Jeder und jede kann ein Prozent des eigenen Nachlasses einer Stiftung vermachen, die damit heutiges und künftiges Schweizer Kulturschaffen unterstützt: Mit dieser – bestechend einfachen – Idee wurde 2015 in der Ostschweiz die Stiftung Erbprozent Kultur lanciert. Das Prinzip: Wer ein Prozent seines Vermögens der Kultur überlassen möchte, gibt ein schriftliches Erbversprechen ab, das mit dem Testament oder mit weiteren wichtigen Dokumenten aufbewahrt wird. Wie alle testamentarischen Beschlüsse kann es jederzeit widerrufen werden.
Entstanden ist Erbprozent Kultur 2015 im Rahmen der Ausserrhoder Kulturlandsgemeinde, die unter dem Titel «Wir erben – wir Erben» über verschiedene Aspekte des Erbens und Vererbens diskutierte. «Das Schweizer Erbrecht ist so ausgelegt, dass Vermögen innerfamiliär weitergegeben wird», sagt Theres Inauen, die im Stiftungsrat die Erbversprechenden vertritt – mit der Folge, dass sich private Vermögen immer mehr anhäufen. «Erbprozent Kultur möchte hier neue Denkanstösse geben und Menschen dazu anregen, sich zu überlegen, wofür sie ihren Nachlass über die Familie hinaus zur Verfügung stellen möchten.»
Offener Stiftungszweck
Erbprozent Kultur möchte bewusst Lücken in der Kulturförderlandschaft ausloten, erklärt Mitbegründerin und heutige Stiftungsratspräsidentin Margrit Bürer. «Es gibt in der Schweiz zwar sehr viele private und staatliche Kulturförderer. Die Förderung ist aber meist an klare Kriterien gebunden.» Das zwingt die Kulturschaffenden und Institutionen häufig dazu, ihre Projekte an die Schwerpunkte der Förderorganisationen anzupassen. Und die Stiftungen müssen sich in ihrer Tätigkeit an ihrem Zweckartikel orientieren. Bei Erbprozent Kultur ist das nicht anders, aber: «Wir haben unseren Stiftungszweck bewusst möglichst offen und beweglich formuliert, damit wir rasch auf neue Bedürfnisse und Entwicklungen reagieren können», erklärt Bürer. Denn die Fragestellungen und Dringlichkeiten von heute interessieren die nächste Generation womöglich nicht mehr.
Die klassische Kulturförderung reproduziert strukturell ein Ungleichgewicht, ergänzt Theres Inauen, die im Stiftungsrat die Erbversprechenden vertritt. «Es gibt die Seite derjenigen, die Geld geben, und die Seite derjenigen, die es erhalten.» Diese klare Rollenverteilung möchte Erbprozent Kultur aufbrechen: Hier kann jede und jeder zum Kulturförderer werden, unabhängig von Alter, Vermögen, Beruf und politischem Netzwerk – auch in der Kultur Tätige. «Es gibt so viele Menschen, die kulturell tätig sind oder Bekannte in der Kulturbranche haben. Sie sind unsere Seismografen, die uns auf unterschiedliche Projekte, Ideen und Initiativen in der ganzen Schweiz aufmerksam machen.»
Hürde grösser als gedacht
Die Rückmeldungen auf die Idee seien durchwegs positiv, berichtet Margrit Bürer; gleich zu Beginn hätten rund 50 Personen ein Erbversprechen abgelegt. «Wir dachten damals, die Idee käme von alleine zum Fliegen», gibt die Stiftungsratspräsidentin zu. Mittlerweile habe sich jedoch gezeigt, dass die Hürde, tatsächlich ein Erbversprechen abzulegen, grösser sei als angenommen: Seit der Gründung der Stiftung haben erst
140 Personen ein solches Versprechen zugesichert. «Das liegt nicht an dem einen Prozent, sondern an allem, was damit zusammenhängt», sagt Bürer: an der Notwendigkeit, sich mit seinem Testament und damit mit dem eigenen Tod zu befassen, an Bedenken gegenüber der Familie oder an der Scham, wenig zu haben und wenig zu hinterlassen. Für Menschen, die die Stiftung lieber schon zu Lebzeiten unterstützen möchten, bietet Erbprozent Kultur deshalb die Möglichkeit eines Vorlasses oder einer regelmässigen Spende.
Wertschätzende Förderung
Bis heute hat Erbprozent Kultur Kulturschaffende und ‑institutionen mit knapp einer halben Million Franken unterstützt. Gesuche nimmt die Stiftung keine entgegen. Vielmehr wurden fünf Fördergefässe geschaffen, für die unterschiedliche Auswahlverfahren gelten – mal entscheidet eine Jury, wer in den Genuss eines Förderbeitrags kommt, mal das Los. Erbprozent Kultur unterstützt, im Unterschied zu anderen Stiftungen, nicht eine bestimmte Produktion oder ein Projekt, sondern die Kulturschaffenden und ‑initiativen direkt. Bürer: «Das Geld ist Ausdruck unserer Wertschätzung. Wir vertrauen darauf, dass es dort eingesetzt wird, wo es am dringendsten gebraucht wird.»
Zweimal jährlich werden die Erbversprechenden und weitere Gäste zu Foren eingeladen, an denen aktuelle Themen und Herausforderungen diskutiert werden – durchaus kontrovers, wie Theres Inauen berichtet. Das sei aber explizit erwünscht: «Wir sind eine lernende Organisation. Die Auslegung unseres Stiftungszwecks wird laufend überprüft, und Fördergefässe und Auswahlprozesse werden neu gedacht.»