Gertrud Kurz engagierte sich im zweiten Weltkrieg und bis zu ihrem Tod für geflüchtete Menschen. Heute sind 110 Millionen Menschen auf der Flucht. Was kann die Schweiz von ihrem Engagement lernen?
Zuhören statt zuschauen! Nebstdem, dass strukturelle Diskriminierungen abgebaut werden müssen, braucht es Menschen, die Anlaufstellen für Geflüchtete bieten. Gertrud Kurz sei Sozialarbeiterin, Rechtsberaterin und Seelsorgerin zugleich gewesen, meinte einst Professor Martin Jung – und dies alles ohne je eine Ausbildung auf diesen Gebieten gemacht zu haben. Gertrud Kurz hat mit viel Beharrlichkeit und grosser Empathie gehandelt – mit Erfolg. Es ging ihr dabei nicht um die Moralisierung, sondern sie appellierte an die Menschlichkeit.
Im Geiste von Gertrud Kurz fördert die Stiftung heute innovative Projekte. Was zeichnet diese Projekte aus?
Uns überzeugen nicht hohe Projektbudgets, sondern lokale, bedürfnisorientierte und unbürokratische Projekte. Die Stiftung Gertrud Kurz konzentriert ihre Beiträge auf Aktivitäten, die weder von der öffentlichen Hand noch kaum von den führenden Hilfswerken finanziert werden. Pro Projekt sprechen wir meistens zwischen 500 bis 2000 Franken, die lokal eingesetzt werden. Unsere finanziellen Mittel sind beschränkt, doch bringt dieser Ansatz lokale Wirkung.
Am liebsten fördern wir Projekte, die nicht für, sondern mit oder sogar VON Menschen mit Migrationshintergrund gestaltet werden.
Daniela Dürr, ehrenamtliche Stiftungsrätin bei der Stiftung Gertrud Kurz
Wer engagiert sich in diesen Projekten?
Unsere Gesuchstellenden sind divers und meistens (wie wir im Stiftungsrat) freiwillig engagiert. Am liebsten fördern wir Projekte, die nicht für, sondern mit oder sogar VON Menschen mit Migrationshintergrund gestaltet werden. Wer in die Schweiz flüchten musste, wird durch systematische Entmächtigungs- und Abhängigkeitsstrukturen eingeschränkt. Je mehr Handlungsfähigkeiten durch innovative Projekte zurückgewonnen werden kann, desto besser.
Wo sehen Sie heute den grössten Handlungsbedarf?
Krieg, Flucht, menschliches Leid – sind zurzeit präsenter denn je. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen: Eine Flucht prägt die betroffenen Menschen ein Leben lang. Wer flüchten muss, hat einige Hürden zu bewältigen: Sprachbarrieren, Deklassierung, Kontrollverlust, Fremdbestimmtsein bis hin zu Identitätskrisen.
Die Sicherheitslage in Europa und der Welt hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Spüren Sie eine Veränderung bei den eingereichten Projekteinträgen? Hat sich der Fokus gewandelt?
Migration und Integration sind Dauerthemen. Tendenzen können wir kaum feststellen. Es freut uns zu sehen, dass neuerdings mehr Projekte in ländlichen Gebieten umgesetzt werden, wo es tendenziell weniger Integrationsangebote als in den Städten gibt.
Weshalb engagieren Sie sich in der Gertrud Kurz Stiftung?
«Lasst uns niemals unbeteiligte Zuschauende sein.» Dieses Zitat von Gertrud Kurz bringt es auf den Punkt. Auch für mich gilt: Erkenne deinen Handlungsspielraum und versuche, etwas zu bewegen – auch wenn es nur im kleinen Rahmen ist. Seit ich im Alter von 27 in den Stiftungsrat aufgenommen wurde profitiere ich von meinem Engagement fachlich wie auch persönlich.
Es freut uns zu sehen, dass neuerdings mehr Projekte in ländlichen Gebieten umgesetzt werden, wo es tendenziell weniger Integrationsangebote als in den Städten gibt.
Daniela Dürr
Sieben jüngere Frauen engagieren sich im Stiftungsrat. Ist diese Zusammensetzung bewusst so gewählt?
Wir arbeiten in unserer Zusammensetzung einfach unglaublich gut und gern zusammen. Dass gemäss dem Schweizer Stiftungsreport 2023 nur 30,4 der Stiftungsratsmitglieder weiblich sind und wir zurzeit 100 Prozent erreichen, macht uns bestimmt etwas stolz. Dabei hoffen wir vor allem, dass dies auch andere Stiftungsräte inspiriert. Viel gewinnbringender sind für mich die Diversität, was unsere Lebensumstände und Ausbildungen betrifft: Unsere Fachpersonen im Stiftungsrat kennen sich bestens mit Integrationsthemen aus. Bei uns kann die Diversität unabhängig vom Geschlecht wahrgenommen werden. Wir ergänzen uns. Dieser Mehrwert zählt.
Was macht gemeinnützige Stiftungsarbeit für junge Menschen attraktiv?
Der Stiftungszweck steht für uns alle an erster Stelle. Der hohe Wirkungsgrad der Stiftung und das Vertrauen unserer Spender*innen motiviert. Wir leben ein gesundes Erwartungsmanagement und sehen die Stiftung als unser persönliches Lernfeld. Wir probieren aus und schätzen die kleinen Erfolge: So haben wir es im 2022 geschafft, dass Gertrud Kurz von der Schweizerischen Post mit einer Sonderbriefmarke geehrt wurde. (Als zweite Frau überhaupt, übrigens.)