Stiftung und Restaurant blindekuh sind eine Erfolgsgeschichte. Sie haben Erfolg in der Nische. Sie bringen Sehende und Blinde zusammen. Stiftungsgründer Jürg Spielmann und Christina Fasser, Präsidentin des Stiftungsrates, sprechen über die Entstehungsgeschichte, wie die Coronakrise Arbeitsplätze für Blinde gefährdet und über persönliche Erfahrungen mit dem Blindsein.
Im Restaurant blindekuh essen alle im Dunkeln. Niemand sieht etwas. Isst es sich für Sie im Dunkeln anders als in einem ausgeleuchteten Restaurant?
Jürg Spielmann: Was für mich wirklich anders ist: Einmal in meinem Leben fühle ich mich nicht beobachtet. Ansonsten fühle ich immer eine gewisse Grundspannung. Als Blinde wissen wir nicht, wer uns gerade anschaut. Ich bin dieses Gefühl gewohnt, dass mich jemand anschaut – auch wenn mich niemand anschaut. In einem dunklen Restaurant, in dem ich weiss, dass niemand den anderen sehen kann, fühle ich mich entspannter.
Christina Fasser: Das geht mir ebenso. Auch ich bin entspannter. Gehe ich in ein konventionelles Restaurant vergesse ich ab und zu, dass ich blind bin. Dann bestelle ich mir etwas, das nicht blindengerecht ist. Wenn das Essen dann serviert wird, komme ich automatisch in Stress.
«Das war eine
total andere
Erfahrung. Neu.
Inspirierend. Beglückend.»
Jürg Spielmann
In der blindekuh ist das anders?
CF: In der blindekuh habe ich null Probleme. Spannend ist dafür, wie die anderen darauf reagieren. Das ist sehr unterschiedlich.
JS: Genau.
CF: Ich war einmal mit meinem Neffen und seinen Freunden in der blindekuh. Sechs 20-Jährige in der Maturazeit. Es sind spannende Dialoge entstanden. Einer hat gefragt: «Ist das immer so bei dir? Krass!» Eine der Bedienenden kam mit uns ins Gespräch. Ich realisierte, das sind Gleichaltrige. Sie haben von ihrer Maturlektüre gesprochen. Die Jungs waren gespannt, was sie nach der Matur tun würde. Dass sie nach Nepal in ein Praktikum gehen wird, hat die Kollegen meines Neffen hyper beeindruckt.
JS: Ich hatte ein Erlebnis, das mir besonders geblieben ist: Ich ging mit einer blinden Kollegin in der blindekuh essen. Wir wurden an einen Tisch gesetzt, an welchem bereits Gäste sassen, die wir nicht kannten. Wir, zwei Profiblinde und vier «Hobbyblinde», sassen also an einem Tisch. Meine Kollegin und ich wollten uns nicht direkt outen. Wir sind mit den anderen Gästen ins Gespräch gekommen und ihnen ist aufgefallen, dass wir uns relativ gut zurechtfanden. Gegen Ende des Abends ist die Frage gekommen, ob wir sehbehindert seien. Wir haben uns dann dazu bekannt. Eine Person war tief beleidigt. Ich kann das bis heute nicht verstehen.
CF: Vielleicht haben die sich genauso beobachtet gefühlt, wie wir uns in einem normalen Restaurant?
JS: Du sagst es jetzt. Jetzt ist es mir klar. Das ist der Schlüssel zum Verständnis.
Wie ist die Idee für ein Restaurant im Dunkeln überhaupt entstanden?
JS: Die Ausstellung «Dialog im Dunkeln» war eindeutig der Auslöser. Von Februar bis April 1998 fand sie im Museum für Gestaltung in Zürich statt. In völlig abgedunkelten Räumen wurden Alltagssituationen nachgestellt und ermöglichten Sehenden eine spezielle Erfahrung. Wir vier Gründer haben alle an der Ausstellung als Guides gearbeitet.
CF: Damals war ich mit dabei und engagiert für die Suche nach den Guides sowie bei der Konzipierung der Vorgaben für die Guides in der Ausstellung. Die Erfahrungen haben mir imponiert. Ich habe Blinde kennengelernt, die sich vor der Erfahrung bei der Ausstellung unzählige Male beworben hatten. Ohne Erfolg. Mit ihrer Tätigkeit bei der Ausstellung haben sie ein neues Selbstbewusstsein erfahren. Dieses hat ihnen in der Folge wesentlich geholfen, eine Arbeit zu finden. Für betroffene Menschen ist die Wertschätzung extrem wichtig. Ein positives Feedback ist entscheidend. Es ist wichtig, dass man sich nicht immer im Negativen bewegt.
Diese Erfahrungen der Ausstellung haben Sie inspiriert.
JS: Die Ausstellung hat eine riesige Begeisterung für dieses Setting ausgelöst. Die sehenden Besuchenden waren absolut beeindruckt von der Erfahrung. Dank der Hilfe von blinden Führern konnten sie ins absolute Dunkel gehen. Alleine hätten die Sehenden dies nicht gekonnt, nicht von einem Moment auf den anderen. Dieser Rollentausch hat uns tief bewegt. Als Blinde und Sehbehinderte müssen wir spezielle Fähigkeiten entwickeln. Mit diesen müssen wir den fehlenden Sehsinn ausgleichen. Dass diese Fähigkeiten plötzlich einen Bonus darstellen, war für uns ein ganz besonderes Erlebnis. Begegnen wir im Alltag Menschen, die keine Erfahrung mit einer blinden Person haben, steht meist die Frage im Vordergrund: «Oh wie geht das nur?», verbunden mit dem Wunsch «Hoffentlich ich nie!».
Und das war in der Ausstellung anders?
JS: In der Ausstellung ist dieser Effekt schlicht weggefallen. Die besuchenden Sehenden waren in der gleichen «condition humaine» wie die Nicht-Sehenden. Alle waren im Dunkeln. Wir, die uns im Alltag oft führen lassen müssen, waren plötzlich die Führenden. Das war eine total andere Erfahrung. Neu. Inspirierend. Beglückend. Der Rollentausch ermöglicht auf beiden Seiten tolle Erfahrungen. Die Ausstellung war völlig überbucht. Sie wurde verlängert. Und sehr schnell waren sich die Guides einig, dass so etwas nicht aufhören darf.
Daraus ist die blindekuh entstanden?
JS: Es brauchte einfach jemanden, der sagt: «Das machen wir». Und ich habe diese Rolle übernommen. Kennen gelernt hatte ich während der Ausstellung Stefan Zappa. Er war gerade im Prozess einer Erblindung.
CF: Er hatte seinen Job verloren,
weil er nicht mehr genug sah. Er war Innenarchitekt.
JS: Ich wusste, er hat Zeit. Er hatte schon Restaurants konzipiert und er hatte als Ersatz zu seiner Erstausbildung noch Ökonomie studiert. Und er hatte viele Fähigkeiten, die ich nicht hatte. Ich wusste, zu zweit können wir das nicht. Ich hatte noch weitere Guides, Thomas Moser, Sänger und Andrea Blaser, Sozialarbeiterin, angefragt. Ich kann mich an Nächte erinnern, in welchen ich eine Energie in mir spürte, die nie vorher und nie nachher so intensiv war.
«Vielleicht haben die sich genauso beobachtet gefühlt wie wir uns in einem normalen Restaurant.»
Christina Fasser
Die blindekuh ist eine Stiftung. Weshalb?
JS: Bezogen auf die Zielstrebigkeit und Effizienz wollten wir eine Stiftung gründen. Wir wussten, es braucht viel Geld. Uns war klar, es muss gemeinnützig sein. Sollte das Projekt je Gewinn abwerfen, sollte das Geld wieder der Stiftung zugeführt werden. So haben wir 1998 die gemeinnützige Stiftung «Blind-Licht» gegründet. Weil es kommunikativ einfacher wurde, haben wir sie 2017 ebenfalls in «blindekuh» umbenannt.
Was genau ist der Zweck der Stiftung?
CF: Er ist und bleibt der gleiche: Verständnis schaffen bei der sehenden Bevölkerung für die Kultur der Blinden und Sehbehinderten. Wir sind gerade dabei, dies noch präziser zu formulieren. Das zweite Ziel ist die Schaffung von nachhaltigen und befriedigenden Arbeitsplätzen für blinde und sehbehinderte Menschen.
Daraus ist eine Erfolgsgeschichte gewachsen. Die Stiftung blindekuh und zwei Restaurants in Zürich und Basel …
JS: … und die Schaffung von nachhaltigen Arbeitsplätzen. Das ist ein wesentlicher Teil der Erfolgsstory.
CF: Genau.
JS: In der zweiten Hälfte der 90er Jahre waren wir in einer Wirtschaftskrise. Schon in der Hochkonjunktur ist es für einen Menschen mit einer Behinderung schwierig, einen Job zu finden.
CF: Absolut. Es ist extrem schwierig für einen blinden Menschen, eine Arbeit zu finden. Soeben haben wir mit Retina International eine Studie durchgeführt. Ziel war es, die Erwerbstätigkeit von Menschen mit Sehbehinderung zu untersuchen. Aktuell sind in Irland und England 60 bis 70 Prozent ohne Arbeit. Diese Zahl kann auf die Schweiz übertragen werden. Das ist unglaublich. Sogar Hochqualifizierte finden heute nur schwierig eine Anstellung.
JS: Auch 1998 hatte es viele Stellensuchende. Wir wollten eine Einrichtung schaffen, wo es dunkel ist, wo blinde Menschen Sehende begleiten. Diese Arbeitsplätze wären prädestiniert für Sehbehinderte. Sehenden fehlt die Fähigkeit, im Dunkeln zu servieren.
CF: Ein zweiter Faktor ist wichtig. Wir haben Mitarbeitende, die eine Teilrente beziehen. Sie erhalten bspw. eine 50-Prozent-Rente. Das bedingt eine 50-Prozent-Anstellung um ein Einkommen zu erzielen, das die Lebenskosten decken kann. Doch gerade Teilzeitstellen gibt es für Blinde noch weniger. Und wenn doch, sind es meist Jobs im Bürobereich. Bei der blindekuh bieten wir interessante Teilzeitstellen.
JS: Als dritten Faktor möchte ich die Öffentlichkeitsarbeit erwähnen. Mit der blindekuh haben wir eine gute Plattform. Sie ermöglicht uns, quasi «on the Job» Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Nicht eine einzige blinde Person referiert vor einem sehenden Publikum – was wir natürlich auch machen –, sondern die Sehenden erleben in der blindekuh zumindest ansatzweise, wie es ist, ohne zu sehen zu leben.
Dieses Konzept funktioniert finanziell?
CF: Die blindekuh funktioniert. Bekannterweise sind die Margen in der Gastronomie sehr klein. Aber für die Investitionen brauchen wir einen Zustupf. Wir können einen Tisch nicht mehrmals pro Abend verkaufen. Die sehenden Gäste sollen Zeit haben –
und sie brauchen Zeit.
JS: Normalerweise gehen sie alleine auf die Toilette. In der blindekuh müssen sie zum Ausgang begleitet werden. Damit sich die sehenden Gäste wohlfühlen, brauchen wir mehr Mitarbeitende, als ein herkömmliches Restaurant.
Wie trifft die aktuelle Krise die blindekuh?
CF: Das ist wirklich der Supergau. Anfang des Jahres waren wir noch sehr positiv. Wir hatten das vergangene Jahr gut abgeschlossen und konnten das Eigenkapital leicht aufstocken.
Und Corona hat Sie nun voll getroffen.
CF: Ja, wir haben Kurzarbeit. Unsere Versicherung hat gesagt, dass nur Epidemien, nicht aber Pandemien versichert sind. Immerhin hat sie
für zwei Monate 60 Prozent des Umsatzes gedeckt. Dafür schliesst sie
aber eine zweite Welle explizit aus.
Und der Betrieb selbst?
CF: Es hat wieder angezogen. Wir machen etwa 50 Prozent des Umsatzes des Vorjahres. Wir können natürlich nicht so viele Gäste bedienen wie normal. Wie es weitergeht, wissen wir nicht. Besonders in Basel ist die Situation unsicher.
Was ist speziell in Basel?
CF: Das Restaurant ist als Kubus in eine Industriehalle gebaut. Auf dem Dach haben wir 300 m2 für Events für 300 Personen. Diese Grösse gibt es in Basel kaum. Dieser Teil im Hellen hat mitgeholfen, die blindekuh zu finanzieren. Bis am 29. Februar waren wir für das laufende Jahr total ausgebucht. Dann wurde alles abgesagt. Bis Ende des Jahres gilt die Limite von 100 Personen. Damit wird der Eventraum nicht funktionieren. Das Restaurant alleine hat es schwierig. Das Einzugsgebiet ist klein. Für potenzielle Gäste aus Deutschland oder Frankreich ist der Preisunterschied hoch. Und der Kulturunterschied ist beachtlich: Die Franzosen bspw. wollen sehen, was sie essen.
Haben Sie Lösungsideen?
CF: Wir möchten eine Fundraising-Aktion für den nachhaltigen Erhalt der Arbeitsplätze starten. Es soll nicht das Ziel sein, diese bis Ende des Jahres zu retten. Es geht darum, dass sie langfristig erhalten bleiben. Vor allem das Eigenkapital, das wir jetzt verlieren, müssen wir wiederbeschaffen, damit wir für zukünftige Krisen gewappnet sind. Wir zahlen aktuell drauf. Es geht nicht anders. Ich bin mir bewusst, dass es anderen Betrieben ebenso ergeht. Aber wir werden alles daransetzen, dass wir die Arbeitsplätze erhalten können: Eine blinde Person kann nicht ausweichen. Sie kann nicht notfalls putzen gehen, oder im Tessin oder im Engadin arbeiten. Ein sehender Mitarbeitender in der Gastronomie kann dies notfalls.
Ist eine Unterstützung durch Stiftungen angedacht?
CF: Wir haben schon immer mit Stiftungen zusammengearbeitet. Mit der Unterstützung von Stiftungen konnten wir im vergangenen Jahr in Zürich den Eingang neugestalten. Nach zehn Jahren war in Basel eine Renovation notwendig. Die Herausforderung ist, dass Stiftungen am liebsten Geld
für ein Projekt geben, mit einem Anfang und einem Ende. Der Betrag ist genau abschätzbar. Hierfür finden wir Geld.
Aber für die Folgen der Krise ist es
schwieriger?
CF: Jetzt geht es wirklich um den Erhalt der Arbeitsplätze. Der schnelle Liquiditätskredit des Bundes hat zwar sehr geholfen. Wie viele haben wir diesen noch nicht angetastet. Notfalls werden wir ihn aber brauchen. Dann müssen wir diesen wieder zurückbezahlen. Das ist Ehrensache. Wenn wir in dieser Sache auf Unterstützung
von Stiftungen zählen könnten, würde uns das sehr helfen.
Funktioniert das Konzept eigentlich
immer noch?
CF: Insgesamt hatten wir seit der Gründung rund eine Million Gäste. Gutscheine sind ein sehr gutes Fundraising-Instrument. Der Verkauf ist während der Coronakrise zurückgegangen. Niemand traut sich, jemandem einen Gutschein für die blindekuh zu schenken, solange unklar ist, ob man morgen noch ins Restaurant kann.
JS: Das Team und der Stiftungsrat sind bemüht, ein konstant hohes Niveau zu bieten. Neu haben wir einen Gault-Millau-Koch.
CF: Uns freut dieser Zugang. Der Koch wollte einfach mehr Zeit, um gut zu kochen. Wir legen Wert auf eine hohe Qualität. Dieses Versprechen müssen wir halten.
Und der Name hat sich als Marke etabliert.
JS: Das war einfach riesiges Glück. Der Name blindekuh. Nicht alle Blinden waren begeistert. Einige empfanden es als zynisch. Beim Kinderspiel wird der Blinde gehänselt. Wir hatten lange gerungen. Aber wir mussten einen Namen haben, in dem Blinde in irgendeiner Form vorkommen. Und eine gewisse Selbstironie musste der Namen auch haben. Und wie die Erfahrung zeigt, funktioniert er.
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