Warum hat sich der Kanton Zug entschieden, sich der Thematik der sozialen Fürsorge in einer so umfassenden Art und Weise anzunehmen?
Noch vor einigen Jahren mussten wir schlicht einen unzureichenden Kenntnisstand konstatieren, wie sich die soziale Fürsorge im Kanton Zug gestaltete. Auch die grossen Nationalen Forschungsprojekte wie die «Unabhängige Expertenkommission administrative Versorgung UEK», bei der ich damals tätig war, wie auch das Förderprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» bezogen unseren Kanton nicht in den Untersuchungsperimeter ein. Dieser Wissenslücke stand das gesellschaftliche und auch politische Anliegen gegenüber, dieses oft zitierte «dunkle», «düstere» oder gar «schwarze Kapitel» der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, das betroffene Personen prägte, stigmatisierte und das lange tabuisiert wurde, aufzuarbeiten. Der Regierungsrat des Kantons Zug wollte genau diese Wissenslücke schliessen und die Aufarbeitung mit einem Grundlagenwerk unterstützen, das die zugerische Fürsorge insgesamt bespricht: für den Zeitraum zwischen 1850 und 1980 (mit Zeitfenstern bis heute), den gesamten Kanton mit seinem Gemeinden und Verwaltungsebenen sowie sämtliche Zielgruppen von Fürsorgemassnahmen.
Was war dabei die Rolle des Staatsarchivs Zug?
Die Gesamtprojektleitung lag in den Händen der Direktion des Innern, genauer gesagt des Kantonalen Sozialamts. Das Staatsarchiv übernahm die wissenschaftliche und archivseitige Begleitung des Forschungsprojekts und nahm Einsitz in die Begleitgruppe. Angesichts des lückenhaften Forschungsstands war es unumgänglich, dass für die Darstellung der zugerischen Fürsorge eine direkte Auseinandersetzung mit Primärquellen, dem Archivgut, stattfinden musste. Ein Grossteil der unpublizierten Behördenentscheide, wie auch das Handeln privater Akteure, ist im Staatsarchiv des Kantons Zug sowie in den kommunalen Archiven oder bei Privaten zu finden. In unserem Haus wurden die überlieferten Quellen schon vor Beginn der Untersuchung archivisch aufbereitet; das bedeutet gesichert, verzeichnet und zugänglich gemacht. Zudem erarbeiteten wir Grundlagen, die einen schnellen Einstieg in das Thema ermöglichten. Als die Forschenden in unseren Lesesaal kamen, konnten wir sie beraten, ihnen die gewünschten Informationen vorlegen und in logistischer Hinsicht Hilfe bieten. Diese Funktion als «Lesesaal» übernahmen wir teilweise auch für Gemeindearchive, die über keine entsprechende Infrastruktur verfügten.
Wie gut ist die Quellenlage?
Die Quellenlage gestaltet sich, wie in anderen Kantonen vergleichbar, sehr unterschiedlich. Das Schriftgut von kantonalen Behörden und Stellen fand Eingang in das Staatsarchiv, da eine Anbietepflicht bestand (ähnliches gilt für die kommunale Stufe), es treten aber auch hier Lücken auf. Private Träger der sozialen Fürsorge waren an keine solche Pflicht gebunden, die archivische Überlieferung von diesen zentralen Playern ist teilweise sehr gut, teilweise nur auf das Rechnungswesen beschränkt und teilweise leider inexistent. Gerade bei betroffenen Personen, die auf Wurzelsuche sind, löst diese Überlieferungssituation verständlicherweise Irritationen aus. Die Forschenden stiessen in den Akten auf Menschen und ihre Schicksale, die in Amtsstuben und Fürsorgebüros sich in «Fälle verwandelten». Festgehalten in Dossiers und Statistiken werden diese Zeitzeugnisse in Archiven der Nachwelt überliefert. Dabei erzählen die Schriftstücke meist mehr über diejenigen, die sie aufsetzten, als über diejenigen, von denen sie handeln. Wir erhalten Einblick in die Werthaltungen und Handlungsweisen der Verwaltenden und wie sie aus ihrer Zeit heraus mit Bedürftigen umgingen. Um die schriftliche Überlieferung der Entscheidungstragenden mit Informationen von Betroffenen zu ergänzen, schuf das Forschungsteam als zusätzliche Quellengattung Zeitzeugeninterviews. Sowohl die Quellenarbeit der Forschenden, als auch die Gespräche mit betroffenen Personen fanden mehrheitlich im Staatsarchiv statt.
Marienstatue aus Menzingen in der Ausstellung des Staatsarchivs.
Was war die Herausforderung bei Ihrer Forschungsarbeit?
Eingangs muss ich festhalten, dass die Mitarbeitenden des Staatsarchivs keine Forschung betrieben, dies war die Aufgabe des Teams um Dr. Thomas Meier. Die Herausforderungen lagen im breiten Forschungsansatz, den es in dieser Form noch in keinem Kanton gab: Die Erforschung der gesamten zugerischen Forschungslandschaft, sämtlicher Fürsorgemassnahmen und über einen sehr grossen Untersuchungszeitraum erforderte die Erarbeitung und Vermittlung von Kontextwissen, ein profundes Aktenstudium – nicht nur im Staatsarchiv, sondern auch in den kommunalen Archiven – sowie ein funktionales Konzept, wie diese vielen Erkenntnisse in Buchform an die Leserschaft zu richten ist. Meines Erachtens haben die Forschenden diese Herausforderung mit Bravour gemeistert und in diesem Themenbereich das Grundlagenwerk geschaffen.
Sind die Forschenden fündig geworden? Gab es forschungsrelevante und unpublizierte Informationen?
Das Forschungsteam untersuchte über einen Zeitraum von drei Jahren die Bestände in den verschiedenen Archiven und beantworteten auf Grundlage der schriftlichen Quellen und der Zeitzeugeninterviews ihre Forschungsfragen. Doch selbst sie konnten nicht alles konsultieren: Nach wie vor gibt es Archivalien, die einer Auswertung noch harren. Es würde mich sehr freuen, wenn weiterhin Forschung zur sozialen Fürsorge im Kanton Zug betrieben würde. Mit dem im Chronos-Verlag erschienenen Grundlagenwerk «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen» werden mögliche Wege zur Vertiefung von Inhalten oder auch nach wie vor bestehende Lücken aufgezeigt. Genau hier könnte also das Bild unserer Vergangenheit noch durch zusätzliche Forschungsarbeit geschärft werden.
Was hat Sie selber am meisten überrascht?
Mich überraschte, wie vielseitig die Antwort auf dieselbe eine Ursache «Armut» ausfallen konnte: von niederschwelliger Unterstützung innerhalb des Familien- oder Nachbarschaftsverbands, über philanthropische und sozial-karitative Körperschaften bis hin zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Darüber hinaus, wie sich die Armut selbst und der stark moralisierende Blick auf sie über den Untersuchungszeitraum wandelte. Bis weit ins 19. Jahrhundert war Armut Ausdruck eines Mangels an alltäglichen Gütern und Nahrungsmitteln. In einer durch die Industrialisierung und einen starken Bevölkerungswachstum gezeichneten Gesellschaft wandelte sich diese hin zu Auswirkungen von Einkommensschwäche, sozialer Marginalisierung und fehlenden Sozialsystemen bei Krankheit, Alter und Invalidität. Die Unterscheidung zwischen «würdigen und unwürdigen» resp. zwischen «unverschuldeten» Armen wie Waisen oder Witwen und «selbstverschuldeten» wie «Trinker», «Liederliche», «Arbeitsscheue», «Bettler und Vaganten» war folgenreich: Im Kanton Zug wurde eine Reihe von repressiven Gesetzen geschaffen, um gerade letztere durch Bettelverbote, Einweisungen in Armenhäuser und Ehrverluste zu disziplinieren. Diese Behördenentscheide und auch die Heimeinweisung, sprich die damaligen Rahmenbedingungen, waren nicht unumstritten. Wie aus den Quellen hervorgeht, wurden kritische Stimmen aber oftmals nicht gehört – das macht betroffen und verdeutlicht die Wichtigkeit von stetem offenem Dialog und führt nicht zuletzt auch zur Frage, wo wir heute stehen.
Die Unterscheidung zwischen «würdigen und unwürdigen» resp. zwischen «unverschuldeten» Armen wie Waisen oder Witwen und «selbstverschuldeten» wie «Trinker», «Liederliche», «Arbeitsscheue», «Bettler und Vaganten» war folgenreich.
Ernst Guggisberg, Staatsarchivar Zug
Was erwartet die Besucher:in in der Kabinettausstellung?
Mit der Publikation des Grundlagenwerks wurde eine wichtige Basis für die Darstellung der sozialen Fürsorge im Kanton Zug geschaffen. Als eine der Vermittlungsmassnahmen aus dem Forschungsvorhaben zeigt das Staatsarchiv bis am 20. Oktober 2023 eine Kabinettausstellung. Im Lesesaal werden Zeitzeugnisse zu den Themen Armut, fürsorgerische Zwangsmassnahmen, Heime und Sanatorien ausgestellt. Dabei handelt es sich um einen kleinen Teil der vielen Quellen, die das Forschungsteam im Buch ausgewertet hat. Ergänzt wird die Ausstellung durch elf vertonte Interviews, die das Spektrum der zugerischen sozialen Fürsorge auf einzigartige Weise aufzeigen. Besonders faszinieren unsere Besucher:innen die Faksimiles von Schriftstücken, die Einblick in Verwaltungshandeln bieten. In der Ausstellung liegt zudem ein «Gästebuch» auf, in dem Eindrücke, Fragen, Anregungen und Aussagen zur Ausstellung selbst oder der sozialen Fürsorge allgemein gesammelt und anschliessend an den Regierungsrat übergeben werden. Das Staatsarchiv des Kantons Zug hat übrigens selbst einen unmittelbaren Bezug zur Geschichte des Zuger Fürsorgewesens, steht es doch an derselben Stelle, wie das 1908 für Patienten mit ansteckenden Krankheiten errichtete Absonderungshaus. Nach dessen Schliessung diente die Anstalt zuerst als Männerheim, danach Zwecken des kantonalen Werkhofs. 1988 wurden die Gebäude abgerissen, um dem Grossprojekt eines kantonalen Verwaltungs- und Gerichtszentrums Platz zu machen. Am Ort des heutigen Lesesaals, genau wo die Kabinettausstellung «fürsorgen, vorsorgen, versorgen» das Fenster in die Vergangenheit öffnet, befand sich vormals ein Krankensaal.
Ausstellung im Staatstarchiv Zug mit Hörstation, Bild: Jeannine Lütolf
Neben der Kabinettausstellung finden auch Dialogveranstaltungen statt, um mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten?
Was ist in der Veranstaltung vom 22. August 2023 zu erwarten?
Im Siehbachsaal des ehemaligen Armenhauses der Bürgergemeinde der Stadt Zug findet am 22. August 2023 um 19.00 Uhr die vierte und letzte Dialogveranstaltung zum Thema «Unterstützen, schützen, handeln» – Erwachsenenschutz statt. Früher wurden Erwachsene oft unter fürsorgerische Massnahmen gestellt, um die Gesellschaft vor ihrem Verhalten zu schützen. In der Dialogveranstaltung wird der Frage nachgegangen, wie das heute aussieht, wann das Eingreifen der KESB nötig ist, und wie unsere heutige Gesellschaft auf Menschen mit sozialen oder psychischen Problemen reagiert. Im Anschluss an die Veranstaltung besteht die Gelegenheit, sich mit Fachpersonen auszutauschen und über die Soziale Fürsorge der Gegenwart und der Zukunft zu diskutieren.
Bemerkung der Redaktion: Sugimoto Consulting, hat die Vermittlung der Studie kommunikativ begleitet.