Gesell­schaft ist kein Automatismus

Gemeinsame Werte und Fähigkeiten, von jedem und jeder Einzelnen, sind die Grundlage für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Sie verlangen nach Pflege.

In diesen Tagen begeg­nen wir ihr wieder in den winter­li­chen Stras­sen: der Topf­kol­lekte. Die Präsenz der Heils­ar­mee in der kalten Jahres­zeit hat Tradi­tion und ist konstant. «Solange vor Weih­nach­ten die Heils­ar­mee auf den Gassen singt, ist die Welt in Ordnung», sagt Simon Bucher, Medi­en­spre­cher der Heils­ar­mee. «Diese Tradi­tion vermit­telt den Menschen Sicherheit.» 

Mit ihrem Einsatz leis­tet die Heils­ar­mee, wie viele andere Orga­ni­sa­tio­nen, einen wesent­li­chen Beitrag, um Leid und Armut zu lindern. In der Weih­nachts­zeit wird ihre Arbeit sicht­bar. Gleich­zei­tig blei­ben auch in diesen Tagen Armut und Einsam­keit oft im Stil­len und Verborgenen.

Die Ausschnitte der Collage stam­men aus Plaka­ten aus dem Buch «Ja! Nein! Yes! No! Swiss Posters for Democracy».

Werte und Glaube

Für die Heils­ar­mee ist der Glaube ein wesent­li­cher Anker. Er ist das Funda­ment des Tuns. «Der Glaube an viel Gutes in jedem Menschen und an eine höhere Macht, die in unüber­sicht­li­chen Zeiten den Über­blick behält und Sicher­heit ausstrahlt», sagt Simon Bucher, damit lasse sich auch in schwie­ri­gen Zeiten Halt finden. Glaube kann dazu beitra­gen, das Leid besser zu ertra­gen, die Resi­li­enz zu erhö­hen. Aber schon William Booth, der Heils­ar­mee-Grün­der, erkannte, dass die Menschen nicht in die Kirche kamen. Deswe­gen musste die Heils­ar­mee auf der Strasse präsent sein. Die markante Uniform erwies sich als ausge­zeich­ne­tes Erken­nungs­merk­mal. Sie steht noch heute für Tradi­tion. Simon Bucher sagt: «Die Heils­ar­mee verfolgt einen Mittel­weg zwischen viel Offen­heit gegen­über Neuem und dem Fest­hal­ten an jenen Werten, die sie ausma­chen und für die sie geschätzt und respek­tiert wird.» In einer sich schnel­ler wandeln­den Welt wird dieser Spagat zuneh­mend heraus­for­dernd. Die tradi­tio­nelle Topf­kol­lekte steht heute einer digi­ta­len Spen­den­welt gegen­über. Gemein­same Werte zu finden in unter­schied­li­chen, teils getrenn­ten Welten, ist nicht selbst­ver­ständ­lich. Das wird unsere Gesell­schaft zuneh­mend fordern. Simon Bucher ist über­zeugt, dass es für die Zukunft essen­zi­ell sein wird, dass wir aufein­an­der zuge­hen und den Dialog suchen. Die Gesell­schaft müsse sich auf gemein­same Werte eini­gen. In einer säku­la­ren Welt ist die Suche offen. Auch wenn sich die Bundes­ver­fas­sung in der Präam­bel  auf Gott den Allmäch­ti­gen beruft, zeigt die Lebens­rea­li­tät unse­rer Gesell­schaft kein einheit­li­ches Werte­ver­ständ­nis. Viele NPOs leis­ten einen Beitrag. Sie halten Werte wie Soli­da­ri­tät hoch und tragen diese in die Breite der Gesell­schaft. Aber die Frage bleibt: Wie findet eine frei­heit­li­che Gesell­schaft gemein­same Werte und wie entwi­ckelt sie diese weiter? So einfach Werte wie Frei­heit und Soli­da­ri­tät genannt werden, so verschie­den können sie verstan­den und gelebt werden. Die Heraus­for­de­rung ist: in Zeiten des Wohl­stan­des und Frie­dens die Notwen­dig­keit dieser Diskus­sion für die Gesell­schaft zu erken­nen. Dies zu tun, ist die Basis für eine zukunfts­fä­hige Gesellschaft. 

Demo­kra­tie verstehen

Die schwei­ze­ri­sche direkte Demo­kra­tie hat einen Vorteil: Ihre Werte sind durch die regel­mäs­sig statt­fin­den­den Abstim­mun­gen präsent. «Zumin­dest ober­fläch­lich», gibt Eric Nuss­bau­mer zu beden­ken. Der Natio­nal­rat und Präsi­dent des Anny-Klawa-Morf-Stif­tungs­ra­tes sagt: «In der Schweiz lernen wir sehr stark anhand der Abstim­mun­gen. Ein Teil der Bevöl­ke­rung kann damit ein eige­nes Werter­as­ter und eine eigene Welt­sicht entwi­ckeln.» Die geringe Stimm­be­tei­li­gung zeigt die Defi­zite. Ein Gross­teil der Bevöl­ke­rung hat sich von diesen Diskus­sio­nen entfernt. Eine resi­li­ente Demo­kra­tie sollte ein Inter­esse daran haben, die demo­kra­ti­schen Werte in der gesam­ten Bevöl­ke­rung zu veran­kern und zu pflegen.

«Wir müssen sie immer wieder neu entwi­ckeln, beto­nen und veror­ten», sagt er. Die Anny-Klawa-Morf-Stif­tung setzt sich dafür ein. Sie orien­tiert sich an den Grund­wer­ten Frei­heit, Gerech­tig­keit, Gleich­heit und Soli­da­ri­tät. Eric Nuss­bau­mer sagt: «Natür­lich sind es Werte, die in der Verfas­sung stehen, aber es ist kein Selbst­läu­fer, dass wir ein Verständ­nis haben, was Soli­da­ri­tät im konkre­ten Kontext der aktu­el­len Welt- oder Gesell­schafts­lage bedeu­tet.» Es geht um Grund­le­gen­des. Das Demo­kra­tie­ver­ständ­nis muss gepflegt werden. Poli­ti­sche Bildung ist keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Es ist eine Inves­ti­tion in die Zukunft – die getä­tigt werden muss. «Einfach so zu tun, als ob die direkte Demo­kra­tie auto­di­dak­tisch wäre, als würde jede und jeder durch die Abstim­mun­gen lernen, wie Demo­kra­tie funk­tio­niert, ist in der heuti­gen schnell­le­bi­gen Zeit zu einfach», sagt Eric Nuss­bau­mer. Gefah­ren für die Demo­kra­tie sieht er genü­gend. Fake News, Pola­ri­sie­rung, mangeln­des Geschichts­ver­ständ­nis. Deswe­gen sei es wich­tig, diese Inves­ti­tio­nen zu täti­gen. Und das hat die Schweiz seiner Ansicht nach in den vergan­ge­nen Jahren zu wenig gemacht. Man habe sich auf Staats­kunde beschränkt, sagt er. Der Fokus der Bildung lag auf Fragen wie: Was ist eine Initia­tive und wie funk­tio­niert ein Refe­ren­dum? «Den Umgang mit dem Werter­as­ter, was eigent­lich eine gute Demo­kra­tie ausmacht, das lässt sich nur mit zusätz­li­chen Bildungs­an­ge­bo­ten vermit­teln», sagt er. Das sei auch der Ansatz der Stif­tung. Eine Ergän­zung zu den Parteien. Die Stif­tung, die von der SP gegrün­det wurde, will eine poli­ti­sche Bildung fördern, die bewusst über den Abstim­mungs­sonn­tag hinaus­geht. Sie hat sich auch gezielt verpflich­tet, keine Wahl­kampf­the­men zu behan­deln oder in Abstim­mun­gen aktiv zu sein. Die Bildungs­an­ge­bote stehen allen offen. Eric Nuss­bau­mer: «Deswe­gen ist es wich­tig, in die poli­ti­sche Bildung und in eine leben­dige demo­kra­ti­sche Kultur zu inves­tie­ren, damit die Fähig­keit, selbst­re­flek­tiert eine Posi­tion zu entwi­ckeln, geschult wird.»

Meinung braucht andere

Die theo­re­ti­sche Diskus­sion um Werte  wird auf eine prak­ti­sche indi­vi­du­elle Ebene herun­ter­ge­bro­chen. Die Menschen einer Gesell­schaft müssen fähig sein, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertei­di­gen. Genau dies ist ein Programm­fo­kus von YES, Young Enter­prise Switz­er­land. Der gemein­nüt­zige Verein enga­giert sich mit praxis­ori­en­tier­ten Wirt­schafts- und Meinungsbildungsprogrammen. 

Das Programm «Jugend debat­tiert» pflegt das Wissen zum poli­ti­schen Grund­ver­ständ­nis. «Wesent­lich ist die Ausein­an­der­set­zung mit einer ande­ren Meinung, das Lernen des Argu­men­tie­rens», sagt Johanna Aebi, CEO von YES. Im Programm lernen die Jugend­li­chen zu argu­men­tie­ren, auch für Themen und Ansich­ten, die nicht die ihren sind. Ein Thema von verschie­de­nen Blick­win­keln zu betrach­ten, öffnet nicht nur das Verständ­nis für die andere Posi­tion, es schärft auch die eigene oder ermög­licht diese erst.

«Wenn du keine Möglich­keit auf Diskurs hast, kannst du dir auch keine Meinung bilden», sagt Johanna Aebi. «Das wollen wir fördern: Eine sach­li­che Debatte, einan­der zuhö­ren, aufein­an­der zuge­hen.» YES will errei­chen, dass die Jugend­li­chen lernen, die Aussage des Gegen­übers zu hören. Das Programm will sie befä­hi­gen, sich mit dem Inhalt ausein­an­der­zu­set­zen und in ihrer Replik darauf zu reagie­ren. Gerade diese Fähig­kei­ten sieht Johanna Aebi aktu­ell in Gefahr. Sie erkennt heute eine Tendenz zu Extre­men, zu Popu­lis­mus, ein Fehlen an Diskurs. Sie sagt: «Es ist mega wert­voll, wenn Jugend­li­che dies lernen: Das trägt unge­mein viel zur Resi­li­enz bei.» Das Debat­tie­ren ist nur ein Programm von YES. Für Primarschüler:innen erklä­ren sie beispiels­weise, wie eine Gemeinde funk­tio­niert, um das Verständ­nis dafür zu wecken, dass unsere Gesell­schaft keine Selbst­ver­ständ­lich­keit ist. Das Verständ­nis für diese Vernetzt­heit stärkt die Resi­li­enz. Es erklärt den Kindern, was die Gesell­schaft zusam­men­hält und funk­tio­nie­ren lässt. Dazu gehört, dass verschie­dene Insti­tu­tio­nen dieses Wissen vermit­teln. Johanna Aebi sieht es nicht als Versa­gen der öffent­li­chen Schule, dass YES mit seinen Program­men Erfolg hat. Eigent­lich ganz im Gegen­teil. Es ist gelebte Vernetzt­heit, der komple­men­täre Gedanke, der Mehr­wert schafft. YES arbei­tet mit vielen Frei­wil­li­gen, gerade auch aus der Privat­wirt­schaft, die den Kindern und Jugend­li­chen neue Einbli­cke vermit­teln. Das ist eine der gros­sen Stär­ken des Schwei­zer Systems, die neben der aktu­el­len poli­ti­schen Pola­ri­sie­rung zuwei­len in den Hinter­grund rücken, aber noch immer funk­tio­nie­ren. Die Wege in der Schweiz sind kurz. Man kennt sich. Ein Kontakt ist schnell herge­stellt. «Als Poli­ti­ker bin ich vor Abstim­mun­gen oft auch in Unter­neh­men einge­la­den», sagt Eric Nuss­bau­mer. Der Austausch findet statt. Das erach­tet er als wert­voll. Alle Akteure müss­ten die poli­ti­sche Kultur pfle­gen, sagt er. Das könne nicht alleine Aufgabe der Poli­tik sein. «Alle Akteure, von der Reli­gion über die Poli­tik bis zur Wirt­schaft, müssen einen Beitrag leis­ten, damit unser Gemein­we­sen funk­tio­niert», sagt er. Das Enga­ge­ment kann unter­schied­lich sein. Einige Unter­neh­men stel­len ihre Mitar­bei­ten­den frei für poli­ti­sche Mandate, andere leis­ten einen finan­zi­el­len Beitrag – auch die Anny-Klawa-Morf-Stif­tung kann ihren Beitrag zur poli­ti­schen Grund­bil­dung leis­ten, dank unge­bun­de­ner Spen­den diver­ser Unter­neh­men. Sie fördern die Demo­kra­tie aus ihrer gesell­schaft­li­chen Mitver­ant­wor­tung heraus auf eine grund­sätz­li­che Weise.

Tagung Lands­ge­meinde Ende 18. Jahr­hun­dert. (Museum Appenzell)

Du kannst etwas bewegen

Um dieser vernetz­ten Denk­weise gerecht zu werden, widmet YES dem Unter­neh­mer­tum ein Programm. Die Jugend­li­chen lernen, was es braucht, um ein Unter­neh­men zu führen. Sie lernen, dass Gewinn nicht selbst­ver­ständ­lich ist und was realis­tisch und möglich ist. Sie erle­ben, wie Team­work funk­tio­niert, wie sie Rück­schläge einste­cken und dass sie über­stimmt werden können. Und sie müssen erfah­ren, dass sie nicht alles beein­flus­sen oder vorher­se­hen können, sondern auf Verän­de­run­gen reagie­ren müssen. Kurz: «Sie lernen, dass es lösungs­ori­en­tier­tes Denken braucht und was sie bewe­gen können», sagt Johanna Aebi. Das ist für sie in der heuti­gen Zeit ein beson­ders wich­ti­ger Punkt für eine zukunfts­fä­hige Gesell­schaft. Die Jugend­li­chen wach­sen in einer Gesell­schaft auf, die von einer Krise in die nächste schlit­tert. «Für die Jugend­li­chen ist es mega wich­tig zu sehen, dass sie etwas bewe­gen können. Sie müssen sich ange­sichts dieser gros­sen Heraus­for­de­run­gen befä­higt fühlen, Lösun­gen zu finden.» Nur so können sie aktiv zur Resi­li­enz der Gesell­schaft beitragen.

Eigene Resi­li­enz

Dass sie über Resi­li­enz verfügt, hat die Heils­ar­mee bewie­sen. Sie hat zwei Welt­kriege erlebt. Trotz und gerade aufgrund dieser widri­gen Umstände und deren Auswir­kun­gen auf die Kirch­ge­mein­den, deren Mitglie­der und die Menschen am Rand der Gesell­schaft führte die Heils­ar­mee ihr Wirken fort. Simon Bucher sagt: «Dieser Durch­hal­te­wille und die Beharr­lich­keit, für jene Werte und Über­zeu­gun­gen einzu­ste­hen, an die man glaubt, führ­ten wohl dazu, dass die Heils­ar­mee heute so resi­li­ent ist.» Übri­gens: Erfun­den wurde die Topf­kol­lekte 1891 vom ehema­li­gen Seemann und Heils­ar­mee-Offi­zier Kapi­tän Joseph McFee. Er wollte 1000 Bedürf­ti­gen in San Fran­cisco ein Weih­nachts­es­sen ermög­li­chen. Dazu hängte er einen Krab­ben­topf an ein Drei­bein, stellte dieses in einen gut frequen­tier­ten Durch­gang und die Mitglie­der der Heils­ar­mee warben für eine Spende. Die Idee verfing. Sechs Jahre später ermög­lichte die Topf­kol­lekte ameri­ka­weit 150’000 Weihnachtsessen. 

Mit einem Krab­ben­topf für die Ärms­ten sammeln: Joseph McFee erfand mit dieser Idee 1891 die Topfkollekte.

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