SOS Méditerranée wird oft für ihr Engagement gelobt. Was bedeutet diese öffentliche Anerkennung für Sie?
In meinen Augen geht die Anerkennung an alle, die sich für die Seenotrettung verwenden – zum Beispiel auch an unsere Gönnerinnen und Gönner: Dank ihnen konnte SOS Méditerranée in acht Jahren 38’915 Überlebende bergen, darunter viele Babys, Kinder, unbegleitete Minderjährige und schwangere Frauen. Was SOS Méditerranée kennzeichnet: Wir sind eine rein humanitäre Organisation, die sich aus der Politik heraushält und konstruktiv auf die Staaten zugeht, damit sie das internationale Seerecht besser beachten. Und wir arbeiten professionell mit straffen Abläufen, insbesondere an Bord unseres Rettungsschiffs «Ocean Viking». Retterinnen und Retter müssen gut ausgebildet sein und diszipliniert vorgehen.
Ihr rettet Leben. Und ihr erinnert die Öffentlichkeit und Institutionen, Regierungen und Politik an die humanitäre Krise auf dem Mittelmeer. Vergisst die Öffentlichkeit diese Krise bisweilen?
Nicht immer, aber immer wieder. Die Welt durchlebt dermassen viele Krisen, derzeit erst recht.
Ein Verdrängen, weil man selbst nicht täglich dieses Leid erträgt?
Der Mensch kann nicht alles Leid rund um den Globus tragen. Niemand soll ihm vorwerfen, dass er verdrängt. Und niemand soll uns vorhalten, dass wir an die Tragödie erinnern: Im vergangenen Jahrzehnt sind rund 30’000 Menschen im Mittelmeer ertrunken – der tödlichsten Seeroute.
Wie kommunizieren Sie?
Wir sind vor Ort die ersten, oft sogar die einzigen Zeugen einer Tragödie. Das verpflichtet. Wir kommunizieren an Land, was auf hoher See geschieht: Sachlich, transparent, nahezu in Echtzeit und die Position der «Ocean Viking» ist jederzeit online ersichtlich. Wir kommunizieren nüchtern, aber wir haben starke Gefühle.
Was versteht SOS Méditerranée unter Resilienz in Bezug auf ihre Mission und ihre Aktivitäten im Mittelmeer?
Die Fähigkeit eines Menschen, trotz traumatischer Umstände ein gutes Leben zu leben. Die Besatzung der «Ocean Viking» geht an Bord, um wochenlang auf engstem Raum, ohne Privatsphäre und bei allen Wetterlagen zu arbeiten. Auf hoher See wird sie mit Tod, Verzweiflung und Gewalt konfrontiert. Doch all das ist nichts im Vergleich zu den Berichten der Überlebenden und im Massstab ihres Lebens. Wer aus einem Konfliktgebiet geflohen ist und keinen anderen Ausweg hat, als auf dem Meer sein Leben aufs Spiel zu setzen, der erfährt ein Trauma nach dem anderen. Was bleibt, ist die Würde. Und die Lebenslust. In Sicherheit, auf unserem grossen roten Schiff, erklingen dann auch mal plötzlich Stimmen, die singen.
Welche Herausforderungen und Risiken sind mit der Rettung von Migrant:innen auf See verbunden?
Zunächst einmal retten wir keine
Migrantinnen und Migranten, wir retten Menschen. Migrant ist ein Status und auf See können wir ihn sowieso nicht bestimmen. Diese Menschen sind in Not, Punkt. Doch nicht immer lässt man die «Ocean Viking» auslaufen. Unser Schiff wurde beschlagnahmt und SOS Méditerranée bedroht, man wollte uns verklagen. Aber nie gehen wir auf Konfrontationskurs. Die libysche Küstenwache hat in internationalen Gewässern drei Mal unsere Teams mit Waffen und Schüssen bedroht. Doch die Besatzung ist darauf trainiert, mit unerwarteten Situationen umzugehen. Seenotrettung besteht aus einer Kette von Entscheidungen, die in Sekundenschnelle getroffen werden und über Leben oder Tod entscheiden können, nicht nur für die Menschen in Gefahr, auch für die Teams. An Land schliesslich liegt unsere Herausforderung darin, die Mittel zu finden, um unser Schiff zu chartern und so oft wie möglich auf See zu sein. Die Treibstoffpreise schiessen in die Höhe. Heute beläuft sich unser Betriebsbudget auf rund 9 Millionen Franken. Beträchtliche Kosten, aber sie ermöglichen es uns, mit solidem Werkzeug auf See zu bleiben, um Leben zu retten.
«Wir sind vor Ort die ersten, oft sogar die einzigen Zeugen einer Tragödie. Das verpflichtet.»
Roger de Weck, Publizist und Vorstandsmitglied SOS Méditerranée
Was tut SOS Méditerranée, um die Widerstandsfähigkeit der Operationen und Teams zu stärken – hinsichtlich der politischen und rechtlichen Hindernisse?
SOS Méditerranée bemüht sich um einen Dialog mit den Behörden. Informierter Dialog ist der Schlüssel. Er hat es uns ermöglicht, so lange auf See zu bleiben, während andere gestrandet sind. Das erfordert Durchhaltevermögen, da die Behörden den Rechtsrahmen immer wieder anders auslegen. Neue Verordnungen werden erlassen. Jedes Mal haben wir unseren Auftrag, unsere internen Regeln und unser Schiff angepasst, um die zusätzlichen Anforderungen zu erfüllen. Das hat seinen Preis, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch in Sachen Stress.
Arbeitet SOS Méditerranée mit anderen NPOs zusammen? Oder gibt es eine Zusammenarbeit mit staatlichen Akteur:innen und/oder internationalen Organisationen?
Wir haben das Glück, mit der Internationalen Föderation der Rotkreuzgesellschaften in Genf (IFRC) zusammenzuarbeiten, sie bringt Betreuungs‑, Schutz- und medizinisches Personal an Bord. Die beiden Organisationen ähneln sich in ihrem humanitären Ethos. Sobald die «Ocean Viking» auf See ist, arbeitet sie mit anderen Seenotrettern oder Suchflugzeugen zusammen, fallweise mit Frachtschiffen, natürlich auch mit den Behörden, um Rettungseinsätze zu koordinieren. Das Meer ist ein riesiger Raum, Koordinierung ist unerlässlich. Sonst wird die Liste der Todesfälle noch länger.
Weshalb engagieren Sie sich für SOS Méditerranée? Was hat den Anstoss zum Engagement gegeben?
Adolf Muschg schrieb in seinem Essay-Band «Was ist europäisch?», unser Kontinent trage den Namen einer Ausländerin: Die junge phönizische Prinzessin Europa spielte am Strand, als Gottvater Zeus aus den Fluten tauchte und sie ruchlos entführte – in den Erdteil, den wir nach ihr benennen. Die Namensgeberin war eine «Ausländerin» und ein Gewaltopfer wie heute unzählige Menschen an den Ufern des Mittelmeers. Das ist der Ausgangspunkt meines Engagements. Als mich SOS Méditerranée anfragte, überlegte ich keine Sekunde und sagte Ja.
Wie fördert die Organisation die psychosoziale Gesundheit ihrer Mitarbeiter:innen und Freiwilligen angesichts der Belastungen und Traumata, mit denen sie konfrontiert sind?
Unsere Kolleginnen und Kollegen auf See durchlaufen Schulungen in Sachen Resilienz und Umgang mit höchster Not. Jede und jeder absolviert auch eine Ausbildung in psychologischer Notfallhilfe. Das ist von hohem Wert für die Überlebenden wie für unsere Kolleginnen und Kollegen selbst. Bei jedem Einsatz ist das Team an Bord gleichsam eine Familie. Das ist der Grund, warum fest angestellte Kolleginnen und Kollegen diese schwierige Arbeit fünf, sechs oder sieben Jahre lang verrichten, mit all den Narben, die das hinterlassen kann, trotz der gut strukturierten Vor- und Nachbearbeitungszeit. An Bord läuft der Dialog mit Psychologinnen und Psychologen, jeder kann seine Sorgen auf unkomplizierte Weise ansprechen. Wir machen nicht immer alles perfekt, wir haben Raum für Verbesserungen.
Welche Strategie hat die Organisation, um sicherzustellen, dass sie ihre humanitären Aktivitäten im Mittelmeer aufrechterhalten kann?
Wir brauchen Partnerinnen und Gönner. Ohne Unterstützung könnten wir den Betrieb der «Ocean Viking» nur ein halbes Jahr aufrechterhalten. Wir wenden uns an die breite Öffentlichkeit wie an institutionelle Partner. Und suchen neue Relais über die vier traditionellen Länder Schweiz, Frankreich, Deutschland und Italien hinaus.
Wie werden die Erfahrungen aus vergangenen Missionen für künftige Missionen genutzt?
Nach jedem Einsatz hat das Team eine Nachbesprechung über die Rettung, heikle Situationen, die medizinischen Evakuierungen eventuell mit Hubschrauber, die Anlandung der Geretteten usw., damit alle auf demselben Stand sind. Die Lehren werden in unsere Wissensdatenbank aufgenommen und in die Ausbildungspläne integriert. Diese Wissensbasis ist auch ausserhalb unserer kleinen Organisation von hohem Wert. Wir sind dabei, Schulungskurse, ein Buch und Konferenzen auszuarbeiten: damit jeder, der mit einer Massenrettung zu tun hat, von diesem Know-how profitieren kann.
«Die Essenz unserer Resilienz ist, dass wir Leben retten. Es gibt nichts Sinnvolleres.»
Roger de Weck, Publizist und Vorstandsmitglied SOS Méditerranée
Welche Auswirkungen hat SOS Méditerranée auf die gesamtgesellschaftliche Resilienz?
Vermutlich keine, bleiben wir bescheiden.
Wie hält sich SOS Méditerranée resilient, damit sie flexibel auf neue/überraschende Entwicklungen und Bedrohungen reagieren kann?
Die Essenz unserer Resilienz ist, dass wir Leben retten. Es gibt nichts Sinnvolleres. Jede Rettung gibt uns eine Dosis Hoffnung.
Wie arbeiten Sie mit den anderen Länderorganisationen zusammen? Unterstützen Sie sich gegenseitig oder arbeitet jede für sich?
Unsere Stärke liegt darin, dass wir im Netzwerk von SOS Méditerranée unsere Arbeitsweise und unsere Perspektiven auf gesunde Weise in Frage stellen. Die Zusammenarbeit von vier Ländern bringt produktive kulturelle Herausforderungen mit sich – dank der gemeinsamen Vision.