Foto: Nora Nussbaumer

Im Auftrag der Menschlichkeit

Roger de Weck, Publizist und Vorstandsmitglied bei SOS Méditerranée, spricht über die Herausforderungen der Seenotrettung, die Resilienz der Teams und die lebensrettende Mission des Rettungsschiffs «Ocean Viking». Ein Blick hinter die Kulissen einer humanitären Organisation.

SOS Médi­ter­ra­née wird oft für ihr Enga­ge­ment gelobt. Was bedeu­tet diese öffent­li­che Aner­ken­nung für Sie? 

In meinen Augen geht die Aner­ken­nung an alle, die sich für die Seenot­ret­tung verwen­den – zum Beispiel auch an unsere Gönne­rin­nen und Gönner: Dank ihnen konnte SOS Médi­ter­ra­née in acht Jahren 38’915 Über­le­bende bergen, darun­ter viele Babys, Kinder, unbe­glei­tete Minder­jäh­rige und schwan­gere Frauen. Was SOS Médi­ter­ra­née kenn­zeich­net: Wir sind eine rein huma­ni­täre Orga­ni­sa­tion, die sich aus der Poli­tik heraus­hält und konstruk­tiv auf die Staa­ten zugeht, damit sie das inter­na­tio­nale Seerecht besser beach­ten. Und wir arbei­ten profes­sio­nell mit straf­fen Abläu­fen, insbe­son­dere an Bord unse­res Rettungs­schiffs «Ocean Viking». Rette­rin­nen und Retter müssen gut ausge­bil­det sein und diszi­pli­niert vorgehen.

Ihr rettet Leben. Und ihr erin­nert die Öffent­lich­keit und Insti­tu­tio­nen, Regie­run­gen und Poli­tik an die huma­ni­täre Krise auf dem Mittel­meer. Vergisst die Öffent­lich­keit diese Krise bisweilen?

Nicht immer, aber immer wieder. Die Welt durch­lebt dermas­sen viele Krisen, derzeit erst recht.

Ein Verdrän­gen, weil man selbst nicht täglich dieses Leid erträgt?

Der Mensch kann nicht alles Leid rund um den Globus tragen. Niemand soll ihm vorwer­fen, dass er verdrängt. Und niemand soll uns vorhal­ten, dass wir an die Tragö­die erin­nern: Im vergan­ge­nen Jahr­zehnt sind rund 30’000 Menschen im Mittel­meer ertrun­ken – der tödlichs­ten Seeroute. 

Wie kommu­ni­zie­ren Sie?

Wir sind vor Ort die ersten, oft sogar die einzi­gen Zeugen einer Tragö­die. Das verpflich­tet. Wir kommu­ni­zie­ren an Land, was auf hoher See geschieht: Sach­lich, trans­pa­rent, nahezu in Echt­zeit und die Posi­tion der «Ocean Viking» ist jeder­zeit online ersicht­lich. Wir kommu­ni­zie­ren nüch­tern, aber wir haben starke Gefühle. 

Was versteht SOS Médi­ter­ra­née unter Resi­li­enz in Bezug auf ihre Mission und ihre Akti­vi­tä­ten im Mittelmeer?

Die Fähig­keit eines Menschen, trotz trau­ma­ti­scher Umstände ein gutes Leben zu leben. Die Besat­zung der «Ocean Viking» geht an Bord, um wochen­lang auf engs­tem Raum, ohne Privat­sphäre und bei allen Wetter­la­gen zu arbei­ten. Auf hoher See wird sie mit Tod, Verzweif­lung und Gewalt konfron­tiert. Doch all das ist nichts im Vergleich zu den Berich­ten der Über­le­ben­den und im Mass­stab ihres Lebens. Wer aus einem Konflikt­ge­biet geflo­hen ist und keinen ande­ren Ausweg hat, als auf dem Meer sein Leben aufs Spiel zu setzen, der erfährt ein Trauma nach dem ande­ren. Was bleibt, ist die Würde. Und die Lebens­lust. In Sicher­heit, auf unse­rem gros­sen roten Schiff, erklin­gen dann auch mal plötz­lich Stim­men, die singen.

Welche Heraus­for­de­run­gen und Risi­ken sind mit der Rettung von Migrant:innen auf See verbunden?

Zunächst einmal retten wir keine
Migran­tin­nen und Migran­ten, wir retten Menschen. Migrant ist ein Status und auf See können wir ihn sowieso nicht bestim­men. Diese Menschen sind in Not, Punkt. Doch nicht immer lässt man die «Ocean Viking» auslau­fen. Unser Schiff wurde beschlag­nahmt und SOS Médi­ter­ra­née bedroht, man wollte uns verkla­gen. Aber nie gehen wir auf Konfron­ta­ti­ons­kurs. Die liby­sche Küsten­wa­che hat in inter­na­tio­na­len Gewäs­sern drei Mal unsere Teams mit Waffen und Schüs­sen bedroht. Doch die Besat­zung ist darauf trai­niert, mit uner­war­te­ten Situa­tio­nen umzu­ge­hen. Seenot­ret­tung besteht aus einer Kette von Entschei­dun­gen, die in Sekun­den­schnelle getrof­fen werden und über Leben oder Tod entschei­den können, nicht nur für die Menschen in Gefahr, auch für die Teams. An Land schliess­lich liegt unsere Heraus­for­de­rung darin, die Mittel zu finden, um unser Schiff zu char­tern und so oft wie möglich auf See zu sein. Die Treib­stoff­preise schies­sen in die Höhe. Heute beläuft sich unser Betriebs­bud­get auf rund 9 Millio­nen Fran­ken. Beträcht­li­che Kosten, aber sie ermög­li­chen es uns, mit soli­dem Werk­zeug auf See zu blei­ben, um Leben zu retten.

«Wir sind vor Ort die ersten, oft sogar die einzi­gen Zeugen einer Tragö­die. Das verpflichtet.»

Roger de Weck, Publi­zist und Vorstands­mit­glied SOS Méditerranée

Was tut SOS Médi­ter­ra­née, um die Wider­stands­fä­hig­keit der Opera­tio­nen und Teams zu stär­ken – hinsicht­lich der poli­ti­schen und recht­li­chen Hindernisse?

SOS Médi­ter­ra­née bemüht sich um einen Dialog mit den Behör­den. Infor­mier­ter Dialog ist der Schlüs­sel. Er hat es uns ermög­licht, so lange auf See zu blei­ben, während andere gestran­det sind. Das erfor­dert Durch­hal­te­ver­mö­gen, da die Behör­den den Rechts­rah­men immer wieder anders ausle­gen. Neue Verord­nun­gen werden erlas­sen. Jedes Mal haben wir unse­ren Auftrag, unsere inter­nen Regeln und unser Schiff ange­passt, um die zusätz­li­chen Anfor­de­run­gen zu erfül­len. Das hat seinen Preis, sowohl in finan­zi­el­ler Hinsicht als auch in Sachen Stress.

Arbei­tet SOS Médi­ter­ra­née mit ande­ren NPOs zusam­men? Oder gibt es eine Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen Akteur:innen und/oder inter­na­tio­na­len Organisationen?

Wir haben das Glück, mit der Inter­na­tio­na­len Föde­ra­tion der Rotkreuz­ge­sell­schaf­ten in Genf (IFRC) zusam­men­zu­ar­bei­ten, sie bringt Betreuungs‑, Schutz- und medi­zi­ni­sches Perso­nal an Bord. Die beiden Orga­ni­sa­tio­nen ähneln sich in ihrem huma­ni­tä­ren Ethos. Sobald die «Ocean Viking» auf See ist, arbei­tet sie mit ande­ren Seenot­ret­tern oder Such­flug­zeu­gen zusam­men, fall­weise mit Fracht­schif­fen, natür­lich auch mit den Behör­den, um Rettungs­ein­sätze zu koor­di­nie­ren. Das Meer ist ein riesi­ger Raum, Koor­di­nie­rung ist uner­läss­lich. Sonst wird die Liste der Todes­fälle noch länger. 

Weshalb enga­gie­ren Sie sich für SOS Médi­ter­ra­née? Was hat den Anstoss zum Enga­ge­ment gegeben?

Adolf Muschg schrieb in seinem Essay-Band «Was ist euro­pä­isch?», unser Konti­nent trage den Namen einer Auslän­de­rin: Die junge phöni­zi­sche Prin­zes­sin Europa spielte am Strand, als Gott­va­ter Zeus aus den Fluten tauchte und sie ruch­los entführte – in den Erdteil, den wir nach ihr benen­nen. Die Namens­ge­be­rin war eine «Auslän­de­rin» und ein Gewalt­op­fer wie heute unzäh­lige Menschen an den Ufern des Mittel­meers. Das ist der Ausgangs­punkt meines Enga­ge­ments. Als mich SOS Médi­ter­ra­née anfragte, über­legte ich keine Sekunde und sagte Ja.

Wie fördert die Orga­ni­sa­tion die psycho­so­ziale Gesund­heit ihrer Mitarbeiter:innen und Frei­wil­li­gen ange­sichts der Belas­tun­gen und Trau­mata, mit denen sie konfron­tiert sind?

Unsere Kolle­gin­nen und Kolle­gen auf See durch­lau­fen Schu­lun­gen in Sachen Resi­li­enz und Umgang mit höchs­ter Not. Jede und jeder absol­viert auch eine Ausbil­dung in psycho­lo­gi­scher Notfall­hilfe. Das ist von hohem Wert für die Über­le­ben­den wie für unsere Kolle­gin­nen und Kolle­gen selbst. Bei jedem Einsatz ist das Team an Bord gleich­sam eine Fami­lie. Das ist der Grund, warum fest ange­stellte Kolle­gin­nen und Kolle­gen diese schwie­rige Arbeit fünf, sechs oder sieben Jahre lang verrich­ten, mit all den Narben, die das hinter­las­sen kann, trotz der gut struk­tu­rier­ten Vor- und Nach­be­ar­bei­tungs­zeit. An Bord läuft der Dialog mit Psycho­lo­gin­nen und Psycho­lo­gen, jeder kann seine Sorgen auf unkom­pli­zierte Weise anspre­chen. Wir machen nicht immer alles perfekt, wir haben Raum für Verbesserungen.

Welche Stra­te­gie hat die Orga­ni­sa­tion, um sicher­zu­stel­len, dass sie ihre huma­ni­tä­ren Akti­vi­tä­ten im Mittel­meer aufrecht­erhal­ten kann?

Wir brau­chen Part­ne­rin­nen und Gönner. Ohne Unter­stüt­zung könn­ten wir den Betrieb der «Ocean Viking» nur ein halbes Jahr aufrecht­erhal­ten. Wir wenden uns an die breite Öffent­lich­keit wie an insti­tu­tio­nelle Part­ner. Und suchen neue Relais über die vier tradi­tio­nel­len Länder Schweiz, Frank­reich, Deutsch­land und Italien hinaus.

Wie werden die Erfah­run­gen aus vergan­ge­nen Missio­nen für künf­tige Missio­nen genutzt?

Nach jedem Einsatz hat das Team eine Nach­be­spre­chung über die Rettung, heikle Situa­tio­nen, die medi­zi­ni­schen Evaku­ie­run­gen even­tu­ell mit Hubschrau­ber, die Anlan­dung der Geret­te­ten usw., damit alle auf demsel­ben Stand sind. Die Lehren werden in unsere Wissens­da­ten­bank aufge­nom­men und in die Ausbil­dungs­pläne inte­griert. Diese Wissens­ba­sis ist auch ausser­halb unse­rer klei­nen Orga­ni­sa­tion von hohem Wert. Wir sind dabei, Schu­lungs­kurse, ein Buch und Konfe­ren­zen auszu­ar­bei­ten: damit jeder, der mit einer Massen­ret­tung zu tun hat, von diesem Know-how profi­tie­ren kann.

«Die Essenz unse­rer Resi­li­enz ist, dass wir Leben retten. Es gibt nichts Sinnvolleres.»

Roger de Weck, Publi­zist und Vorstands­mit­glied SOS Méditerranée

Welche Auswir­kun­gen hat SOS Médi­ter­ra­née auf die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Resilienz?

Vermut­lich keine, blei­ben wir bescheiden.

Wie hält sich SOS Médi­ter­ra­née resi­li­ent, damit sie flexi­bel auf neue/überraschende Entwick­lun­gen und Bedro­hun­gen reagie­ren kann?

Die Essenz unse­rer Resi­li­enz ist, dass wir Leben retten. Es gibt nichts Sinn­vol­le­res. Jede Rettung gibt uns eine Dosis Hoffnung. 

Wie arbei­ten Sie mit den ande­ren Länder­or­ga­ni­sa­tio­nen zusam­men? Unter­stüt­zen Sie sich gegen­sei­tig oder arbei­tet jede für sich?

Unsere Stärke liegt darin, dass wir im Netz­werk von SOS Médi­ter­ra­née unsere Arbeits­weise und unsere Perspek­ti­ven auf gesunde Weise in Frage stel­len. Die Zusam­men­ar­beit von vier Ländern bringt produk­tive kultu­relle Heraus­for­de­run­gen mit sich – dank der gemein­sa­men Vision. 

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