Mitte April hat die NZZ am Sonntag berichtet, dass die IV Leistungen für schwer kranke Kinder gestrichen hat. Nun hat das Bundesamt für Sozialversicherungen reagiert und will die Verordnung möglichst schnell anpassen. Hatten Sie bereits Anfragen von betroffenen Familien erhalten?
Das Entsetzen und das Unverständnis waren enorm gross. Die Reaktionen waren: «Mein Gott das darf doch nicht wahr sein. Haben wir nicht schon genug andere Probleme» oder «Am 10. März postete der Bundesrat auf dem offiziellen Instagram Kanal ein Video von Alain Berset, wie er sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt! Das ist doch blanker Hohn!»
Wie gehen Sie nun mit diesen Anfragen um?
Wir pflegen mit unseren rund 765 KMSK Familien einen regen Austausch und konnten diesen zum Glück schnell mitteilen, dass es nun eine Übergangslösung gibt. Aber eben: Dies ist nur eine Übergangslösung.
Ansonsten sind die Familien auf Goodwill angewiesen und müssen ständig für Unterstützung kämpfen.
Manuela Stier, Gründerin und Geschäftsführerin KMSK
Das Bundesamt hat schnell reagiert. Dennoch, was bedeutet ein solcher Entscheid für die betroffenen Familien?
Der Aufschrei war laut: «Wir haben das Geld nicht, um dies selber zu bezahlen!» Uns ist schon lange bewusst, dass nur Aufklärung hilft und so generieren wir seit 2018 die KMSK Wissensbücher über Seltene Krankheiten. In diesen kommen jeweils 17 betroffene Familien und Fachpersonen zu Wort. Die Sensibilisierung und Information ist enorm wichtig und hilft den Familien, dies konnte man bei diesem Entscheid Eins zu Eins erleben.
Was sind die Möglichkeiten für betroffene Familien, wenn die IV eine Leistung nicht übernimmt?
In solchen Fällen helfen oft Angehörige, aber auch Stiftungen und der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten. Zudem empfehlen wir betroffenen Familien, sich bei Procap Schweiz anzumelden. Sie hilft bei einem Rechtsstreit mit der IV oder der Krankenkasse.
Kennen Sie ähnliche Fälle, in welchen eine Verordnungs- oder Gesetzesänderung zu einem Streichen von Leistungen geführt hat, vielleicht auch unbeabsichtigt?
Leider ja, die IV hat bei einem unserer betroffenen Kindern, das keine Diagnose hat, die Kosten für die Hilfsmittel nach dem zweiten Lebensjahr nicht mehr übernommen. Dies ist übrigens so im Gesetzt festgelegt und darauf beruft sich die IV Stelle.
Sehen Sie Möglichkeiten, wie zukünftig Streichungen notwendiger Leistungen verhindert werden können?
Es liegt an der Politik, dieses Gesetz so anzupassen, dass betroffene Familien unterstützt und nicht noch weiter belastet werden. Ansonsten sind die Familien auf Goodwill angewiesen und müssen ständig für Unterstützung kämpfen.
Wie kann sich der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten auch politisch für die Anliegen der Betroffenen einsetzen?
Wir sind seit einigen Jahren Mitglied der IG für seltene Krankheiten, welche sich auf politischer Ebene erfolgreich für die Betroffenen einsetzt. Zudem verfolgen wir seit der Gründung 2014 das Ziel, die betroffenen Familien und deren Bedürfnisse und Lebenssituation sichtbar zu machen. Wir sind das Sprachrohr für die Familien, gemeinsam konnten wir schon sehr viel bewegen und die breite Öffentlichkeit und die Politiker sensibilisieren.
Arbeiten Sie mit anderen Organisationen zusammen?
Ja, wir arbeiten sehr eng mit diversen Akteuren aus dem Gesundheits- und Ausbildungsbereich zusammen. So entstand in nur zwei Jahren auch die schweizweit erste KMSK Wissensplattform Seltene Krankheiten für betroffene Familien und Fachpersonen in vier Sprachen. Im Fokus steht der Wissenstransfer und dieser ist nicht nur für betroffene Familien relevant, sondern auch für Fachpersonen, Angehörige, Kinderspitäler, Kinderspitex, Pflegepersonen, Auszubildende, Forschung und nicht zuletzt für die Politiker.