Das Theater beschäftigt sich mit unserer Gesellschaft und ist selbst Teil davon, interagiert mit dem Publikum, der Lokalität oder wählt die Schauspielerinnen und Schauspieler.
«Es ist ein grosses Glücksgefühl, endlich wieder für Publikum spielen zu dürfen. Wir konnten voller Leidenschaft die ersten Premieren zeigen», sagt Florian Scholz, Intendant von Bühnen Bern, vormals Konzert Theater Bern. «Kritikerinnen und Kritiker wie auch das Publikum haben begeistert reagiert.» Es ist die zweite Saison, die unter den Pandemie-Bestimmungen startet. Und obschon die aktuelle Situation den Betrieb wieder erlaubt, braucht es Angewöhnung – gerade auch vom Publikum. «Im Verkauf merken wir, dass sich die Menschen erst wieder an ein ‹normales› Leben gewöhnen müssen. Aber wir sind voller Zuversicht, denn die Abonnentinnen und Abonnenten erscheinen beispielsweise wie eh und je.»
Unterwegs zu den Menschen
Theater braucht Publikum, den direkten Kontakt und die authentische Reaktion. Um den Menschen den Zugang zu erleichtern, macht sich Bühnen Bern mit einem Format auf den Weg. «Mit ‹Schauspiel mobil› können wir nun auch die Peripherie bespielen», sagt Florian Scholz. «Wir fahren mit einem Lieferwagen vor, packen aus und spielen ein Theaterstück.» Damit sollen Menschen erreicht werden, die den Weg ins Schauspielhaus nicht, oder noch nicht, gefunden haben. In kleinem Team kommt so das Theater in den ganzen Kanton. «Es ist sehr wichtig, das Theater zur Peripherie zu bringen, um dort eine Schwellenangst abzubauen und diese Menschen vielleicht auch zu einem Theaterbesuch bei uns zu animieren. Unser Theater ist ja für die ganze Umgebung da und nicht nur für die Stadt», sagt Florian Scholz. Als Austragungsorte visiert das Theater Jugendzentren oder Kirchen an, genauso wie Synagogen, Moscheen oder Vereinslokale. Die unterschiedlichsten Aufführungslokale fordern die Akteure, verlangen Respekt und ermöglichen Neues. Anforderungen an die Lokalität gibt es bezüglich Kapazität: Platz für mindestens 80 Zuschauerinnen und Zuschauer sollte sie bieten. Das mobile Theater bleibt komplementär zum prachtvollen Theatergebäude in Bern. «Auch dieses soll ein niederschwelliger Ort sein», sagt Florian Scholz. Damit das Theater für alle zugänglich ist, braucht es eine entsprechende Preisgestaltung. Florian Scholz: «Unser Preisgefüge sollte es bereits allen ermöglichen, die Lust haben, an den Aufführungen teilzunehmen. Aber sicher ist auch hier noch Luft nach oben.»
«Drinnen» versus «draussen»
An einen speziellen Ort nimmt AUSBRUCH sein Publikum mit. AUSBRUCH ist das erste Gefängnistheater in der Schweiz. 2012 gestartet, war es nicht einfach, Justizvollzugsanstalten (JVA) für die Projekte zu gewinnen. «Ein grosses Vertrauen vonseiten der JVA ist vonnöten», sagt Anja Schmitter. Sie ist verantwortlich für Text und Kommunikation bei AUSBRUCH. Die Zurückhaltung ist nachvollziehbar. Der Einlass einer Theatergruppe bedeutet für die Institutionen einen grossen sicherheitstechnischen Aufwand. Erschwerend kam hinzu, dass AUSBRUCH das erste und bis heute einzige Gefängnistheater der Schweiz ist. «Gefängnisdirektionen hatten keine vergleichbaren Erfahrungen», sagt sie.
Doch mit jedem realisierten Projekt stieg das gegenseitige Vertrauen. Aktuell arbeitet das Team an der Reihe «Die 10 Gebote». Mit dieser will das Theaterteam die über 2000 Jahre alten Weisungen in einem künstlerischen, aber auch in einem gesellschaftlichen Kontext neu bearbeiten. «Wir haben das Thema gewählt, weil wir ein grosses Potenzial darin erahnen, mit den Gefangenen über Themen wie Verbrechen, Schuld, Gesellschaft, Regeln usw. in einem spielerischen Rahmen zu sprechen», sagt Anja Schmitter. Gemeinsam werden die Stücke erarbeitet. «Drinnen» versus «draussen», «früher» versus «jetzt» – die Alltagsrealitäten fliessen dabei immer wieder ein. «Haben die Proben begonnen, geht dann sowohl für uns wie für die Gefangenen das Setting im Gefängnis vergessen», sagt sie. Neben dem Künstlerischen fördert die Theaterarbeit vielerlei soziale Kompetenzen der Gefangenen, wie das Agieren im Team, das Erlernen von sicherem Auftreten etc. Das AUSBRUCH-Team ist denn auch überzeugt, dass das Theater zumindest einen kleinen Beitrag zur Resozialisierung der Gefangenen beitragen kann. «Aber wir sehen uns primär als Theateraktivistinnen und ‑aktivisten, die mit Menschen eine Show erarbeiten», sagt sie. Aber auch Transparenz ist ihnen wichtig: «Das externe Publikum erhält beim Besuch des Gefängnistheaters einen einmaligen Einblick in die Realität des Justizvollzugs und somit auch in die Lebensrealität eines weggesperrten Teils der Gesellschaft», sagt Anja Schmitter. «Theater wirkt auf die Zuschauer. Es ist aber auch eine intensive Erfahrung für die Künstlerinnen und Künster.»
Bühnen Bern: Schauspieldirektor Roger Vontobel mit demSchauspielmobil (links). Inszenierung «Rose Bernd» (unten).
Partizipative Kulturprojekte
Der Inhalt des Stücks, die Welt des Publikums und die Realität der Kunstschaffenden – eine Inszenierung kennt viele Elemente in unterschiedlichen Relationen. Leticia Labaronne, Leiterin des Zentrums für Kulturmanagement an der ZHAW, sagt: «Insbesondere bei den darstellenden Künsten, u. a. im Theater, gibt es zum Teil grosse Diskrepanzen im Bereich der sozialen Dimension von nachhaltigem Denken und Handeln». Punkto Soziales bestünde in der Theaterwelt Nachholbedarf, nicht nur im Sinne von partizipativer Unternehmenskultur, sondern auch im Hinblick auf soziale Sicherheit für die Kulturschaffenden. Dies hat die Pandemie deutlich gezeigt.
Kulturorganisationen können aber nach aussen eine soziale Wirkung erzielen. Sie können eine vermittelnde Funktion übernehmen. «Die künstlerisch-kreativen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Themen schaffen den Raum, um über diese Themen nachzudenken.» Gleichzeitig kann Gerade die Theaterarbeit viel bewegen. In einem aktuellen Forschungsprojekt untersucht Leticia Labaronne die Integrationspotenziale von partizipativen Kulturorten und ‑projekten für Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Kultur. Die Ergebnisse zeigen, «dass sich die Mitwirkung bei partizipativen Kulturprojekten positiv auf die gesellschaftliche Teilhabe der Teilnehmenden auswirkt». Die Vielseitigkeit des Theaters, wenn es sowohl kulturelle wie soziale Aspekte abdeckt, macht es nicht zwingend erfolgreicher bei der Generierung von Fördermitteln. «Häufig werden Projekte dieser Art der nicht Integrationsförderung zugeordnet resp. sind den potenziellen Antragstellenden adäquate Fördergefässe nicht bekannt», sagt Leticia Labaronne. Die Einzigartigkeit von AUSBRUCH hat Vor- und Nachteile bei der Suche nach Geldern. Stiftungen erkennen den Mehrwert des Projektes. «Trotzdem ist der Erhalt von Förder- und Stiftungsgeldern für uns nicht weniger schwierig», sagt Anja Schmitter. Ihre Herausforderung: regelmässige Unterstützung bspw. durch Kantone fehlt, weil diese meist an eine Spielstätte geknüpft sind. Als gemeinnütziger Verein wird AUSBRUCH durch das Bundesamt für Kultur subventioniert.
Gefängnistheater AUSBRUCH bei der Probe.
Kulturbetrieb der Zukunft
Leticia Labaronne beobachtet, dass Kulturorganisationen mit einer professionalisierten Mittelbeschaffung erfolgreich im Fundraising agieren. Entscheidend sei, den richtigen «case for support» mit den richtigen Projekten und Zielgruppen zu verknüpfen. «Gerade die Coronakrise hat deutlich gezeigt, dass der Kulturbetrieb der Zukunft nur in enger Partnerschaft mit der öffentlichen Hand, privaten Kulturstiftungen sowie vermehrt dank dem Engagement von Privaten und Unternehmen überleben kann. Erfolgreiche Kooperationen zielen stark darauf ab, Synergien zwischen beiden Parteien sowie neue Narrative zu entwickeln», sagt sie. Die Pandemie hat gezeigt, wie Kulturinstitutionen mit ausserordentlichen Massnahmen Neues ausprobieren. So stellte die Oper Zürich unter «Oper für alle digital – replay» ein Streaming-Angebot kostenlos zur Verfügung. Dazu wurde ein «Pay what you want» erprobt. «Dieses dürfte relevante Erkenntnisse zur Zahlungsbereitschaft der digitalen Besucherinnen und Besucher liefern, was zu einem treffsicheren Pricing für digitale Formate beitragen kann», sagt Leticia Labaronne. Die Folgen der Pandemie verschonten auch Bühnen Bern nicht: «Finanziell hat uns die Möglichkeit, Kurzarbeit anzumelden, das Leben gerettet», sagt Florian Scholz. Die Solidarität sei in dieser Extremsituation enorm wichtig. Geholfen hat, dass Bühnen Bern eine Stiftung ist. «Eine Stiftung passt sehr gut zur gesamtgesellschaftlichen Lebensweise in der Schweiz: Man geht gemeinsame Wege», sagt Florian Scholz. «Für mich, der ich gerade aus Österreich komme, ist das eine neue, sehr bereichernde Erfahrung. Gemeinsamkeit bringt Stärke.»