Wie können Gesellschaften ihre Zukunftsfähigkeit, ihre Resilienz stärken?
Louise Pulford: Wir hatten lange die Idee, dass Resilienz ein Thema ist, mit dem wir uns erst in der Krise beschäftigen.
Und das ist falsch?
Heute erleben wir eine Welt nach Covid mit verschiedenen weiteren Krisen. Wir merken, wir müssen vieles besser machen, gerade im Sozial- und Stiftungssektor. Es ist nachlässig, das Thema Resilienz erst in der Krise anzugehen. Denn in dieser entwickelt sich schnell eine grosse Dynamik. Dann realisieren wir, was passiert und was es eigentlich braucht, um eine resiliente Gesellschaft zu schaffen.
«Es wäre leichtsinnig, die Frage der Widerstandsfähigkeit beiseite zu schieben, bis es zu einer tatsächlichen Krise kommt.»
Louise Pulford, CEO von SIX
Was braucht es?
Wichtig sind die Beziehungen, der Zusammenhalt zwischen den Menschen. Es geht darum, gemeinsam Lösungen zu finden – und zwar bevor wir mitten in einer Krise stecken. Institutionen, gerade auch philanthropische, sind gefordert.
Ist Resilienz einzig die Vorbereitung auf die Krise?
Es geht ganz klar um mehr. Es geht um die Grundwerte der Gesellschaft. Diese müssen wir stärken. Das führt dazu, dass wir besser auf Krisen vorbereitet sind. In der Krise stehen diese Werte stärker im Fokus. Covid war ein ausgezeichnetes Beispiel. Die Pandemiesituation hat uns gezeigt, wie wichtig Werte wie Solidarität sind und wie schnell sie in Frage gestellt werden – oder ganz verschwinden. Deshalb müssen wir also viel besser vorbereitet sein und die Grundwerte stärker in unserer Gesellschaft verankern.
Gelingt das eher mit einem Bottom-up- oder besser einem Top-down-Ansatz?
Die Menschen wollen eine Kontrolle über das eigene Schicksal. Damit eine Veränderung in der Gesellschaft funktioniert, brauchen die Menschen und die Institutionen Werkzeuge und Ressourcen, um den Wandel zu erleichtern und zu beschleunigen. Wir müssen die Individuen befähigen und ihnen die Verantwortung übergeben. Denn auch Institutionen werden von den Menschen getragen. Geben wir der Gesellschaft die Macht zum Wandel nicht, funktioniert es nicht. Es braucht also beide Ansätze: Bottom-up und Top-down. Wir brauchen gemeinsame Verantwortlichkeiten.
Welche Rolle können – oder müssen – Stiftungen einnehmen?
In jedem Fall müssen sie eine viel grössere Rolle übernehmen, als dies heute der Fall ist. Dabei sollten philanthropische Stiftungen, und eigentlich alle Organisationen, zuerst die eigenen Strukturen und Prozesse reflektieren. Alle sprechen über Systemwandel, ohne zu wissen, was es wirklich braucht. Ich bin aber der Meinung, wir müssen dies grundsätzlich und anders angehen.
Was braucht es also?
Wir brauchen soziale Innovationen und wir müssen lernen, mit Unsicherheiten und Komplexitäten umzugehen. Was machen wir, wenn wir nicht wissen, was um die nächste Ecke kommt? Wir müssen flexibel und agil sein. Das gilt auch für Stiftungen. Aber eigentlich haben sie diese Flexibilität auch.
Inwiefern?
Stiftungen haben generell die Flexibilität zum Wandel. Das müssen sie erkennen und nutzen. Ich erwarte von ihnen, dass sie sich ehrlich mit den eigenen internen Prozessen auseinandersetzen. Sie sollten ihre Prozesse der Mittelvergabe ändern und ich denke, sie können dies tun. Sie können es sich leisten, bei der Mittelvergabe mehr Risiken einzugehen, und wenn sie mit anderen Geldgebern zusammenarbeiten, um das Risiko zu verteilen, wäre das noch besser. Sie können verstärkt in Themen aktiv werden, die sich damit befassen, wie die demokratische Gesellschaft gestärkt werden kann – ohne dass sie selbst parteipolitisch werden müssen. Dabei sollten die Stiftungen sich verstärkt als Teil der Gesellschaft verstehen und andere Sektoren involvieren. Sie sollten nicht nur an Stiftungszusammenkünften unter sich diskutieren. Sie sollten mit Regierungen sprechen, wie man sich gegenseitig unterstützen kann, und sie sollten sich verstärkt mit der Privatwirtschaft austauschen oder sogar ihre Kraft und ihr Netzwerk nutzen, um das Verhalten der Privatwirtschaft zu beeinflussen. Wir bei SIX sind überzeugt, dass Unternehmen die Kraft haben, Gutes zu tun. Mit Rahmenwerken wie ESG und B Corp wächst der Druck für Unternehmen, neue Werte zu schaffen und Praktiken anzuwenden.
«Stiftungen haben im Allgemeinen die Flexibilität, sich zu verändern. Sie müssen dies erkennen und nutzen.»
Louise Pulford, CEO von SIX
Stiftungen sollen sich als Teil eines grösseren Systems verstehen?
Genau. Und sie sollten sich von der reinen Projektförderung verabschieden und in Organisationen investieren. Das schafft Resilienz in den Organisationen. Demokratie und demokratische Entwicklungen müssen in allen Organisationen funktionieren. Denn dies ist mit dem übergeordneten Funktionieren einer Gesellschaft verbunden: Wir arbeiten zuerst an uns selbst, fördern diese Themen und arbeiten mit den anderen Sektoren zusammen. So schaffen wir eine stärkere, vernetzte und neue Gesellschaft.
Arbeiteten Sie mit SIX früher stärker mit Stiftungen zusammen und haben diesen Ansatz später erweitert?
Nein. Wir haben breiter angefangen. Die ersten sieben Jahre haben wir an unserem Ökosystem gearbeitet. Wir waren als Organisation immer überzeugt, dass wir die besten Ideen und Köpfe von überall und allen Sektoren brauchen, um voranzukommen. Einer unserer Ansätze ist, dass nicht die NGOs allein die aktuellen Herausforderungen lösen. Es ist die Aufgabe aller Menschen. Der private Sektor und die Regierungen genauso wie die Förderorganisationen haben eine Verantwortung. Uns interessiert, wie wir den Fluss der Mittel in die Innovationen vergrössern können. Mit den Stiftungen haben wir zu arbeiten angefangen, als sie auf uns zukamen.
Was hat die Stiftungen interessiert?
Sie waren an unseren sektorübergreifenden Aktivitäten interessiert. Sie hatten festgestellt, dass an ihren Veranstaltungen mit lauter Vertreter:innen der Philanthropie über andere Dinge gesprochen wurde. Sie erkannten unseren Innovationspool und waren an unseren Praktiken interessiert.
Haben Stiftungen einen Nachholbedarf?
Als wir starteten, waren Stiftungen daran interessiert, wie wir über Systemwandel denken, und sie wollten mehr erfahren zum sektorübergreifenden Zusammenspiel und darüber, wie sie Vorschauen einsetzen und mehr Risiken nehmen können. Die Stiftungen haben uns zur Mitarbeit eingeladen. Wir wollten die Dynamik des Stiftungssektors kennen lernen und verstehen, mit welchen Problemen sie kämpfen. Wir haben eine Peer-Gruppe geschaffen mit rund 200 Vertreter:innen aus dem Sektor, die bewusst andere Diskussionen führen wollten als an den bestehenden Versammlungen. Aber auch wenn die Arbeit mit Stiftungen und dem Philanthropiesektor für uns interessant ist, war es für uns immer wichtig, dass wir nicht in ein Silo gedrückt werden. Wir denken in sektorübergreifenden Ökosystemen. Das ist effektiv. Das ist unser Playbook. Für uns ist es wichtig, immer den Blick für das grössere System zu haben.
Weshalb braucht es soziale Innovationen für die Zukunft?
Für die kommenden Herausforderungen brauchen wir neue Ansätze, um soziale Probleme zu lösen. Dabei sollten wir uns nicht von der Entwicklung treiben lassen, sondern mit unseren Ideen vor die Entwicklung kommen. Wir müssen verstehen, was die grossen Issues sind, die auf uns zukommen.
Welche sehen Sie beispielsweise?
Ich war kürzlich an einem Anlass, der das Thema behandelte, wie Philanthropie über die Zukunft denken sollte. Auf dem Podium sassen Vertreter:innen grosser Stiftungen. Sie konnten die Frage, wie Philanthropie mit KI und Daten umgehen soll, nicht beantworten. Doch diese Entwicklungen geschehen jetzt und schnell. Sie verändern die Gesellschaft. Wir müssen vor diese Entwicklungen kommen. Dazu müssen wir im Sektor Fähigkeiten entwickeln und wir müssen Organisationen finden, die sich zunächst auf die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen fokussieren und dann die richtigen Instrumente finden, um dies möglichst effektiv zu tun.
Funktionieren alte Ansätze nicht mehr?
Dass wir neue Lösungen brauchen, heisst nicht, dass was bisher geschah, nicht funktioniert. Es gibt vieles, das wir von der Vergangenheit lernen können, speziell von indigenen Völkern, von Gemeinschaften, die schon viel länger hier sind als wir. Soziale Innovation ist für uns eine Frage der Rückbesinnung. Wir müssen beobachten, welche Lösungen in Taiwan, Indonesien und anderen Regionen in Ostasien, in Afrika und anderswo erfolgreich sind. Wir müssen die Antworten von anderen teilen. An anderen Orten gibt es viele Modelle. Wir müssen schauen, was wir von ihnen lernen und übernehmen können.
Wir müssen Brücken bauen. Wo werden diese am meisten benötigt?
Von Mensch zu Mensch. Wenn es gelingt, effektive Brücken zwischen Menschen zu bauen, ist viel erreicht. Philanthropie oder Regierungen, egal ob in Hongkong oder Kolumbien, ob alte oder junge, immer sind es Menschen. Wir müssen uns auf das Wesentliche rückbesinnen: einander verstehen, unsere Kulturen, unsere Antriebskräfte, unsere Überzeugungen und unsere Werte. Unser Handeln ist geprägt von vielen Annahmen über andere Menschen und wir sehen vor allem das andere. Wir hören Beispiele aus Afrika und denken, das ist nicht relevant für mich. Und natürlich ist dies für gewisse Dinge korrekt. Aber wir können viel lernen und relevante Einblicke gewinnen. Wenn wir nur das andere sehen und keine Brücken bauen, dann wird der Aufbau einer Resilienz, die wir alle brauchen, misslingen. Die Brücke von Mensch zu Mensch ist die wichtigste. Wir müssen Fragen stellen und zuhören. Kommunikation ist wichtig. Das ist die Initiative, die es braucht.
Brauchen wir ein neues Narrativ für eine resiliente Gesellschaft?
Wir brauchen absolut ein neues Narrativ. Wir brauchen eine Diskussion für die ganze Gesellschaft, was wir in unserer Zukunft sein wollen. Viele westliche Demokratien sind an einem ähnlichen Punkt wie wir in UK: Wir leben von Tag zu Tag. Die Menschen haben kaum eine Vision, wo sie selbst sein wollen oder welche Gesellschaft sie wollen, wie ein Bildungssystem aussehen oder wie ein Gesundheits- oder Pflegesystem funktionieren soll. Diese Art der Diskussion fehlt.
Wer könnte sie anstossen?
Dies wäre Aufgabe der politischen Führung, aber nicht nur. Andere Organisationen, gerade auch Stiftungen, können diese Aufgabe übernehmen. Sie müssen zusammenarbeiten und die Führung für einzelne Fragen übernehmen. Wir brauchen politische und philanthropische Führung. Damit kommen wir zurück zur Frage der Resilienz.
«Wir werden niemals einen Systemwechsel erreichen, wenn Projekte auf ein Jahr beschränkt sind»
Louise Pulford, CEO von SIX
Weshalb?
Resilienz ist proaktiv und nicht reaktiv auf eine Situation. Sie ist Teil dieser übergeordneten und anspruchsvollen Diskussion. Denn alles, was wir in unserem Land machen, hat eine Auswirkung darauf, was in der Welt geschieht. Es braucht eine globale Diskussion. Wir brauchen eine Vision, bspw. wie die nächste UNO aussehen wird – dabei würde ich gerne mitarbeiten. Wir brauchen diese Verbundenheit zur Lösung der Probleme.
Das fehlt heute?
Wir anerkennen zwar, dass die Probleme verbunden sind und komplex, bspw. beim Klimawandel oder der Pandemie. Gleichzeitig sucht jedes Land für sich nach Lösungen. Wir schauen nach innen. Wir bauen Mauern.
Wie können wir diese überwinden?
Wir brauchen die Diskussion in der ganzen Gesellschaft. Damit können wir eine Dynamik auslösen. Und wir müssen langfristig und weitreichend denken. Einen Systemwandel erreichen wir nicht in sechs Monaten oder in einem Jahr. Dessen müssen sich auch Stiftungen bewusst sein. Mit Projekten, die auf ein Jahr begrenzt sind, werden wir nie einen Systemwandel erreichen. Wir müssen uns allen einen Gefallen tun: in Dekaden denken, Silos einreissen, den kollaborativen Weg gehen und eine grössere Vision entwickeln, wohin wir mit unserer Gesellschaft wollen.