Anita Nowak, Bild: Allen McInnis No third party usage is permitted without prior consent. amcinnis@mcinnis.ca © Allen McInnis 2021

Empa­thie ist die Gele­gen­heit, sich gut zu fühlen

Anita Nowak lehrt die Kraft der Empathie an der McGill University in Montreal, Kanada. Als ehemalige professionelle Fundraiserin, die heute als Coach mit Familienstiftungen zusammenarbeitet, ist sie davon überzeugt, dass Empathie für gute Philanthropie notwendig ist. Darüber spricht sie heute Abend an der Universität Genf.

Weshalb ist Empa­thie für die Phil­an­thro­pie beson­ders wichtig?

Das Wort Phil­an­thro­pie bedeu­tet «Liebe zur Mensch­heit». Nun befin­den wir uns in einem Abschnitt der Geschichte der Mensch­heit, in der wir gemein­sam Liebe und Empa­thie in der Welt stär­ken müssen. Während meiner Doktor­ar­beit habe ich Dutzende von Sozialunternehmer:innen aus der ganzen Welt inter­viewt. Mein Ziel war heraus­zu­fin­den, was sie gemein­sam haben. Ich wollte erfah­ren, warum sie ihr Leben damit verbrach­ten, soziale und ökolo­gi­sche Probleme zu lösen. Mit diesem Wissen wollte ich Lehr­pläne entwi­ckeln, welche die nächste Gene­ra­tion von Chan­ge­ma­kern inspi­rie­ren würden.

Haben Sie Gemein­sa­mes gefunden?

Ja. Alle hatten zwei Dinge gemein­sam. Erstens wuch­sen sie in Fami­lien auf, die sich regel­mäs­sig ehren­amt­lich enga­gier­ten. Ihre Eltern gaben der Gesell­schaft «etwas zurück» und zeig­ten zu hause ein entspre­chen­des Verhal­ten. Zwei­tens konn­ten die befrag­ten Sozialunternehmer:innen nicht die Augen verschlies­sen, wenn sie einer Gruppe von Menschen begeg­ne­ten, die litten oder auf irgend­eine Weise ausge­grenzt wurden. Statt­des­sen fühl­ten sie sich zum Handeln gezwun­gen. In meiner Dokat­ob­ar­beit vor über zehn Jahren bezeich­nete ich das empa­thi­sches Handeln. Heute nenne ich es ziel­ge­rich­tete Empa­thie. Und genau das macht gute Phil­an­thro­pie aus. Wenn jemand durch harte Arbeit und Glück Reich­tum anhäuft, fühlt er sich mögli­cher­weise inspi­riert, seinen Wohl­stand mit den weni­ger erfolg­rei­chen zu teilen. Wenn sie es mit Empa­thie tun, ist das gross­ar­tig. Aber nicht, wenn sie es aus Mitleid tun.

Wenn sie es mit Empa­thie tun, ist das gross­ar­tig. Aber nicht, wenn sie es aus Mitleid tun.

Anita Nowak lehrt an der McGill Univer­sity in Mont­real, Kanada

Was ist der Unterschied?

Mitleid beinhal­tet Macht­asym­me­trie. Wenn du Mitleid mit jeman­dem hast, schaust du auf ihn herab. Deshalb finde ich es bedau­er­lich, wenn eine wohl­tä­tige Spende aus Mitleid erfolgt. Empa­thie ist ganz anders. Basie­rend auf meiner Forschung defi­niere ich Empa­thie als die ange­bo­rene Eigen­schaft, die uns in unse­rer gemein­sa­men Mensch­lich­keit vereint. Wir alle teilen Gefühle wie Angst, Scham, Freude und Hoff­nung – und Empa­thie ermög­licht es uns, mitein­an­der in Bezie­hung zu treten. Aber es gibt einen wich­ti­gen Vorbe­halt: Wir können indi­vi­du­elle Erfah­run­gen nicht ausser Acht lassen! Obwohl wir gemein­same Gefühle und Erfah­run­gen teilen, können wir nie voll­stän­dig verste­hen, was jemand ande­res durchmacht.

Die meis­ten Europäer:innen haben ein privi­le­gier­tes Leben. Können wir uns wirk­lich vorstel­len, wie es ist, zum Beispiel 20 Jahre in einem Flücht­lings­la­ger zu leben?

Menschen sind dazu veran­lagt, sich in die Menschen in ihrer «In-Group» hinein­zu­ver­set­zen. Das heisst, Menschen, die wie wir ausse­hen, wie wir wählen oder dieselbe Fuss­ball­mann­schaft unter­stüt­zen. Auch wenn es mehr Anstren­gung erfor­dert, sich in jeman­den hinein­zu­ver­set­zen, der in einem völlig ande­ren Kontext lebt, glaube ich, dass es unsere Pflicht ist, unsere Empa­thie­mus­keln – indi­vi­du­ell und kollek­tiv – spie­len zu lassen, insbe­son­dere ange­sichts von Klima­wan­del, Massen­mi­gra­tion, Krieg usw.

Sagen Sie, dass wir mit Übung einfühl­sa­mer werden können?

Ja. Dank Neuro­plas­ti­zi­tät. Indem wir einfühl­sa­mere Gedan­ken denken und uns einfühl­sa­mer verhal­ten, können wir unsere synap­ti­schen Verbin­dun­gen stär­ken. Und wenn sie sich verdich­ten, können wir aus einem natür­li­chen Reflex heraus einfühl­sa­mer werden. Es ist ziem­lich erstaunlich.

Können Sie das näher erläutern?

Als ich etwas über die Neuro­wis­sen­schaf­ten der Empa­thie erfuhr, begann ich mit Expe­ri­men­ten. Eines Tages stand ich in einer FedEx-Filiale in der Schlange. Als ich an der Reihe war, begrüsste mich die Ange­stellte äusserst unhöf­lich. Anstatt die Situa­tion zu verschlim­mern, beschloss ich, es mit Empa­thie zu versu­chen. Ich fragte sie aufrich­tig: «Geht es Ihnen gut?» Als ihr klar wurde, dass ich nicht sarkas­tisch war, brach sie in Tränen aus. Sie antwor­tete: «Ich arbeite seit zwei Wochen im Doppel­schicht­be­trieb. Mein Sohn liegt mit Fieber zu Hause und ich glaube, ich werde auch krank. Es ist 15 Uhr und ich hatte noch keine Mittags­pause. Ich bin einfach erschöpft.» Zwan­zig Sekun­den zuvor mochte ich die Frau nicht. Nach­dem sie mir ihre Geschichte erzählt hatte, hiel­ten wir unsere Hände und umarm­ten uns einfühl­sam. Deshalb glaube ich, dass Empa­thie unsere Super­kraft ist.

Gibt es so etwas wie zu viel Empathie?

Ja. Mitge­fühls­mü­dig­keit und Empa­thie­mü­dig­keit sind real – und oft schwä­chend. Menschen, die im Gesund­heits­we­sen arbei­ten, sind über­pro­por­tio­nal betrof­fen. Das Glei­che gilt für Humanist:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Lehrer:innen, denn sie alle sind Dienstleister:innen. Und es kann sich auch auf Philanthrop:innen auswir­ken. Deshalb müssen wir alle Selbst­mit­ge­fühl üben. Es ist unmög­lich, Empa­thie mit einer leeren emotio­na­len Batte­rie auszu­bauen. Doom­scrol­ling hat nicht geholfen.

Was bedeu­tet das?

Es ist ein neues Wort, das in den frühen Tagen der Pande­mie popu­lär wurde, als jeder süch­tig nach seinen Mobil­te­le­fo­nen war und endlos durch die Nach­rich­ten scrollte. Wir verbrin­gen leider viel zu viel Zeit mit unse­ren elek­tro­ni­schen Gerä­ten als dass es für eine psychi­sche Gesund­heit gut wäre. Das gilt sicher­lich auch für die Jugend. Meine jüngs­ten Schü­ler­jahr­gänge wurden nach 2000 gebo­ren. Sie sind mit Mobil­te­le­fo­nen und der Reali­tät des Klima­wan­dels aufge­wach­sen. Ihre Angst vor der Zukunft ist real. Sie heisst Öko-Angst. Einige von ihnen möch­ten keine Kinder haben, weil sie glau­ben, dass dies ange­sichts der aktu­el­len Situa­tion unmo­ra­lisch wäre. Das zu hören fällt schwer.

Es besteht die Gefahr, dass das Pendel zu weit ausschlägt und wir das mensch­li­che Element vernachlässigen.

Anita Nowak

Wie kann der phil­an­thro­pi­sche Sektor mit Empa­thie reagieren?

Der Sektor ist in den letz­ten zehn Jahren deut­lich gewach­sen. Es gibt immer mehr Milli­ar­däre auf dem Plane­ten und es werden immer mehr phil­an­thro­pi­sche Dollars inves­tiert. Auch Fami­li­en­stif­tun­gen spie­len eine inter­es­sante Rolle, da die Verant­wort­li­chen auch ihre Fami­li­en­un­ter­neh­men für ein grös­se­res sozia­les Wohl einset­zen können. Ange­sichts des Klima­wan­dels und der gros­sen sozia­len Ungleich­heit sowie des Aufstiegs von Popu­lis­mus und tota­li­tä­ren Regi­men müssen Phil­an­thro­pen eine wich­tige Rolle einneh­men – insbe­son­dere, wenn wir nicht wollen, dass Demo­kra­tien implo­die­ren und wenn wir Massen­lei­den auf dem Plane­ten vermei­den wollen.

Viele Programme an Univer­si­tä­ten und Weiter­bil­dungs­an­ge­bote zielen darauf ab, zur Profes­sio­na­li­sie­rung des Non-Profit-Sektors, Phil­an­thro­pie einge­schlos­sen, beizu­tra­gen. Steht das im Wider­spruch zu Empathie?

Ich unter­stütze die Profes­sio­na­li­sie­rung der Phil­an­thro­pie und des sozia­len Sektors, aber es besteht die Gefahr, dass das Pendel zu weit ausschlägt und wir das mensch­li­che Element vernach­läs­si­gen. Ich denke, der beste Ansatz für Phil­an­thro­pie besteht darin, unsere Köpfe, unser Herz und unsere Hände einzubinden.

Haben Sie noch abschlies­sende Gedanken?

Die Auswei­tung der Empa­thie bietet uns allen die Möglich­keit, uns gut zu fühlen. Das Gefühl emotio­na­ler Reso­nanz und Verbin­dung erweckt in unse­rem Gehirn die glei­chen Lust- und Beloh­nungs­zen­tren wie ein köst­li­ches Stück Scho­ko­la­den­ku­chen. Und es senkt den Corti­sol­spie­gel und erhöht jenen von Sero­to­nin und Dopa­min. Denken Sie also daran: Empa­thie ist gut für uns!


Veran­stal­tung, Univer­si­tät Genf, Montag, 16. Okto­ber, Vortrag von Anita Novak: «The Role of Empa­thy in Phil­an­thropy» (ausge­bucht)


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