Christian Pfister, Co-Präsident Stand by You Schweiz

Stand by You: Ange­hö­rige sind systemrelevant

Im Auftrag des Vereins Stand by You Schweiz hat das Umfrageinstitut SOTOMO erstmals in einer repräsentativen Studie die Situation von Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen erhoben. Christian Pfister, Co-Präsident von Stand by You Schweiz, spricht über die Erkenntnisse aus der Studie, die politischen Absichten des Vereins und sagt, dass die Studie auch eine Hommage sei.

Was gab den Auslö­ser zu dieser Studie?

Als ich vor zwei Jahren anfing, mich syste­ma­tisch mit der Perspek­tive der Ange­hö­ri­gen von Menschen mit psychi­schen Erkran­kun­gen ausein­an­der­zu­set­zen, wunderte ich mich, dass es zu dieser gesell­schaft­lich so rele­van­ten Rolle prak­tisch keine Daten und Fakten gab. So entstand im Rahmen der Weiter­ent­wick­lung unse­rer Ange­hö­ri­gen­be­we­gung vor einem Jahr der Wunsch, dies zu verän­dern. Jetzt liegen die Resul­tate vor – auch dank zweier Stif­tun­gen, die unser Ansin­nen unter­stütz­ten: Zusam­men mit dem Umfra­ge­insti­tut SOTOMO haben wir von Stand by You Schweiz die erste reprä­sen­ta­tive Umfrage publi­zie­ren können. Ein Meilen­stein für alle in unse­rem Land, die diese Rolle kennen. Und das sind viele: Der Bericht ist auch eine Hommage an die Menschen in unse­rem Land, die als Ange­hö­rige und Vertraute von Menschen mit psychi­schen Erkran­kun­gen immer wieder Wege finden, ihren Lieben beizustehen.

Die Studie zeigt, dass 59 Prozent der Schweizer:innen eine Person mit psychi­scher Erkran­kung betreut haben. Etwa die Hälfte davon macht dies gerade aktu­ell. Wo benö­ti­gen diese Unterstützung?

Die Geschich­ten der Menschen mit psychi­schen Erkran­kun­gen sind bewe­gend. Es ist nur schwer vorstell­bar, was die Betrof­fe­nen leis­ten, um den Alltag zu bewäl­ti­gen. Sie erle­ben einen Höllen­ritt durch seeli­sche Krisen, soziale Isola­tion und Stig­ma­ti­sie­rung. Die Betrof­fe­nen finden sich immer wieder in unvor­stell­bar prekä­ren Lebens­um­stän­den. Die Not, die damit einher­geht, bringt auch ihre Ange­hö­ri­gen und Vertrau­ens­per­so­nen an Gren­zen – und darüber hinaus. Jede Geschichte ist einzig­ar­tig – es gibt keine Patent­re­zepte. Im Moment sind über zwei Millio­nen Menschen in unse­rem Land in dieser Rolle; über vier Millio­nen waren schon mal in der Rolle der Ange­hö­ri­gen oder Vertrauten. 

Im Moment sind über zwei Millio­nen Menschen in unse­rem Land in dieser Rolle; über vier Millio­nen waren schon mal in der Rolle der Ange­hö­ri­gen oder Vertrauten. 

Chris­tian Pfis­ter, Co-Präsi­dent Stand by You Schweiz

Gene­rell lässt sich sagen: Wer so nahe an den exis­ten­zi­el­len Stür­men seiner Lieben lebt, hat einen geschärf­ten Blick auf das System. Und dieses befin­det sich selbst in der Krise. Umso mehr sind Ange­hö­rige und Vertrau­ens­per­so­nen von Menschen mit psychi­schen Erkran­kun­gen system­re­le­vant. Warum das so ist, ist einfach zu erklä­ren: Was das System nicht oder nur bruch­stück­haft zu tragen vermag, landet letzt­lich auf den Schul­tern von Vertrau­ten, Eltern, Geschwis­tern, Part­ne­rin­nen und Part­nern. Dennoch wird diese Perspek­tive von den Profis im System häufig ausge­blen­det. Das kann nicht sein. Aus der Studie geht zudem hervor, dass sich Ange­hö­rige und Vertraute mehr Infor­ma­tio­nen wünschen, aber auch mehr Austausch mit ande­ren Ange­hö­ri­gen. Hier setzen wir als Stand by You Schweiz an.

36 Prozent der Befrag­ten haben als Kinder darun­ter gelit­ten, wenn Fami­li­en­mit­glie­der von einer psychi­schen Erkran­kung betrof­fen waren. Sehen Sie konkrete Mass­nah­men, wie die Situa­tion der Kinder verbes­sert werden kann?

Das ist in der Tat eine Zahl, die aufwühlt. Hinter dieser Prozent­zahl stehen 1,9 Millio­nen Menschen, die diese Erfah­rung machen muss­ten. Drei Vier­tel von Ihnen empfand das als psychi­sche Belas­tung. Kinder, Jugend­li­che und junge Erwach­sene sind beson­ders vulnerabel. Ein zentra­les Anlie­gen ist sicher­lich: Sobald ein Eltern­teil psychisch erkrankt, soll­ten die invol­vier­ten Fach­leute, also das psych­ia­tri­sche Behand­lungs­sys­tem, die Kinder sofort mitden­ken, einbe­zie­hen und unter­stüt­zen. Kinder, Jugend­li­che und junge Erwach­sene erhal­ten in ihrem Ange­hö­ri­gen­da­sein zu wenig Aufmerk­sam­keit und Unter­stüt­zung. So laufen diese selbst Gefahr, psychisch zu erkran­ken. Ein solch schwer­wie­gen­des Risiko soll­ten wir als Gesell­schaft nicht hinnehmen.

Die Zahlen zeigen, dass das Thema viele Menschen betrifft. Weshalb waren ihre Bedürf­nisse bisher kaum ein Thema?

Ange­sichts der gesell­schaft­li­chen Rele­vanz der Ange­hö­ri­gen ist das in der Tat ein Rätsel. Antwor­ten auf die Frage, warum das so wenig thema­ti­siert wird, sind nicht einfach zu geben. Sicher­lich spielt eine Rolle, dass psychi­sche Erkran­kun­gen in unse­rer Gesell­schaft immer noch zu Stig­ma­ti­sie­rung und Diskri­mi­nie­rung führen. Betrof­fene kämp­fen mit Vorur­tei­len, werden in der Arbeits­welt und biswei­len vom sozia­len Leben ausge­schlos­sen. Ange­hö­rige beglei­ten die Betrof­fe­nen durch ihr Leben und bekom­men diese Ausgren­zung natür­lich auch zu spüren. Deshalb tragen wohl viele ihre Rolle im Stil­len. Unsere Betrof­fe­nen sind weit mehr als ihre Diagnose – eine konse­quente Ausrich­tung auf ihre Ressour­cen und ihre Persön­lich­keit birgt grosse Chan­cen. Dies soll­ten wir uns als Gesell­schaft zunutze machen. Ihren Fähig­kei­ten Platz zu geben, vorsich­ti­ger mit der Fixie­rung auf die «Krank­heit» umzu­ge­hen, würde grosse Verän­de­run­gen in Gang setzen. 

Hinschauen ist bei diesem Thema ein gesell­schaft­li­ches Muss. 

Chris­tian Pfister

Zum Glück setzen sich viele Menschen und Orga­ni­sa­tio­nen für die gesell­schaft­li­che Inklu­sion der Betrof­fe­nen und eine wirkungs­vol­lere psych­ia­tri­sche Versor­gung ein. Das ist gut so. Denn es ist Zeit, ange­sichts der enor­men Heraus­for­de­run­gen Psych­ia­trie neu zu denken und zu leben.

58 Prozent der Befrag­ten, die von einer psychi­schen Erkran­kung betrof­fen waren, sagen, dass sie ohne die Betreu­ung durch Menschen aus ihrem sozia­len Umfeld eher oder klar zusätz­li­che Unter­stüt­zung benö­tigt hätten. Für die Betreu­en­den kann die Situa­tion inten­siv sein und viel Zeit bean­spru­chen. Kann die Gesell­schaft diese Menschen stär­ker unterstützen? 

Das Beiste­hen und die Betreu­ungs­ar­beit der Ange­hö­ri­gen sind für die Betrof­fe­nen zentral. Ange­hö­rige sind system­re­le­vant. Und auch das zeigt unsere Studie: 96 Prozent der Menschen mit einer psychi­schen Erkran­kung sehen die Unter­stüt­zung durch Ange­hö­rige und Vertrau­ens­per­so­nen als wich­tig an. Es braucht ein gemein­sa­mes Grund­ver­ständ­nis aller Akteure in der psych­ia­tri­schen Versor­gung. Wir haben in unse­rem Land hervor­ra­gende Fach­leute in der Pflege, im psycho­lo­gi­schen, psych­ia­tri­schen sowie sozia­len Fach. Wir verfü­gen über Ressour­cen und den Anspruch, die Dinge gut zu machen. Wir müssen alles, was wir haben, in die Waag­schale werfen, um die Versor­gungs­krise für Menschen in psychi­schen Krisen abzu­wen­den. Wegschauen oder Klein­re­den befeu­ert die Not von Betrof­fe­nen wie Ange­hö­ri­gen. Hinschauen ist bei diesem Thema ein gesell­schaft­li­ches Muss. 

Was bietet der Verein Stand by You?

Wir sind die Dach­or­ga­ni­sa­tion der Ange­hö­ri­gen­be­we­gung, die heute primär aus regio­na­len Ange­hö­ri­gen­or­ga­ni­sa­tio­nen besteht. Unser Name ist Programm: Wir wollen unse­ren erkrank­ten Ange­hö­ri­gen beiste­hen – und ebenso ande­ren Ange­hö­ri­gen, die den Austausch suchen und Hilfe benö­ti­gen. Auf natio­na­ler Ebene verfol­gen wir drei Ziele: Wir wollen die Soli­da­ri­täts­netze, die Hilfs- und Weiter­bil­dungs­an­ge­bote für Ange­hö­rige und Vertraute stär­ken. Zwei­tens wollen wir die Zukunft der psych­ia­tri­schen Versor­gung in unse­rem Land mitge­stal­ten. Und als drit­tes wollen wir uns mit allen natio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen vernet­zen, die sich ihrer­seits für eine wirk­sa­mere Psych­ia­trie einset­zen. Wer bei uns mitma­chen will, ist herz­lich will­kom­men. Es gibt viel zu tun. 

Es braucht das ganze Dorf, um trag­fä­hige Lösun­gen zu finden.

Chris­tian Pfister

Für Perso­nen mit psychi­schen Erkran­kun­gen enga­gie­ren sich verschie­dene Orga­ni­sa­tio­nen. Wie arbei­tet der Verein mit diesen zusammen? 

In den Regio­nen leis­ten die Kolle­gin­nen und Kolle­gen der Ange­hö­ri­gen­be­we­gung viel wert­volle Arbeit und sind auch gut vernetzt mit ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen. Auf natio­na­ler Ebene haben wir etwas Nach­hol­be­darf und sind daran, unsere Netz­werke zu stär­ken. Denn allein können wir die gros­sen Heraus­for­de­run­gen nicht lösen. Es braucht das ganze Dorf, um trag­fä­hige Lösun­gen zu finden.

Wo enga­giert sich der Verein auch politisch?

Vor 25 Jahren schlos­sen sich ein paar regio­nale Ange­hö­ri­gen­or­ga­ni­sa­tio­nen zur VASK Schweiz zusam­men. Die Ange­hö­ri­gen­be­we­gung in der Schweiz war gebo­ren. Die Orga­ni­sa­tion setzte wich­tige Impulse – und unter­stützt seit­her Ange­hö­rige schweiz­weit. Letz­tes Jahr hat die Dach­or­ga­ni­sa­tion beschlos­sen, das Erbe der VASK weiter­zu­ent­wi­ckeln, einen Neuauf­tritt und eine Öffnung zu wagen: Mit neuem Namen, neuer Website und neuem Selbst­ver­ständ­nis tritt die Orga­ni­sa­tion ab diesem Jahr unter dem Namen «Stand by You Schweiz – Ange­hö­rige und Vertraute von Menschen mit psychi­schen Erkran­kun­gen» auf. Ziele der Bewe­gung sind: Die Perspek­tive der Ange­hö­ri­gen und Vertrau­ens­per­so­nen vermehrt sicht‑, hör- und spür­bar zu machen – und einen Beitrag zu leis­ten, um die Psych­ia­trie in der Schweiz nach­hal­ti­ger, wirk­sa­mer und mensch­li­cher zu gestal­ten. Damit verbun­den ist auch der Anspruch, mit der Poli­tik in den Dialog zu gehen. Mit den Daten der Studie können wir nun die Rele­vanz des Themas ganz anders darle­gen – gute Voraus­set­zun­gen, um die poli­ti­sche Arbeit zu intensivieren.


Zur Studie und weite­ren Infor­ma­tio­nen zu Stand by You Schweiz

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