sie konkrete Punkte, die ein Update benötigen?
Es gibt dringenden Handlungsbedarf bei Themen, die unsere Gesellschaft tiefgreifend verändern. Ich denke an den Klimawandel, die Digitalisierung oder die alternde Bevölkerung. Daraus ergeben sich komplexe Fragestellungen, die im politischen Normalbetrieb meist zu kurz kommen.
Es gibt dringenden Handlungsbedarf bei Themen, die unsere Gesellschaft tiefgreifend verändern.
Daniel Graf, Stiftungsratspräsident der Stiftung für direkte Demokratie
Weshalb ist eine Teilrevision keine Option?
Teilrevisionen können wichtige Anstösse geben. Ein gutes Beispiel ist die Gletscherinitiative, die von unserer Stiftung unterstützt wurde. Sie hat dazu beigetragen, einen Stillstand in der Klimapolitik zu überwinden. Aber um wirklich umfassende Veränderungen zu erreichen, genügt eine einzelne Initiative in der Regel nicht, da sie nur Teilbereiche adressieren kann.
Sie wollen die Demokratie ausbauen. Gibt es ein allgemeines Verständnis, was Demokratie ist?
Demokratie ist für mich eine Art von Kultur, etwas sehr Lebendiges, das wir pflegen und fördern müssen. Es ist etwas, das wir nicht aus Büchern lernen können, genau wie Fahrradfahren oder Schwimmen. Daher ist es manchmal schwer zu erklären, wie Demokratie im täglichen Leben funktioniert.
Sehen Sie auch Risiken, wenn dieser Prozess gestartet wird?
Nein. Der lange Prozess ist darauf ausgelegt, über gesellschaftliche Herausforderungen zu diskutieren, politische Lösungen zu finden und sie auf ihre Mehrheitsfähigkeit zu prüfen. Extreme Positionen haben keine Chance. Eine neue Verfassung muss letztlich grosse Unterstützung haben. Am Ende benötigt sie eine Mehrheit der Bevölkerung und der Kantone.
Die Diskussion über eine zeitgemässe Verfassung bietet auch die Gelegenheit, neue Allianzen zu bilden und sich gegenseitig zu stärken.
Daniel Graf
Bei einem Ja zur Initiative kommt es umgehend zu Neuwahlen und die neu gewählte Bundesversammlung erarbeitet einen Verfassungsentwurf, schreiben Sie. Bindet dieser Prozess nicht Ressourcen, die eigentlich für Themen wie den Klimawandel, den demografischen Wandel oder die Digitalisierung benötigt würden?
Für die Zivilgesellschaft ist es effizienter, die Kräfte zu bündeln und die knappen Ressourcen auf eine Totalrevision zu konzentrieren, anstatt uns in vielen politischen Kampagnen zu verlieren. Die Diskussion über eine zeitgemässe Verfassung bietet auch die Gelegenheit, neue Allianzen zu bilden und sich gegenseitig zu stärken – zum Beispiel im Bereich Landwirtschaft, Konsum und Ernährung.
Wie wollen Sie Menschen in den Prozess einbinden, die traditioneller und wenig digital unterwegs sind?
Unser Projekt beginnt offline. Am 17. September treffen sich über 200 Personen aus der ganzen Schweiz in Bern, um über politische Baustellen zu diskutieren und die Volksinitiative vorzubereiten. Danach sind weitere Veranstaltungen und Netzwerktreffen geplant. Denn wir wollen die Unterschriftensammlung auf möglichst viele Schultern verteilen und suchen 1000 Menschen, die bereit sind, je 100 Unterschriften beizutragen.
Wer steht hinter der Initiative und arbeiten Sie mit anderen Organisationen zusammen?
Die Initiative wird getragen von engagierten Einzelpersonen wie Michel Huissoud, dem ehemaligen Chef der Eidgenössischen Finanzkontrolle, und der Stiftung für direkte Demokratie. Die Stiftung hat bereits 82 Volksinitiativen und Referenden unterstützt und verfügt deshalb über ein breites Netzwerk, um eine überparteiliche Bewegung für eine zeitgemässe Verfassung aufzubauen.