Was gab den Auslöser zu dieser Studie?
Als ich vor zwei Jahren anfing, mich systematisch mit der Perspektive der Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen auseinanderzusetzen, wunderte ich mich, dass es zu dieser gesellschaftlich so relevanten Rolle praktisch keine Daten und Fakten gab. So entstand im Rahmen der Weiterentwicklung unserer Angehörigenbewegung vor einem Jahr der Wunsch, dies zu verändern. Jetzt liegen die Resultate vor – auch dank zweier Stiftungen, die unser Ansinnen unterstützten: Zusammen mit dem Umfrageinstitut SOTOMO haben wir von Stand by You Schweiz die erste repräsentative Umfrage publizieren können. Ein Meilenstein für alle in unserem Land, die diese Rolle kennen. Und das sind viele: Der Bericht ist auch eine Hommage an die Menschen in unserem Land, die als Angehörige und Vertraute von Menschen mit psychischen Erkrankungen immer wieder Wege finden, ihren Lieben beizustehen.
Die Studie zeigt, dass 59 Prozent der Schweizer:innen eine Person mit psychischer Erkrankung betreut haben. Etwa die Hälfte davon macht dies gerade aktuell. Wo benötigen diese Unterstützung?
Die Geschichten der Menschen mit psychischen Erkrankungen sind bewegend. Es ist nur schwer vorstellbar, was die Betroffenen leisten, um den Alltag zu bewältigen. Sie erleben einen Höllenritt durch seelische Krisen, soziale Isolation und Stigmatisierung. Die Betroffenen finden sich immer wieder in unvorstellbar prekären Lebensumständen. Die Not, die damit einhergeht, bringt auch ihre Angehörigen und Vertrauenspersonen an Grenzen – und darüber hinaus. Jede Geschichte ist einzigartig – es gibt keine Patentrezepte. Im Moment sind über zwei Millionen Menschen in unserem Land in dieser Rolle; über vier Millionen waren schon mal in der Rolle der Angehörigen oder Vertrauten.
Im Moment sind über zwei Millionen Menschen in unserem Land in dieser Rolle; über vier Millionen waren schon mal in der Rolle der Angehörigen oder Vertrauten.
Christian Pfister, Co-Präsident Stand by You Schweiz
Generell lässt sich sagen: Wer so nahe an den existenziellen Stürmen seiner Lieben lebt, hat einen geschärften Blick auf das System. Und dieses befindet sich selbst in der Krise. Umso mehr sind Angehörige und Vertrauenspersonen von Menschen mit psychischen Erkrankungen systemrelevant. Warum das so ist, ist einfach zu erklären: Was das System nicht oder nur bruchstückhaft zu tragen vermag, landet letztlich auf den Schultern von Vertrauten, Eltern, Geschwistern, Partnerinnen und Partnern. Dennoch wird diese Perspektive von den Profis im System häufig ausgeblendet. Das kann nicht sein. Aus der Studie geht zudem hervor, dass sich Angehörige und Vertraute mehr Informationen wünschen, aber auch mehr Austausch mit anderen Angehörigen. Hier setzen wir als Stand by You Schweiz an.
36 Prozent der Befragten haben als Kinder darunter gelitten, wenn Familienmitglieder von einer psychischen Erkrankung betroffen waren. Sehen Sie konkrete Massnahmen, wie die Situation der Kinder verbessert werden kann?
Das ist in der Tat eine Zahl, die aufwühlt. Hinter dieser Prozentzahl stehen 1,9 Millionen Menschen, die diese Erfahrung machen mussten. Drei Viertel von Ihnen empfand das als psychische Belastung. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind besonders vulnerabel. Ein zentrales Anliegen ist sicherlich: Sobald ein Elternteil psychisch erkrankt, sollten die involvierten Fachleute, also das psychiatrische Behandlungssystem, die Kinder sofort mitdenken, einbeziehen und unterstützen. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erhalten in ihrem Angehörigendasein zu wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung. So laufen diese selbst Gefahr, psychisch zu erkranken. Ein solch schwerwiegendes Risiko sollten wir als Gesellschaft nicht hinnehmen.
Die Zahlen zeigen, dass das Thema viele Menschen betrifft. Weshalb waren ihre Bedürfnisse bisher kaum ein Thema?
Angesichts der gesellschaftlichen Relevanz der Angehörigen ist das in der Tat ein Rätsel. Antworten auf die Frage, warum das so wenig thematisiert wird, sind nicht einfach zu geben. Sicherlich spielt eine Rolle, dass psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft immer noch zu Stigmatisierung und Diskriminierung führen. Betroffene kämpfen mit Vorurteilen, werden in der Arbeitswelt und bisweilen vom sozialen Leben ausgeschlossen. Angehörige begleiten die Betroffenen durch ihr Leben und bekommen diese Ausgrenzung natürlich auch zu spüren. Deshalb tragen wohl viele ihre Rolle im Stillen. Unsere Betroffenen sind weit mehr als ihre Diagnose – eine konsequente Ausrichtung auf ihre Ressourcen und ihre Persönlichkeit birgt grosse Chancen. Dies sollten wir uns als Gesellschaft zunutze machen. Ihren Fähigkeiten Platz zu geben, vorsichtiger mit der Fixierung auf die «Krankheit» umzugehen, würde grosse Veränderungen in Gang setzen.
Hinschauen ist bei diesem Thema ein gesellschaftliches Muss.
Christian Pfister
Zum Glück setzen sich viele Menschen und Organisationen für die gesellschaftliche Inklusion der Betroffenen und eine wirkungsvollere psychiatrische Versorgung ein. Das ist gut so. Denn es ist Zeit, angesichts der enormen Herausforderungen Psychiatrie neu zu denken und zu leben.
58 Prozent der Befragten, die von einer psychischen Erkrankung betroffen waren, sagen, dass sie ohne die Betreuung durch Menschen aus ihrem sozialen Umfeld eher oder klar zusätzliche Unterstützung benötigt hätten. Für die Betreuenden kann die Situation intensiv sein und viel Zeit beanspruchen. Kann die Gesellschaft diese Menschen stärker unterstützen?
Das Beistehen und die Betreuungsarbeit der Angehörigen sind für die Betroffenen zentral. Angehörige sind systemrelevant. Und auch das zeigt unsere Studie: 96 Prozent der Menschen mit einer psychischen Erkrankung sehen die Unterstützung durch Angehörige und Vertrauenspersonen als wichtig an. Es braucht ein gemeinsames Grundverständnis aller Akteure in der psychiatrischen Versorgung. Wir haben in unserem Land hervorragende Fachleute in der Pflege, im psychologischen, psychiatrischen sowie sozialen Fach. Wir verfügen über Ressourcen und den Anspruch, die Dinge gut zu machen. Wir müssen alles, was wir haben, in die Waagschale werfen, um die Versorgungskrise für Menschen in psychischen Krisen abzuwenden. Wegschauen oder Kleinreden befeuert die Not von Betroffenen wie Angehörigen. Hinschauen ist bei diesem Thema ein gesellschaftliches Muss.
Was bietet der Verein Stand by You?
Wir sind die Dachorganisation der Angehörigenbewegung, die heute primär aus regionalen Angehörigenorganisationen besteht. Unser Name ist Programm: Wir wollen unseren erkrankten Angehörigen beistehen – und ebenso anderen Angehörigen, die den Austausch suchen und Hilfe benötigen. Auf nationaler Ebene verfolgen wir drei Ziele: Wir wollen die Solidaritätsnetze, die Hilfs- und Weiterbildungsangebote für Angehörige und Vertraute stärken. Zweitens wollen wir die Zukunft der psychiatrischen Versorgung in unserem Land mitgestalten. Und als drittes wollen wir uns mit allen nationalen Organisationen vernetzen, die sich ihrerseits für eine wirksamere Psychiatrie einsetzen. Wer bei uns mitmachen will, ist herzlich willkommen. Es gibt viel zu tun.
Es braucht das ganze Dorf, um tragfähige Lösungen zu finden.
Christian Pfister
Für Personen mit psychischen Erkrankungen engagieren sich verschiedene Organisationen. Wie arbeitet der Verein mit diesen zusammen?
In den Regionen leisten die Kolleginnen und Kollegen der Angehörigenbewegung viel wertvolle Arbeit und sind auch gut vernetzt mit anderen Organisationen. Auf nationaler Ebene haben wir etwas Nachholbedarf und sind daran, unsere Netzwerke zu stärken. Denn allein können wir die grossen Herausforderungen nicht lösen. Es braucht das ganze Dorf, um tragfähige Lösungen zu finden.
Wo engagiert sich der Verein auch politisch?
Vor 25 Jahren schlossen sich ein paar regionale Angehörigenorganisationen zur VASK Schweiz zusammen. Die Angehörigenbewegung in der Schweiz war geboren. Die Organisation setzte wichtige Impulse – und unterstützt seither Angehörige schweizweit. Letztes Jahr hat die Dachorganisation beschlossen, das Erbe der VASK weiterzuentwickeln, einen Neuauftritt und eine Öffnung zu wagen: Mit neuem Namen, neuer Website und neuem Selbstverständnis tritt die Organisation ab diesem Jahr unter dem Namen «Stand by You Schweiz – Angehörige und Vertraute von Menschen mit psychischen Erkrankungen» auf. Ziele der Bewegung sind: Die Perspektive der Angehörigen und Vertrauenspersonen vermehrt sicht‑, hör- und spürbar zu machen – und einen Beitrag zu leisten, um die Psychiatrie in der Schweiz nachhaltiger, wirksamer und menschlicher zu gestalten. Damit verbunden ist auch der Anspruch, mit der Politik in den Dialog zu gehen. Mit den Daten der Studie können wir nun die Relevanz des Themas ganz anders darlegen – gute Voraussetzungen, um die politische Arbeit zu intensivieren.
Zur Studie und weiteren Informationen zu Stand by You Schweiz