Ernst Guggisberg, Staatsarchivar Zug, Bild: Nora Nussbaumer

Staats­ar­chiv Zug: Ausstel­lung zur Geschichte der sozia­len Fürsorge

Im November 2022 hat der Kanton Zug eine umfassende Studie zur sozialen Fürsorge veröffentlicht. Um die Erkenntnisse daraus der Bevölkerung zu vermitteln, will sich der Kanton mit ihr austauschen. Im Staatsarchiv Zug können Interessierte das Thema noch bis zum 20. Oktober 2023 in einer Ausstellung oder an einer Führung vertiefen. Und am 22. August 2023 findet die vierte und letzte Dialogveranstaltung im Siehbachsaal statt. Das Thema: Erwachsenenschutz. The Philanthropist hat sich zur Ausstellung mit dem Staatsarchivar Ernst Guggisberg ausgetauscht.

Warum hat sich der Kanton Zug entschie­den, sich der Thema­tik der sozia­len Fürsorge in einer so umfas­sen­den Art und Weise anzunehmen?

Noch vor eini­gen Jahren muss­ten wir schlicht einen unzu­rei­chen­den Kennt­nis­stand konsta­tie­ren, wie sich die soziale Fürsorge im Kanton Zug gestal­tete. Auch die gros­sen Natio­na­len Forschungs­pro­jekte wie die «Unab­hän­gige Exper­ten­kom­mis­sion admi­nis­tra­tive Versor­gung UEK», bei der ich damals tätig war, wie auch das Förder­pro­gramm 76 «Fürsorge und Zwang» bezo­gen unse­ren Kanton nicht in den Unter­su­chungs­pe­ri­me­ter ein. Dieser Wissens­lü­cke stand das gesell­schaft­li­che und auch poli­ti­sche Anlie­gen gegen­über, dieses oft zitierte «dunkle», «düstere» oder gar «schwarze Kapi­tel» der fürsor­ge­ri­schen Zwangs­mass­nah­men, das betrof­fene Perso­nen prägte, stig­ma­ti­sierte und das lange tabui­siert wurde, aufzu­ar­bei­ten. Der Regie­rungs­rat des Kantons Zug wollte genau diese Wissens­lü­cke schlies­sen und die Aufar­bei­tung mit einem Grund­la­gen­werk unter­stüt­zen, das die zuge­ri­sche Fürsorge insge­samt bespricht: für den Zeit­raum zwischen 1850 und 1980 (mit Zeit­fens­tern bis heute), den gesam­ten Kanton mit seinem Gemein­den und Verwal­tungs­ebe­nen sowie sämt­li­che Ziel­grup­pen von Fürsorgemassnahmen.

Was war dabei die Rolle des Staats­ar­chivs Zug? 

Die Gesamt­pro­jekt­lei­tung lag in den Händen der Direk­tion des Innern, genauer gesagt des Kanto­na­len Sozi­al­amts. Das Staats­ar­chiv über­nahm die wissen­schaft­li­che und archiv­sei­tige Beglei­tung des Forschungs­pro­jekts und nahm Einsitz in die Begleit­gruppe. Ange­sichts des lücken­haf­ten Forschungs­stands war es unum­gäng­lich, dass für die Darstel­lung der zuge­ri­schen Fürsorge eine direkte Ausein­an­der­set­zung mit Primär­quel­len, dem Archiv­gut, statt­fin­den musste. Ein Gross­teil der unpu­bli­zier­ten Behör­den­ent­scheide, wie auch das Handeln priva­ter Akteure, ist im Staats­ar­chiv des Kantons Zug sowie in den kommu­na­len Archi­ven oder bei Priva­ten zu finden. In unse­rem Haus wurden die über­lie­fer­ten Quel­len schon vor Beginn der Unter­su­chung archi­visch aufbe­rei­tet; das bedeu­tet gesi­chert, verzeich­net und zugäng­lich gemacht. Zudem erar­bei­te­ten wir Grund­la­gen, die einen schnel­len Einstieg in das Thema ermög­lich­ten. Als die Forschen­den in unse­ren Lese­saal kamen, konn­ten wir sie bera­ten, ihnen die gewünsch­ten Infor­ma­tio­nen vorle­gen und in logis­ti­scher Hinsicht Hilfe bieten. Diese Funk­tion als «Lese­saal» über­nah­men wir teil­weise auch für Gemein­de­ar­chive, die über keine entspre­chende Infra­struk­tur verfügten.

Wie gut ist die Quellenlage?

Die Quel­len­lage gestal­tet sich, wie in ande­ren Kanto­nen vergleich­bar, sehr unter­schied­lich. Das Schrift­gut von kanto­na­len Behör­den und Stel­len fand Eingang in das Staats­ar­chiv, da eine Anbie­te­pflicht bestand (ähnli­ches gilt für die kommu­nale Stufe), es treten aber auch hier Lücken auf. Private Träger der sozia­len Fürsorge waren an keine solche Pflicht gebun­den, die archi­vi­sche Über­lie­fe­rung von diesen zentra­len Play­ern ist teil­weise sehr gut, teil­weise nur auf das Rech­nungs­we­sen beschränkt und teil­weise leider inexis­tent. Gerade bei betrof­fe­nen Perso­nen, die auf Wurzel­su­che sind, löst diese Über­lie­fe­rungs­si­tua­tion verständ­li­cher­weise Irri­ta­tio­nen aus. Die Forschen­den sties­sen in den Akten auf Menschen und ihre Schick­sale, die in Amts­stu­ben und Fürsor­ge­bü­ros sich in «Fälle verwan­del­ten». Fest­ge­hal­ten in Dossiers und Statis­ti­ken werden diese Zeit­zeug­nisse in Archi­ven der Nach­welt über­lie­fert. Dabei erzäh­len die Schrift­stü­cke meist mehr über dieje­ni­gen, die sie aufsetz­ten, als über dieje­ni­gen, von denen sie handeln. Wir erhal­ten Einblick in die Wert­hal­tun­gen und Hand­lungs­wei­sen der Verwal­ten­den und wie sie aus ihrer Zeit heraus mit Bedürf­ti­gen umgin­gen. Um die schrift­li­che Über­lie­fe­rung der Entschei­dungs­tra­gen­den mit Infor­ma­tio­nen von Betrof­fe­nen zu ergän­zen, schuf das Forschungs­team als zusätz­li­che Quel­len­gat­tung Zeit­zeu­gen­in­ter­views. Sowohl die Quel­len­ar­beit der Forschen­den, als auch die Gesprä­che mit betrof­fe­nen Perso­nen fanden mehr­heit­lich im Staats­ar­chiv statt.

Mari­en­sta­tue aus Menzin­gen in der Ausstel­lung des Staatsarchivs.

Was war die Heraus­for­de­rung bei Ihrer Forschungsarbeit?

Eingangs muss ich fest­hal­ten, dass die Mitar­bei­ten­den des Staats­ar­chivs keine Forschung betrie­ben, dies war die Aufgabe des Teams um Dr. Thomas Meier. Die Heraus­for­de­run­gen lagen im brei­ten Forschungs­an­satz, den es in dieser Form noch in keinem Kanton gab: Die Erfor­schung der gesam­ten zuge­ri­schen Forschungs­land­schaft, sämt­li­cher Fürsor­ge­mass­nah­men und über einen sehr gros­sen Unter­su­chungs­zeit­raum erfor­derte die Erar­bei­tung und Vermitt­lung von Kontext­wis­sen, ein profun­des Akten­stu­dium – nicht nur im Staats­ar­chiv, sondern auch in den kommu­na­len Archi­ven – sowie ein funk­tio­na­les Konzept, wie diese vielen Erkennt­nisse in Buch­form an die Leser­schaft zu rich­ten ist. Meines Erach­tens haben die Forschen­den diese Heraus­for­de­rung mit Bravour gemeis­tert und in diesem Themen­be­reich das Grund­la­gen­werk geschaffen.

Sind die Forschen­den fündig gewor­den? Gab es forschungs­re­le­vante und unpu­bli­zierte Informationen?

Das Forschungs­team unter­suchte über einen Zeit­raum von drei Jahren die Bestände in den verschie­de­nen Archi­ven und beant­wor­te­ten auf Grund­lage der schrift­li­chen Quel­len und der Zeit­zeu­gen­in­ter­views ihre Forschungs­fra­gen. Doch selbst sie konn­ten nicht alles konsul­tie­ren: Nach wie vor gibt es Archi­va­lien, die einer Auswer­tung noch harren. Es würde mich sehr freuen, wenn weiter­hin Forschung zur sozia­len Fürsorge im Kanton Zug betrie­ben würde. Mit dem im Chro­nos-Verlag erschie­ne­nen Grund­la­gen­werk «Fürsor­gen, vorsor­gen, versor­gen» werden mögli­che Wege zur Vertie­fung von Inhal­ten oder auch nach wie vor bestehende Lücken aufge­zeigt. Genau hier könnte also das Bild unse­rer Vergan­gen­heit noch durch zusätz­li­che Forschungs­ar­beit geschärft werden.

Was hat Sie selber am meis­ten überrascht?

Mich über­raschte, wie viel­sei­tig die Antwort auf dieselbe eine Ursa­che «Armut» ausfal­len konnte: von nieder­schwel­li­ger Unter­stüt­zung inner­halb des Fami­lien- oder Nach­bar­schafts­ver­bands, über phil­an­thro­pi­sche und sozial-kari­ta­tive Körper­schaf­ten bis hin zu den fürsor­ge­ri­schen Zwangs­mass­nah­men. Darüber hinaus, wie sich die Armut selbst und der stark mora­li­sie­rende Blick auf sie über den Unter­su­chungs­zeit­raum wandelte. Bis weit ins 19. Jahr­hun­dert war Armut Ausdruck eines Mangels an alltäg­li­chen Gütern und Nahrungs­mit­teln. In einer durch die Indus­tria­li­sie­rung und einen star­ken Bevöl­ke­rungs­wachs­tum gezeich­ne­ten Gesell­schaft wandelte sich diese hin zu Auswir­kun­gen von Einkom­mens­schwä­che, sozia­ler Margi­na­li­sie­rung und fehlen­den Sozi­al­sys­te­men bei Krank­heit, Alter und Inva­li­di­tät. Die Unter­schei­dung zwischen «würdi­gen und unwür­di­gen» resp. zwischen «unver­schul­de­ten» Armen wie Waisen oder Witwen und «selbst­ver­schul­de­ten» wie «Trin­ker», «Lieder­li­che», «Arbeits­scheue», «Bett­ler und Vagan­ten» war folgen­reich: Im Kanton Zug wurde eine Reihe von repres­si­ven Geset­zen geschaf­fen, um gerade letz­tere durch Bettel­ver­bote, Einwei­sun­gen in Armen­häu­ser und Ehrver­luste zu diszi­pli­nie­ren. Diese Behör­den­ent­scheide und auch die Heim­einwei­sung, sprich die dama­li­gen Rahmen­be­din­gun­gen, waren nicht unum­strit­ten. Wie aus den Quel­len hervor­geht, wurden kriti­sche Stim­men aber oftmals nicht gehört – das macht betrof­fen und verdeut­licht die Wich­tig­keit von stetem offe­nem Dialog und führt nicht zuletzt auch zur Frage, wo wir heute stehen.

Die Unter­schei­dung zwischen «würdi­gen und unwür­di­gen» resp. zwischen «unver­schul­de­ten» Armen wie Waisen oder Witwen und «selbst­ver­schul­de­ten» wie «Trin­ker», «Lieder­li­che», «Arbeits­scheue», «Bett­ler und Vagan­ten» war folgenreich.

Ernst Guggis­berg, Staats­ar­chi­var Zug

Was erwar­tet die Besucher:in in der Kabinettausstellung?

Mit der Publi­ka­tion des Grund­la­gen­werks wurde eine wich­tige Basis für die Darstel­lung der sozia­len Fürsorge im Kanton Zug geschaf­fen. Als eine der Vermitt­lungs­mass­nah­men aus dem Forschungs­vor­ha­ben zeigt das Staats­ar­chiv bis am 20. Okto­ber 2023 eine Kabi­nett­aus­stel­lung. Im Lese­saal werden Zeit­zeug­nisse zu den Themen Armut, fürsor­ge­ri­sche Zwangs­mass­nah­men, Heime und Sana­to­rien ausge­stellt. Dabei handelt es sich um einen klei­nen Teil der vielen Quel­len, die das Forschungs­team im Buch ausge­wer­tet hat. Ergänzt wird die Ausstel­lung durch elf vertonte Inter­views, die das Spek­trum der zuge­ri­schen sozia­len Fürsorge auf einzig­ar­tige Weise aufzei­gen. Beson­ders faszi­nie­ren unsere Besucher:innen die Faksi­mi­les von Schrift­stü­cken, die Einblick in Verwal­tungs­han­deln bieten. In der Ausstel­lung liegt zudem ein «Gäste­buch» auf, in dem Eindrü­cke, Fragen, Anre­gun­gen und Aussa­gen zur Ausstel­lung selbst oder der sozia­len Fürsorge allge­mein gesam­melt und anschlies­send an den Regie­rungs­rat über­ge­ben werden. Das Staats­ar­chiv des Kantons Zug hat übri­gens selbst einen unmit­tel­ba­ren Bezug zur Geschichte des Zuger Fürsor­ge­we­sens, steht es doch an dersel­ben Stelle, wie das 1908 für Pati­en­ten mit anste­cken­den Krank­hei­ten errich­tete Abson­de­rungs­haus. Nach dessen Schlies­sung diente die Anstalt zuerst als Männer­heim, danach Zwecken des kanto­na­len Werk­hofs. 1988 wurden die Gebäude abge­ris­sen, um dem Gross­pro­jekt eines kanto­na­len Verwal­tungs- und Gerichts­zen­trums Platz zu machen. Am Ort des heuti­gen Lese­saals, genau wo die Kabi­nett­aus­stel­lung «fürsor­gen, vorsor­gen, versor­gen» das Fens­ter in die Vergan­gen­heit öffnet, befand sich vormals ein Krankensaal.

Ausstel­lung im Staat­s­tar­chiv Zug mit Hörsta­tion, Bild: Jean­nine Lütolf

Neben der Kabi­nett­aus­stel­lung finden auch Dialog­ver­an­stal­tun­gen statt, um mit der Bevöl­ke­rung in Kontakt zu treten?

Was ist in der Veran­stal­tung vom 22. August 2023 zu erwarten?

Im Sieh­bach­saal des ehema­li­gen Armen­hau­ses der Bürger­ge­meinde der Stadt Zug findet am 22. August 2023 um 19.00 Uhr die vierte und letzte Dialog­ver­an­stal­tung zum Thema «Unter­stüt­zen, schüt­zen, handeln» – Erwach­se­nen­schutz statt. Früher wurden Erwach­sene oft unter fürsor­ge­ri­sche Mass­nah­men gestellt, um die Gesell­schaft vor ihrem Verhal­ten zu schüt­zen. In der Dialog­ver­an­stal­tung wird der Frage nach­ge­gan­gen, wie das heute aussieht, wann das Eingrei­fen der KESB nötig ist, und wie unsere heutige Gesell­schaft auf Menschen mit sozia­len oder psychi­schen Proble­men reagiert. Im Anschluss an die Veran­stal­tung besteht die Gele­gen­heit, sich mit Fach­per­so­nen auszu­tau­schen und über die Soziale Fürsorge der Gegen­wart und der Zukunft zu diskutieren.

Bemer­kung der Redak­tion: Sugi­moto Consul­ting, hat die Vermitt­lung der Studie kommu­ni­ka­tiv begleitet.

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