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Wir brau­chen eine gemein­same Vision

SIX versteht sich als globale Anlaufstelle für soziale Innovation und sektorübergreifende Zusammenarbeit mit Standorten in England, Spanien, Saudi-Arabien und Hongkong. Als CEO von SIX leitet Louise Pulford die Entwicklung eines neuen globalen, sektorübergreifenden Programms und ist verantwortlich für die Zusammenarbeit mit Stiftungen.

Wie können Gesell­schaf­ten ihre Zukunfts­fä­hig­keit, ihre Resi­li­enz stärken?

Louise Pulford: Wir hatten lange die Idee, dass Resi­li­enz ein Thema ist, mit dem wir uns erst in der Krise beschäftigen.

Und das ist falsch?

Heute erle­ben wir eine Welt nach Covid mit verschie­de­nen weite­ren Krisen. Wir merken, wir müssen vieles besser machen, gerade im Sozial- und Stif­tungs­sek­tor. Es ist nach­läs­sig, das Thema Resi­li­enz erst in der Krise anzu­ge­hen. Denn in dieser entwi­ckelt sich schnell eine grosse Dyna­mik. Dann reali­sie­ren wir, was passiert und was es eigent­lich braucht, um eine resi­li­ente Gesell­schaft zu schaffen.

«Es wäre leicht­sin­nig, die Frage der Wider­stands­fä­hig­keit beiseite zu schie­ben, bis es zu einer tatsäch­li­chen Krise kommt.»

Louise Pulford, CEO von SIX

Was braucht es?

Wich­tig sind die Bezie­hun­gen, der Zusam­men­halt zwischen den Menschen. Es geht darum, gemein­sam Lösun­gen zu finden – und zwar bevor wir mitten in einer Krise stecken. Insti­tu­tio­nen, gerade auch phil­an­thro­pi­sche, sind gefordert.

Ist Resi­li­enz einzig die Vorbe­rei­tung auf die Krise?

Es geht ganz klar um mehr. Es geht um die Grund­werte der Gesell­schaft. Diese müssen wir stär­ken. Das führt dazu, dass wir besser auf Krisen vorbe­rei­tet sind. In der Krise stehen diese Werte stär­ker im Fokus. Covid war ein ausge­zeich­ne­tes Beispiel. Die Pande­mie­si­tua­tion hat uns gezeigt, wie wich­tig Werte wie Soli­da­ri­tät sind und wie schnell sie in Frage gestellt werden – oder ganz verschwin­den. Deshalb müssen wir also viel besser vorbe­rei­tet sein und die Grund­werte stär­ker in unse­rer Gesell­schaft verankern. 

Gelingt das eher mit einem Bottom-up- oder besser einem Top-down-Ansatz?

Die Menschen wollen eine Kontrolle über das eigene Schick­sal. Damit eine Verän­de­rung in der Gesell­schaft funk­tio­niert, brau­chen die Menschen und die Insti­tu­tio­nen Werk­zeuge und Ressour­cen, um den Wandel zu erleich­tern und zu beschleu­ni­gen. Wir müssen die Indi­vi­duen befä­hi­gen und ihnen die Verant­wor­tung über­ge­ben. Denn auch Insti­tu­tio­nen werden von den Menschen getra­gen. Geben wir der Gesell­schaft die Macht zum Wandel nicht, funk­tio­niert es nicht. Es braucht also beide Ansätze: Bottom-up und Top-down. Wir brau­chen gemein­same Verantwortlichkeiten. 

Welche Rolle können – oder müssen – Stif­tun­gen einnehmen?

In jedem Fall müssen sie eine viel grös­sere Rolle über­neh­men, als dies heute der Fall ist. Dabei soll­ten phil­an­thro­pi­sche Stif­tun­gen, und eigent­lich alle Orga­ni­sa­tio­nen, zuerst die eige­nen Struk­tu­ren und Prozesse reflek­tie­ren. Alle spre­chen über System­wan­del, ohne zu wissen, was es wirk­lich braucht. Ich bin aber der Meinung, wir müssen dies grund­sätz­lich und anders angehen.

Was braucht es also?

Wir brau­chen soziale Inno­va­tio­nen und wir müssen lernen, mit Unsi­cher­hei­ten und Komple­xi­tä­ten umzu­ge­hen. Was machen wir, wenn wir nicht wissen, was um die nächste Ecke kommt? Wir müssen flexi­bel und agil sein. Das gilt auch für Stif­tun­gen. Aber eigent­lich haben sie diese Flexi­bi­li­tät auch.

Inwie­fern?

Stif­tun­gen haben gene­rell die Flexi­bi­li­tät zum Wandel. Das müssen sie erken­nen und nutzen. Ich erwarte von ihnen, dass sie sich ehrlich mit den eige­nen inter­nen Prozes­sen ausein­an­der­set­zen. Sie soll­ten ihre Prozesse der Mittel­ver­gabe ändern und ich denke, sie können dies tun. Sie können es sich leis­ten, bei der Mittel­ver­gabe mehr Risi­ken einzu­ge­hen, und wenn sie mit ande­ren Geld­ge­bern zusam­men­ar­bei­ten, um das Risiko zu vertei­len, wäre das noch besser. Sie können verstärkt in Themen aktiv werden, die sich damit befas­sen, wie die demo­kra­ti­sche Gesell­schaft gestärkt werden kann – ohne dass sie selbst partei­po­li­tisch werden müssen. Dabei soll­ten die Stif­tun­gen sich verstärkt als Teil der Gesell­schaft verste­hen und andere Sekto­ren invol­vie­ren. Sie soll­ten nicht nur an Stif­tungs­zu­sam­men­künf­ten unter sich disku­tie­ren. Sie soll­ten mit Regie­run­gen spre­chen, wie man sich gegen­sei­tig unter­stüt­zen kann, und sie soll­ten sich verstärkt mit der Privat­wirt­schaft austau­schen oder sogar ihre Kraft und ihr Netz­werk nutzen, um das Verhal­ten der Privat­wirt­schaft zu beein­flus­sen. Wir bei SIX sind über­zeugt, dass Unter­neh­men die Kraft haben, Gutes zu tun. Mit Rahmen­wer­ken wie ESG und B Corp wächst der Druck für Unter­neh­men, neue Werte zu schaf­fen und Prak­ti­ken anzuwenden.

«Stif­tun­gen haben im Allge­mei­nen die Flexi­bi­li­tät, sich zu verän­dern. Sie müssen dies erken­nen und nutzen.»

Louise Pulford, CEO von SIX

Stif­tun­gen sollen sich als Teil eines grös­se­ren Systems verstehen?

Genau. Und sie soll­ten sich von der reinen Projekt­för­de­rung verab­schie­den und in Orga­ni­sa­tio­nen inves­tie­ren. Das schafft Resi­li­enz in den Orga­ni­sa­tio­nen. Demo­kra­tie und demo­kra­ti­sche Entwick­lun­gen müssen in allen Orga­ni­sa­tio­nen funk­tio­nie­ren. Denn dies ist mit dem über­ge­ord­ne­ten Funk­tio­nie­ren einer Gesell­schaft verbun­den: Wir arbei­ten zuerst an uns selbst, fördern diese Themen und arbei­ten mit den ande­ren Sekto­ren zusam­men. So schaf­fen wir eine stär­kere, vernetzte und neue Gesellschaft.

Arbei­te­ten Sie mit SIX früher stär­ker mit Stif­tun­gen zusam­men und haben diesen Ansatz später erweitert?

Nein. Wir haben brei­ter ange­fan­gen. Die ersten sieben Jahre haben wir an unse­rem Ökosys­tem gear­bei­tet. Wir waren als Orga­ni­sa­tion immer über­zeugt, dass wir die besten Ideen und Köpfe von über­all und allen Sekto­ren brau­chen, um voran­zu­kom­men. Einer unse­rer Ansätze ist, dass nicht die NGOs allein die aktu­el­len Heraus­for­de­run­gen lösen. Es ist die Aufgabe aller Menschen. Der private Sektor und die Regie­run­gen genauso wie die Förder­or­ga­ni­sa­tio­nen haben eine Verant­wor­tung. Uns inter­es­siert, wie wir den Fluss der Mittel in die Inno­va­tio­nen vergrös­sern können. Mit den Stif­tun­gen haben wir zu arbei­ten ange­fan­gen, als sie auf uns zukamen.

Was hat die Stif­tun­gen interessiert?

Sie waren an unse­ren sektor­über­grei­fen­den Akti­vi­tä­ten inter­es­siert. Sie hatten fest­ge­stellt, dass an ihren Veran­stal­tun­gen mit lauter Vertreter:innen der Phil­an­thro­pie über andere Dinge gespro­chen wurde. Sie erkann­ten unse­ren Inno­va­ti­ons­pool und waren an unse­ren Prak­ti­ken interessiert.

Haben Stif­tun­gen einen Nachholbedarf?

Als wir star­te­ten, waren Stif­tun­gen daran inter­es­siert, wie wir über System­wan­del denken, und sie woll­ten mehr erfah­ren zum sektor­über­grei­fen­den Zusam­men­spiel und darüber, wie sie Vorschauen einset­zen und mehr Risi­ken nehmen können. Die Stif­tun­gen haben uns zur Mitar­beit einge­la­den. Wir woll­ten die Dyna­mik des Stif­tungs­sek­tors kennen lernen und verste­hen, mit welchen Proble­men sie kämp­fen. Wir haben eine Peer-Gruppe geschaf­fen mit rund 200 Vertreter:innen aus dem Sektor, die bewusst andere Diskus­sio­nen führen woll­ten als an den bestehen­den Versamm­lun­gen. Aber auch wenn die Arbeit mit Stif­tun­gen und dem Phil­an­thro­pie­sek­tor für uns inter­es­sant ist, war es für uns immer wich­tig, dass wir nicht in ein Silo gedrückt werden. Wir denken in sektor­über­grei­fen­den Ökosys­te­men. Das ist effek­tiv. Das ist unser Play­book. Für uns ist es wich­tig, immer den Blick für das grös­sere System zu haben. 

Weshalb braucht es soziale Inno­va­tio­nen für die Zukunft?

Für die kommen­den Heraus­for­de­run­gen brau­chen wir neue Ansätze, um soziale Probleme zu lösen. Dabei soll­ten wir uns nicht von der Entwick­lung trei­ben lassen, sondern mit unse­ren Ideen vor die Entwick­lung kommen. Wir müssen verste­hen, was die gros­sen Issues sind, die auf uns zukommen.

Welche sehen Sie beispielsweise?

Ich war kürz­lich an einem Anlass, der das Thema behan­delte, wie Phil­an­thro­pie über die Zukunft denken sollte. Auf dem Podium sassen Vertreter:innen gros­ser Stif­tun­gen. Sie konn­ten die Frage, wie Phil­an­thro­pie mit KI und Daten umge­hen soll, nicht beant­wor­ten. Doch diese Entwick­lun­gen gesche­hen jetzt und schnell. Sie verän­dern die Gesell­schaft. Wir müssen vor diese Entwick­lun­gen kommen. Dazu müssen wir im Sektor Fähig­kei­ten entwi­ckeln und wir müssen Orga­ni­sa­tio­nen finden, die sich zunächst auf die Bewäl­ti­gung der anste­hen­den Heraus­for­de­run­gen fokus­sie­ren und dann die rich­ti­gen Instru­mente finden, um dies möglichst effek­tiv zu tun. 

Funk­tio­nie­ren alte Ansätze nicht mehr?

Dass wir neue Lösun­gen brau­chen, heisst nicht, dass was bisher geschah, nicht funk­tio­niert. Es gibt vieles, das wir von der Vergan­gen­heit lernen können, spezi­ell von indi­ge­nen Völkern, von Gemein­schaf­ten, die schon viel länger hier sind als wir. Soziale Inno­va­tion ist für uns eine Frage der Rück­be­sin­nung. Wir müssen beob­ach­ten, welche Lösun­gen in Taiwan, Indo­ne­sien und ande­ren Regio­nen in Ostasien, in Afrika und anderswo erfolg­reich sind. Wir müssen die Antwor­ten von ande­ren teilen. An ande­ren Orten gibt es viele Modelle. Wir müssen schauen, was wir von ihnen lernen und über­neh­men können. 

Wir müssen Brücken bauen. Wo werden diese am meis­ten benötigt?

Von Mensch zu Mensch. Wenn es gelingt, effek­tive Brücken zwischen Menschen zu bauen, ist viel erreicht. Phil­an­thro­pie oder Regie­run­gen, egal ob in Hong­kong oder Kolum­bien, ob alte oder junge, immer sind es Menschen. Wir müssen uns auf das Wesent­li­che rück­be­sin­nen: einan­der verste­hen, unsere Kultu­ren, unsere Antriebs­kräfte, unsere Über­zeu­gun­gen und unsere Werte. Unser Handeln ist geprägt von vielen Annah­men über andere Menschen und wir sehen vor allem das andere. Wir hören Beispiele aus Afrika und denken, das ist nicht rele­vant für mich. Und natür­lich ist dies für gewisse Dinge korrekt. Aber wir können viel lernen und rele­vante Einbli­cke gewin­nen. Wenn wir nur das andere sehen und keine Brücken bauen, dann wird der Aufbau einer Resi­li­enz, die wir alle brau­chen, miss­lin­gen. Die Brücke von Mensch zu Mensch ist die wich­tigste. Wir müssen Fragen stel­len und zuhö­ren. Kommu­ni­ka­tion ist wich­tig. Das ist die Initia­tive, die es braucht.

Brau­chen wir ein neues Narra­tiv für eine resi­li­ente Gesellschaft?

Wir brau­chen abso­lut ein neues Narra­tiv. Wir brau­chen eine Diskus­sion für die ganze Gesell­schaft, was wir in unse­rer Zukunft sein wollen. Viele west­li­che Demo­kra­tien sind an einem ähnli­chen Punkt wie wir in UK: Wir leben von Tag zu Tag. Die Menschen haben kaum eine Vision, wo sie selbst sein wollen oder welche Gesell­schaft sie wollen, wie ein Bildungs­sys­tem ausse­hen oder wie ein Gesund­heits- oder Pfle­ge­sys­tem funk­tio­nie­ren soll. Diese Art der Diskus­sion fehlt.

Wer könnte sie anstossen?

Dies wäre Aufgabe der poli­ti­schen Führung, aber nicht nur. Andere Orga­ni­sa­tio­nen, gerade auch Stif­tun­gen, können diese Aufgabe über­neh­men. Sie müssen zusam­men­ar­bei­ten und die Führung für einzelne Fragen über­neh­men. Wir brau­chen poli­ti­sche und phil­an­thro­pi­sche Führung. Damit kommen wir zurück zur Frage der Resilienz.

«Wir werden niemals einen System­wech­sel errei­chen, wenn Projekte auf ein Jahr beschränkt sind»

Louise Pulford, CEO von SIX

Weshalb?

Resi­li­enz ist proak­tiv und nicht reak­tiv auf eine Situa­tion. Sie ist Teil dieser über­ge­ord­ne­ten und anspruchs­vol­len Diskus­sion. Denn alles, was wir in unse­rem Land machen, hat eine Auswir­kung darauf, was in der Welt geschieht. Es braucht eine globale Diskus­sion. Wir brau­chen eine Vision, bspw. wie die nächste UNO ausse­hen wird – dabei würde ich gerne mitar­bei­ten. Wir brau­chen diese Verbun­den­heit zur Lösung der Probleme. 

Das fehlt heute?

Wir aner­ken­nen zwar, dass die Probleme verbun­den sind und komplex, bspw. beim Klima­wan­del oder der Pande­mie. Gleich­zei­tig sucht jedes Land für sich nach Lösun­gen. Wir schauen nach innen. Wir bauen Mauern. 

Wie können wir diese überwinden?

Wir brau­chen die Diskus­sion in der ganzen Gesell­schaft. Damit können wir eine Dyna­mik auslö­sen. Und wir müssen lang­fris­tig und weit­rei­chend denken. Einen System­wan­del errei­chen wir nicht in sechs Mona­ten oder in einem Jahr. Dessen müssen sich auch Stif­tun­gen bewusst sein. Mit Projek­ten, die auf ein Jahr begrenzt sind, werden wir nie einen System­wan­del errei­chen. Wir müssen uns allen einen Gefal­len tun: in Deka­den denken, Silos einreis­sen, den kolla­bo­ra­ti­ven Weg gehen und eine grös­sere Vision entwi­ckeln, wohin wir mit unse­rer Gesell­schaft wollen.

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