Gab es ein Resultat, das Sie besonders überrascht hat?
Der Vertrauensvorschuss. Aber nach den Erfahrungen der Pandemie, ist das mehr eine Bestätigung als eine Überraschung. Über Vertrauen spricht man in der Regel erst, wenn es gestört ist. Dass man bisher nicht gross über Nachbarschaft nachgedacht, resp. geforscht hat, deutet darauf hin, dass das Verhältnis zu den Nachbar:innen im Allgemeinen in der Schweiz kein Problem und intakt war.
Die Ergebnisse zeigen nur geringe Unterschiede zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Alles gut also?
Die Ausgangslage ist gut, das Grundvertrauen hoch und damit die Beziehungen auch belastbar. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung von ökologischen und politischen Krisen – die uns möglicherweise bevorstehen. Wir können uns jedoch nicht einfach darauf verlassen, dass alles so bleibt. Damit die Beziehungen so gut bleiben wie sie sind, müssen sie gepflegt werden.
Über Vertrauen spricht man in der Regel erst, wenn es gestört ist.
Karin Frick, Co-Autorin «Hallo Nachbar:in»
In Gesellschaftsdiskussionen wird teils mit einer Spaltung, bspw. einem Stadt-Land-Graben, argumentiert. Konnten Sie solche Gräben feststellen?
Die Studie zeigt keine Spaltung zwischen Stadt und Land. Die Gemeinsamkeiten überwiegen. Die Mehrheit ist zufrieden mit der heutigen Situation, Städterinnen und Städter sowie Romands wünschen sich etwas mehr Kontakt mit ihren Nachbar:innen als Landbewohner:innen.
In der Pandemie konnten sich die Menschen auf die Nachbarn verlassen. Sehen Sie Potenzial, wie unsere Gesellschaft dies für dringende Fragestellungen aktivieren kann, bspw. um die Herausforderungen des demographischen Wandels zu meistern?
Das lässt sich nicht aus der Studie nicht beantworten.
Die Mehrheit der Befragten ist hilfsbereiter, als sie sich selbst einschätzt. Wird dabei das Engagement für die Nachbarn als gemeinnütziger Dienst an der Gesellschaft verstanden oder ist für die Befragten entscheidend, dass sie die Person, der sie helfen, kennen?
Wir haben nicht nach den Motiven für Nachbarschaftshilfe gefragt. Ich vermute, dass spontane Hilfe mehr aus einem natürlichen Impuls erfolgt und ein Merkmal einer «guten» Nachbarschaftskultur ist und nicht, weil man damit sein Karma verbessern will.
Eine gute Nachbarschaft fördert das Grundvertrauen.
Karin Frick, Co-Autorin «Hallo Nachbar:in»
Die meisten helfen gerne. Besteht hier ein Potenzial, das mit den richtigen Initiativen zum Wohl der Gesellschaft mobilisiert werden kann?
Auch diese Frage lässt sich nicht aus er Studie beantworten. Da die Qualität einer Beziehung wesentlich davon abhängt, wieviel Zeit man in sie investiert, könnte man mit einer 4‑Tage-Woche (bei gleichem Lohn) für alle vielleicht mehr bewirken als mit der Förderung von ausgewählten Nachbarschaftsaktivitäten.
Welche Rolle spielt eine gute Nachbarschaft für die Gesellschaft?
Eine gute Nachbarschaft fördert das Grundvertrauen und das Grundvertrauen ist eine wichtige Voraussetzung für Demokratie. Also dafür, dass man an die Gesellschaft und die Zukunft glaubt und ihr auch zutraut, die Herausforderungen, die auf uns zukommen, zu lösen.
Erste Studie über die Nachbarschaft
Die neue Nachbarschaftsstudie der Schweiz, die das Gottlieb Duttweiler Institut GDI im Auftrag des Migros-Kulturprozent verfasst hat, zeigt: in der Schweiz leben die Menschen gerne mit- und nebeneinander. Denn überall gibt es Nachbarschaftsheld:innen, welche die Gemeinschaft mit kleinen und grossen Gesten zusammenhalten. Migros-Engagement fördert mit der schweizweiten #nachbarschaftsinitiative das Engagement von Menschen, die sich für ein gutes Zusammenleben einsetzen. Die Initiative umfasst verschiedene Teilprojekte. Zum Start verlost die Migros 500 mal 500-Franken-Migros-Geschenkkarten für kleine Nachbarschaftsprojekte. Mehr Informationen zur Initiative: migros-engagement.ch/nachbarschaft
Die Studie ist als Download verfügbar unter gdi.ch/nachbarschaft2022