Sie feiern das Zehn-Jahre-Jubiläum. Was gab den Ausschlag zur Gründung des Fördervereins KMSK?
Als ich eine Familie kennenlernte, deren Kind eine seltene Krankheit hatte, begann ich mich vermehrt mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Bestürzt musste ich feststellen, dass es dafür weder eine Lobby in Bern noch genügend Sensibilisierung in der Öffentlichkeit gab – obwohl rund 350’000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz betroffen sind! Mir fiel auf, dass anlässlich des Internationalen Tages der seltenen Erkrankungen, die Thematik mediale Aufmerksamkeit erhielt, aber kurz danach abebbte. Um jedoch eine nachhaltige Wirkung erzielen zu können, bedarf es einer konstanten Sensibilisierung und Information der breiten Öffentlichkeit und der Politik. Nach weiteren Gesprächen mit betroffenen Familien, entschied ich, den Förderverein ins Leben zu rufen, der die Probleme konkret anspricht, bewegt und die Familien nach aussen vertritt.
Um eine nachhaltige Wirkung erzielen zu können, bedarf es einer konstanten Sensibilisierung und Information der breiten Öffentlichkeit und der Politik.
Manuela Stier, Gründerin Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten KMSK
Wir begleiten Familien bis zum Ende des 17. Lebensjahres des betroffenen Kindes. Als ich den gemeinnützigen Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten am 20. Februar 2014 gründete, hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, dass es uns gelingen würde, in dieser Zeit so viel zu bewegen! Durch unsere Arbeit konnten wir die Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit und der Politik massgeblich vorantreiben. Die schweizweit rund 350’000 Kinder und Jugendliche, die von einer seltenen Krankheit betroffen sind, haben durch unsere Massnahmen endlich ein Gesicht und ein Sprachrohr erhalten.
Wie hat sich die Wahrnehmung für das Thema in diesem Jahrzehnt verändert? Am 29. Februar ist der internationale Tag der seltenen Krankheiten. Wie sensibel ist die Politik für das Thema?
Alle Projekte, die wir angehen, werden auf die Bedürfnisse der betroffenen Familien ausgerichtet und müssen eine nachhaltige Wirkung erzielen. Von Beginn an verfolgen wir eine klare Strategie – Familien finanziell unterstützen, Familien verbinden und den Wissenstransfer fördern. Die kontinuierliche Weiterentwicklung dieser drei Fokusthemen ist nur dank dem engen Austausch mit unseren KMSK Familien und Fachpersonen möglich. Projekte, wie die sechs KMSK Wissensbücher Seltene Krankheiten, die digitale KMSK Wissensplattform Seltene Krankheiten und das jährliche KMSK Wissens-Forum Seltene Krankheiten sind aus konkreten Bedürfnissen betroffener Familien entstanden.
Ziel ist es, dass möglichst viele Personen einen persönlichen oder beruflichen Nutzen daraus ziehen können. Konsequent treiben wir seit der Gründung des Fördervereins am 20. Februar 2014 den nachhaltig wirkenden Wissenstransfer zum Thema Seltene Krankheiten schweizweit voran. Um diesen beständigen Effekt erzielen zu können, bedarf es einer konstanten Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit und der Politik. Mit unseren Sensibilisierungskampagnen erreichen wir an hunderten von Touchpoints ein Millionenpublikum in der ganzen Schweiz. Dank der erreichten Themenführerschaft im Bereich Kinder mit seltenen Krankheiten und der erfolgreichen Positionierung in der Fachwelt, richtet sich die Aufmerksamkeit nicht nur am Internationalen Tag der seltenen Krankheiten auf die Thematik, sondern wirkt das ganze Jahr.
Was waren die grössten Erfolge des KMSK?
Seit 2014 durften wir betroffene Familien mit rund drei Millionen Franken für Spezialtherapien, Mobilität, Hilfsmittel und Unterstützungsleistungen unterstützen und über 10‘000 kleine und grosse Gäste an unseren kostenlosen KMSK Familien-Events begrüssen. Zudem zählen mittlerweile 830 Familien zu unserem nationalen Netzwerk. Gemeinsam konnten wir sowohl gesellschaftlich als auch politisch ein tieferes Verständnis für das Thema schaffen. Die erste digitale KMSK Wissensplattform Seltene Krankheiten bietet wichtige Informationen in deutsch, französisch, italienisch und englisch. Sie ist Anlaufstellen für betroffene Familien, Fachpersonen und Politikschaffende in einer übersichtlichen Darstellung. Zudem konnten wir erreichen, dass Genetiker:innen unsere KMSK Wissensbücher Seltene Krankheiten nach einer Diagnose den betroffenen Familien abgeben. Somit haben diese eine direkte Anlaufstelle und eine Gemeinschaft, die sie auf ihrem schwierigen neuen Lebensweg begleitet.
Ohne die Unterstützung von langjährigen Partner:innen wäre es uns nicht möglich, unsere Zielsetzung, schweizweit zu informieren und zu sensibilisieren, zu erreichen. Ihre Beiträge sind von entscheidender Bedeutung für den Erfolg unserer Themenführerschaft für seltene Krankheiten.
Mein Dank gilt aber natürlich auch dem Vorstand des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten, der mich tatkräftig unterstützt. Der Förderverein ist wie eine Stiftung aufgestellt, wobei ich als Geschäftsführerin nicht Teil des Vorstandes bin. Dadurch wird unsere Neutralität gewahrt.
Auch Ihr Magazin ist soeben erschienen. Ist es eine spezielle Jubiläumsausgabe?
In unserem neuen KMSK Magazin SELFCARE Seltene Krankheiten, erste Ausgabe März 2024, ermöglichen wir der Leserschaft einen tieferen Einblick in unsere tägliche Arbeit. Es ist ein neues Instrument, um unsere Dialoggruppen anzusprechen und ihnen zu zeigen, was unsere 830 KMSK Familien bewegt. Zudem wollen wir erlebbar machen, wie betroffene Familien, Ärzt:innen, Mitarbeiterinnen und Gönner:innen die Arbeit des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten wahrnehmen und unterstützen. Das Magazin zeigt das breite und vielfältige Engagement des Fördervereins.
Wissen mindert Ängste, sensibilisiert und befähigt Eltern, selbstbewusst und auf Augenhöhe mit Fachleuten zu kommunizieren.
Manuela Stier
Vor einem Jahr hatte eine neue Verordnung der Invalidenversicherung IV dazu geführt, dass die IV gewisse Leistungen für Kinder mit Geburtsgebrechen nicht mehr übernahm. Wie ist die Situation heute?
Die Verordnungsänderung führte dazu, dass nur noch auf der MiGeL, Mittel- und Gegenständeliste, gelistete Behandlungsgeräte vergütet werden. Nach politischem Engagement wurde die Versorgungslücke thematisiert. Die IV kündigte vorübergehend die Vergütung von Zusatzkosten an. Ein Runder Tisch mit Stakeholdern wurde gestartet, und vorerst gibt es keine Überarbeitung der MiGeL, sondern eine Rückkehr zur bisherigen pragmatischen Vergütungslösung.
Für die nächsten zehn Jahre: Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?
Nach wie vor müssen betroffene Familien nachhaltig entlastet und nicht zusätzlich belastet werden! Die Familien sollen sich auf ihrem Lebensweg ernst genommen fühlen und nicht allein gelassen oder belächelt werden. Der Förderverein wird auch in Zukunft eine wichtige Anlaufstelle für betroffene und neubetroffene Familien sein. Er wird sich mit aller Kraft für deren Anliegen einsetzen. Sie sollen sich auch zukünftig auf uns verlassen und uns vertrauen können. Mit unseren Kommunikationsmassnahmen werden wir weiterhin die breite Öffentlichkeit zum Thema Seltene Krankheiten sensibilisieren und den Wissenstransfer zwischen Familien und Fachpersonen vermehrt forcieren. Wissen mindert Ängste, sensibilisiert und befähigt Eltern, selbstbewusst und auf Augenhöhe mit Fachleuten zu kommunizieren. Der Fokus beim Wissenstransfer wird auch verstärkt auf Auszubildende gelegt.