Weshalb ist Empathie für die Philanthropie besonders wichtig?
Das Wort Philanthropie bedeutet «Liebe zur Menschheit». Nun befinden wir uns in einem Abschnitt der Geschichte der Menschheit, in der wir gemeinsam Liebe und Empathie in der Welt stärken müssen. Während meiner Doktorarbeit habe ich Dutzende von Sozialunternehmer:innen aus der ganzen Welt interviewt. Mein Ziel war herauszufinden, was sie gemeinsam haben. Ich wollte erfahren, warum sie ihr Leben damit verbrachten, soziale und ökologische Probleme zu lösen. Mit diesem Wissen wollte ich Lehrpläne entwickeln, welche die nächste Generation von Changemakern inspirieren würden.
Haben Sie Gemeinsames gefunden?
Ja. Alle hatten zwei Dinge gemeinsam. Erstens wuchsen sie in Familien auf, die sich regelmässig ehrenamtlich engagierten. Ihre Eltern gaben der Gesellschaft «etwas zurück» und zeigten zu hause ein entsprechendes Verhalten. Zweitens konnten die befragten Sozialunternehmer:innen nicht die Augen verschliessen, wenn sie einer Gruppe von Menschen begegneten, die litten oder auf irgendeine Weise ausgegrenzt wurden. Stattdessen fühlten sie sich zum Handeln gezwungen. In meiner Dokatobarbeit vor über zehn Jahren bezeichnete ich das empathisches Handeln. Heute nenne ich es zielgerichtete Empathie. Und genau das macht gute Philanthropie aus. Wenn jemand durch harte Arbeit und Glück Reichtum anhäuft, fühlt er sich möglicherweise inspiriert, seinen Wohlstand mit den weniger erfolgreichen zu teilen. Wenn sie es mit Empathie tun, ist das grossartig. Aber nicht, wenn sie es aus Mitleid tun.
Wenn sie es mit Empathie tun, ist das grossartig. Aber nicht, wenn sie es aus Mitleid tun.
Anita Nowak lehrt an der McGill University in Montreal, Kanada
Was ist der Unterschied?
Mitleid beinhaltet Machtasymmetrie. Wenn du Mitleid mit jemandem hast, schaust du auf ihn herab. Deshalb finde ich es bedauerlich, wenn eine wohltätige Spende aus Mitleid erfolgt. Empathie ist ganz anders. Basierend auf meiner Forschung definiere ich Empathie als die angeborene Eigenschaft, die uns in unserer gemeinsamen Menschlichkeit vereint. Wir alle teilen Gefühle wie Angst, Scham, Freude und Hoffnung – und Empathie ermöglicht es uns, miteinander in Beziehung zu treten. Aber es gibt einen wichtigen Vorbehalt: Wir können individuelle Erfahrungen nicht ausser Acht lassen! Obwohl wir gemeinsame Gefühle und Erfahrungen teilen, können wir nie vollständig verstehen, was jemand anderes durchmacht.
Die meisten Europäer:innen haben ein privilegiertes Leben. Können wir uns wirklich vorstellen, wie es ist, zum Beispiel 20 Jahre in einem Flüchtlingslager zu leben?
Menschen sind dazu veranlagt, sich in die Menschen in ihrer «In-Group» hineinzuversetzen. Das heisst, Menschen, die wie wir aussehen, wie wir wählen oder dieselbe Fussballmannschaft unterstützen. Auch wenn es mehr Anstrengung erfordert, sich in jemanden hineinzuversetzen, der in einem völlig anderen Kontext lebt, glaube ich, dass es unsere Pflicht ist, unsere Empathiemuskeln – individuell und kollektiv – spielen zu lassen, insbesondere angesichts von Klimawandel, Massenmigration, Krieg usw.
Sagen Sie, dass wir mit Übung einfühlsamer werden können?
Ja. Dank Neuroplastizität. Indem wir einfühlsamere Gedanken denken und uns einfühlsamer verhalten, können wir unsere synaptischen Verbindungen stärken. Und wenn sie sich verdichten, können wir aus einem natürlichen Reflex heraus einfühlsamer werden. Es ist ziemlich erstaunlich.
Können Sie das näher erläutern?
Als ich etwas über die Neurowissenschaften der Empathie erfuhr, begann ich mit Experimenten. Eines Tages stand ich in einer FedEx-Filiale in der Schlange. Als ich an der Reihe war, begrüsste mich die Angestellte äusserst unhöflich. Anstatt die Situation zu verschlimmern, beschloss ich, es mit Empathie zu versuchen. Ich fragte sie aufrichtig: «Geht es Ihnen gut?» Als ihr klar wurde, dass ich nicht sarkastisch war, brach sie in Tränen aus. Sie antwortete: «Ich arbeite seit zwei Wochen im Doppelschichtbetrieb. Mein Sohn liegt mit Fieber zu Hause und ich glaube, ich werde auch krank. Es ist 15 Uhr und ich hatte noch keine Mittagspause. Ich bin einfach erschöpft.» Zwanzig Sekunden zuvor mochte ich die Frau nicht. Nachdem sie mir ihre Geschichte erzählt hatte, hielten wir unsere Hände und umarmten uns einfühlsam. Deshalb glaube ich, dass Empathie unsere Superkraft ist.
Gibt es so etwas wie zu viel Empathie?
Ja. Mitgefühlsmüdigkeit und Empathiemüdigkeit sind real – und oft schwächend. Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sind überproportional betroffen. Das Gleiche gilt für Humanist:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Lehrer:innen, denn sie alle sind Dienstleister:innen. Und es kann sich auch auf Philanthrop:innen auswirken. Deshalb müssen wir alle Selbstmitgefühl üben. Es ist unmöglich, Empathie mit einer leeren emotionalen Batterie auszubauen. Doomscrolling hat nicht geholfen.
Was bedeutet das?
Es ist ein neues Wort, das in den frühen Tagen der Pandemie populär wurde, als jeder süchtig nach seinen Mobiltelefonen war und endlos durch die Nachrichten scrollte. Wir verbringen leider viel zu viel Zeit mit unseren elektronischen Geräten als dass es für eine psychische Gesundheit gut wäre. Das gilt sicherlich auch für die Jugend. Meine jüngsten Schülerjahrgänge wurden nach 2000 geboren. Sie sind mit Mobiltelefonen und der Realität des Klimawandels aufgewachsen. Ihre Angst vor der Zukunft ist real. Sie heisst Öko-Angst. Einige von ihnen möchten keine Kinder haben, weil sie glauben, dass dies angesichts der aktuellen Situation unmoralisch wäre. Das zu hören fällt schwer.
Es besteht die Gefahr, dass das Pendel zu weit ausschlägt und wir das menschliche Element vernachlässigen.
Anita Nowak
Wie kann der philanthropische Sektor mit Empathie reagieren?
Der Sektor ist in den letzten zehn Jahren deutlich gewachsen. Es gibt immer mehr Milliardäre auf dem Planeten und es werden immer mehr philanthropische Dollars investiert. Auch Familienstiftungen spielen eine interessante Rolle, da die Verantwortlichen auch ihre Familienunternehmen für ein grösseres soziales Wohl einsetzen können. Angesichts des Klimawandels und der grossen sozialen Ungleichheit sowie des Aufstiegs von Populismus und totalitären Regimen müssen Philanthropen eine wichtige Rolle einnehmen – insbesondere, wenn wir nicht wollen, dass Demokratien implodieren und wenn wir Massenleiden auf dem Planeten vermeiden wollen.
Viele Programme an Universitäten und Weiterbildungsangebote zielen darauf ab, zur Professionalisierung des Non-Profit-Sektors, Philanthropie eingeschlossen, beizutragen. Steht das im Widerspruch zu Empathie?
Ich unterstütze die Professionalisierung der Philanthropie und des sozialen Sektors, aber es besteht die Gefahr, dass das Pendel zu weit ausschlägt und wir das menschliche Element vernachlässigen. Ich denke, der beste Ansatz für Philanthropie besteht darin, unsere Köpfe, unser Herz und unsere Hände einzubinden.
Haben Sie noch abschliessende Gedanken?
Die Ausweitung der Empathie bietet uns allen die Möglichkeit, uns gut zu fühlen. Das Gefühl emotionaler Resonanz und Verbindung erweckt in unserem Gehirn die gleichen Lust- und Belohnungszentren wie ein köstliches Stück Schokoladenkuchen. Und es senkt den Cortisolspiegel und erhöht jenen von Serotonin und Dopamin. Denken Sie also daran: Empathie ist gut für uns!
Veranstaltung, Universität Genf, Montag, 16. Oktober, Vortrag von Anita Novak: «The Role of Empathy in Philanthropy» (ausgebucht)