Ein Tanz auf der zarten Grenze zwischen Selbstwahrnehmung und Identität. Die Tänzerin scheint auf einem bodenlosen Spiegel zu tanzen, während ihr Spiegelbild verschwimmt. Die Illusion eines klaren Selbst verblasst und stellt eine psychische Unruhe dar.

An diesem Tag

Ein einfacher Akt ist der Wendepunkt, bei dem Rémy den Mut fand, sich von der Sucht zu befreien. Friederike Rass zeigt mit der Geschichte, dass in der Unvorhersehbarkeit des Lebens oft die kraftvollsten Momente der Veränderung verborgen sind.

Per Zufall sitze ich mit Rémy an einem sonni­gen Herbst­tag beim Mittag­essen in unse­rem Fach­spi­tal an einem Tisch zusam­men. Er ist ein char­man­ter Kerl mit einem anste­cken­den Lachen und im Spital, um seine Medi­ka­mente abzu­ho­len und sich durch­che­cken zu lassen. Es ist leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und mit einem Mal erzählt er mir seine Geschichte. Es sind Geschich­ten wie diese, da wird die Welt für einen Moment ganz still. Er war noch jung, als seine Frau und ihr gemein­sa­mes Baby bei einem Verkehrs­un­fall ums Leben kamen. Am nächs­ten Tag, sagt er, war er auf dem Platz­spitz – es war die Hoch-Zeit der offe­nen Drogen­szene mitten in Zürich. Er nahm alles, was er finden konnte, um sich zu betäu­ben. Sein Leben so zu verlie­ren, wäre nur ein zusätz­li­cher Bonus gewe­sen. Sein Körper war jedoch zäh und so trieb er mehrere Jahre schwer drogen­süch­tig vor sich hin.

Bis er eines Tages auf dem Weg zu einem der Konsum­räume der Stadt einen Kolle­gen traf, der einen Welpen auf dem Arm hatte – der Kollege wollte zum Tier­arzt, den Klei­nen impfen lassen. Selbst sucht­krank, gab er den Plan schnell auf und wollte sich Rémy auf dem Weg zum Drogen­café anschliessen. 

Es ist eigent­lich eine triviale Begeg­nung, es muss einige dieser Ereig­nisse in Rémys Karriere der letz­ten Jahre gege­ben haben: Arzt­ter­mine, die von ihm oder Kolle­gen verpasst wurden, Fami­li­en­be­zie­hun­gen, die abge­bro­chen wurden, Termine bei Bera­tungs­zen­tren, die verfielen.

An diesem Tag entschied sich Rémy, den Tier­arzt­be­such mit dem Welpen für seinen Kolle­gen zu über­neh­men. Er kann mir auch sagen, was diese Begeg­nung von allen ande­ren Ange­bo­ten dieser Art unter­schie­den hat: «Weisst du, es war zum ersten Mal, dass Gott mir wieder ein Leben anver­traut hat, das nicht meins war. Mein eige­nes war mir doch scheiss­egal gewe­sen.» Der Rest ist Geschichte: Der Kollege über­liess ihm das Tier, der Hund würde bis zu seinem Tod zehn Jahre später bei ihm blei­ben und Rémy schaffte den Schritt weg von Heroin und Selbstzerstörung. 

Seine Erzäh­lung hat nur wenige Minu­ten gedau­ert und doch hat sie alles verän­dert. Die Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der er lacht, und das Grund­ver­trauen, das er der Welt offen­sicht­lich entge­gen­bringt, sind nur schwer zu fassen. Rémy sitzt mit uns am Tisch, quick­le­ben­dig, und disku­tiert fröh­lich die Frage, wie man die Creme­rolle am besten isst, die es als Dessert gibt (nämlich ohne Besteck).

Resi­li­enz ist in der letz­ten Zeit fast ein Zauber­wort unse­rer Gesell­schaft gewor­den. Ein Sehn­suchts­be­griff, der viele Hoff­nun­gen in sich vereint. Wir leben in einer Zeit, in der wir biswei­len schon nach Worten für die rasche Koin­zi­denz gesell­schaft­li­cher Krisen suchen müssen. Wir erle­ben eine Desta­bi­li­sie­rung unse­rer Welt­ord­nung, die von globa­len Zusam­men­hän­gen bis zum eige­nen Fami­li­en­ge­füge reicht. Wir bemer­ken es in unse­ren Auffang­stel­len an den auffäl­lig vielen neuen Menschen, die sich bislang noch in der Gesell­schaft halten konn­ten. In unse­rer Jugend­not­schlaf­stelle haben wir zum ersten Mal seit Langem wieder Jugend­li­che, die intra­ve­nös konsu­mie­ren. Es kann jede und jeden tref­fen und die Sehn­sucht nach einer Zauber­for­mel, die uns in solchen Zeiten schüt­zen kann, ist gross.

Wir wissen, dass es Dinge gibt, die Resi­li­enz fördern: Selbst­für­sorge, ein gesun­des Abgren­zungs­ver­mö­gen, ressour­cen­ori­en­tier­tes Denken. Es sind sehr gut durch­dachte und erforschte Instru­mente. Und doch blei­ben sie beim Indi­vi­duum stehen. Rémys Rettung war seine Fähig­keit, sich nach Jahren der physi­schen und psychi­schen Erschöp­fung wieder auf ein ande­res Wesen einlas­sen zu können. Seine Rettung war ein Umfeld, das ihn gerade dann ge- und ertra­gen hat, als er in seiner Verzweif­lung und seinem Hass auf diese Welt auch für sein Umfeld biswei­len viel­leicht uner­träg­lich war, und das ihm zur Seite stand, als er seine ersten Schritte aus der Sucht wagte.

Wir können für uns selbst und die Menschen, denen wir begeg­nen, jeden Tag einen Unter­schied machen – wir wissen nur noch nicht, welcher es sein wird. Ange­sichts dieser Unver­füg­bar­keit, weder uns noch unsere Nächs­ten aufzu­ge­ben, ist für mich die eigent­lich entschei­dende Bedeu­tung von Resi­li­enz: ihre soziale Dimen­sion, die sie von einem Instru­ment der Selbst­op­ti­mie­rung in die Geheim­waffe einer Gemein­schaft verwan­delt, die einan­der nicht aufgibt, unab­hän­gig davon, wie die Chan­cen stehen mögen. 

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