Karin Perraudin ist Verwaltungsratspräsidentin der Groupe Mutuel Holding und Stiftungsratspräsidentin der Stiftung Groupe Mutuel. Die gemeinnützige Stiftung ist Besitzerin der Holding. Karin Perraudin sagt, weshalb dies die richtige juristische Form für den Versicherer ist und was ihr eigenes soziales Engagement beeinflusst.
Der Versicherer Groupe Mutuel gehört einer gemeinnützigen Stiftung. Wie kam es dazu?
2017 haben wir überlegt, der Gruppe eine neue juristische Struktur zu geben. Damals waren als Verband organisiert. Wir wollten aber unsere Governance verbessern und mit einer pyramidalen Struktur mit der Stiftung Groupe Mutuel an der Spitze eine einfachere und verständlichere Struktur haben. Sie ist Besitzerin der Holding, der die verschiedenen Gesellschaften der Gruppe gehören, wie Grund- und Privatversicherer, Servicegesellschaft und Vermögensverwaltung.
Weshalb wählten Sie diese Struktur?
Wir wollten mehr Transparenz. Wir wollten eine Struktur, die einfach zu kommunizieren ist. Und wir wollten eine juristische Form ohne Gewinnziel und ohne private Aktionäre. Wir verteilen keine Dividenden, sondern investieren in die Qualität der Dienstleistungen für unsere Versicherten.
Weshalb war das wichtig?
Wir sind ein wichtiger Akteur des Schweizer Gesundheitssystems. Krankenversicherung ist ein sensibles Thema. In der obligatorischen Grundversicherung erfüllen wir einen staatlichen Auftrag. Deswegen wollten wir, dass das Unternehmen den Versicherten gehört. Und die Groupe Mutuel sollte soziale Verantwortung übernehmen. Deswegen war es uns wichtig, dass auch ein Teil des Jahresergebnisses in soziale Projekte in Verbindung mit dem Thema Gesundheit fliesst.
Gab es Alternativen?
Eine Genossenschaft war auch eine Möglichkeit. Aber mit 1,3 Millionen Versicherten erachteten wir diese Form als zu komplex.. Eine Stiftung ist eine einfachere Form, dynamischer und schneller in den Entscheidungen.
Stiftungen haben einen festen Stiftungszweck. Hatten Sie keine Befürchtungen, …
… dass uns dies in unserer Entwicklung blockieren könnte? Nein. Die Stiftung ist Besitzerin der Holding. Sie hat den Zweck, sich für Gesundheit, Forschung und Prävention zu engagieren. Die Ziele der Holding dagegen sind breiter. Sie ermöglichen es uns, unsere Strategie umzusetzen, in neue Geschäfte zu investieren oder unser Angebot durch Firmen übernahmen auszubauen.
Karin Perraudin ist Präsidentin des Verwaltungsrats der Groupe Mutuel Holding AG sowie der Stiftung Groupe Mutuel. Sie war Präsidentin der Verwaltungsräte der Walliser Kantonalbank und der Klinik Valère. Sie ist Mitglied der Verwaltungsräte von Fenaco und des Flughafens Genf. Schliesslich war sie von 2001 bis 2009 Abgeordnete im Grossen Rat des Kantons Wallis.
Wie alimentiert die Holding die Stiftung?
Zu berücksichtigen ist, dass ein wichtiger Geschäftsbereich unserer Gruppe die Krankengrundversicherung bildet. In diesem Bereich, der dem Krankenversicherungsgesetz KVG unterliegt, dürfen wir keine Gewinne machen.. Allfällige Gewinne fliessen in die Reserven der Grundversicherung. Gewinne können wir in den anderen Versicherungszweigen erzielen. Diese Mittel investieren wir in die Verbesserung des Kundenservices oder den Ausbau digitaler Angebote. Ein Teil der Gewinne geht an die Stiftung. Das sind ein bis zwei Millionen Franken pro Jahr.
Was macht die Stiftung mit diesen Mitteln?
Die Aktivitäten der Stiftung teilen sich in drei Bereiche. Erstens unterstützt sie einzelne Versicherte, die sich aufgrund eines gesundheitlichen Problems in einer schwierigen persönlichen Situation befinden. So haben wir etwa kürzlich ein Kind unterstützt, das aufgrund eines Unfalls jährlich eine neue Brille benötigt. Die Grundversicherung übernimmt nur einen sehr kleinen Teil dieser Kosten. Zweitens fördern wir gemeinnützige Organisationen, die sich im Bereich der Gesundheit engagieren. Als Partnerin der Stiftung Laureus fördern wir soziale Sportprojekte für Kinder und Jugendliche.
Und der dritte Bereich?
Wir unterstützen Forschung, die das Schweizer Gesundheitswesen stärkt und verbessert.
Was wäre ein Beispiel?
Aktuell fördern wir ein Projekt, das ein Finanzierungssystem von Behandlungen erforscht, das stärker von der Qualität der Versorgung als von der Quantität abhängt. Unabhängige Expertinnen und Experten ermitteln so Verbesserungsmöglichkeiten für unser Gesundheitssystem.
Wie wählt die Stiftung die Projekte aus?
Anfragen gelangen heute zu uns, ohne dass wir dazu kommunizieren müssen. Zuerst analysieren wir, ob diese Anfragen zum Stiftungszweck passen und beurteilen die Projekte. Eine Vorauswahl geht an den Stiftungsrat. Er entscheidet. Wir unterstützen rund 80 Prozent der Anfragen, die dem Stiftungszweck entsprechen.
Sie unterstützen einzelne Versicherte. Versagt unser Gesundheitssystem, dass dies überhaupt notwendig ist oder ist es eine Stärke unseres Systems, dass es für diese Fälle andere Möglichkeiten gibt?
Aus meiner Sicht klar das zweite. Wir haben ein leistungsstarkes Gesundheitssystem von hoher Qualität. Die Grundversicherung deckt viele Behandlungen ab, insbesondere lebensnotwendige. Bei den Anfragen nach individueller Unterstützung handelt es sich um Einzelfälle. Das können sehr komplexe Fälle oder einzigartige Situationen sein kombiniert mit einer finanziell schwierigen Familiensituation. Es sind seltene Fälle. Das zeigt, unser System funktioniert. Und für die Ausnahmen gibt es Organisationen wie unsere Stiftung, die komplementär agieren.
«Das zeigt, dass unser System funktioniert»
Karin Perraudin
Wird die Rolle der Stiftungen wichtiger?
Ich persönliche glaube, dass Stiftungen, die sich für soziale Anliegen engagieren, an Bedeutung gewinnen werden. Wir haben eine starke staatliche Unterstützung. Diese genügt aber nicht in jedem Fall. Zudem werden heute Probleme, bspw. Gewalt in der Ehe, offener angesprochen. Diese Menschen in schwierigen Situationen richten sich an Stiftungen. Diese leisten unersetzliche Arbeit für die Gesellschaft.
Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit bei sozialen Projekten? Sie kennen Politik, Privatwirtschaft und Stiftungswelt aus eigener Erfahrung.
Die Stärke der Schweiz ist, dass verschiedene Akteure zusammenarbeiten. Staat, Privatwirtschaft und Organisationen wie Stiftungen weisen viele ergänzende Kompetenzen auf. Die Zusammenarbeit funktioniert gut. Das können wir noch fördern. Es ist zum Wohl der gesamten Gesellschaft. Der Staat garantiert eine Basis. Um seine Mission zu erfüllen nutzt er oft die juristische Form einer Stiftung für Subventionen: Eine Stiftung ist überwacht und profitiert gleichzeitig von einer gewissen Unabhängigkeit. Und schliesslich ist da noch die Privatwirtschaft, die bei der Integration oder Wiedereingliederung eine Rolle spielt.
Was ist der Vorteil der Privatwirtschaft?
Sie ist leistungsstark. Wir sehen dies bei den Krankenversicherern. Wir haben ein liberales System, in dem der Wettbewerb stark und profitabel ist. Gleichzeitig haben wir eine strenge Reglementierung für das ganze System. Der Vorteil der Privatwirtschaft ist, dass stets versucht wird, die Betriebskosten niedrig zu halten. Verbinden wir diese verschiedenen Formen und Akteure profitiert das System als Ganzes.
Wo finden Sie neben Ihren beruflichen Aufgaben die Zeit für Ihr ehrenamtliche Tätigkeit?
Ich hatte viel Glück und durch meine Funktionen und Verantwortlichkeiten viel erreicht. Es schien mir nur logisch, auch etwas von meiner Zeit zurückzugeben. Es gibt mir viel Befriedigung. In meinem Berufsleben ist oft alles auf Rentabilität und Gewinn ausgerichtet. Bei den ehrenamtlichen Engagements zählt anderes. Das erlaubt einen guten Ausgleich.
Sie mussten aber auch selbst einen harten Schicksalsschlag verkraften.
Es ist heute einfacher darüber zu sprechen. Vor zehn Jahren habe ich eine Tochter verloren. Aber Sie haben Recht, dieses Erlebnis anzusprechen. Es hat viele Dinge in meinem Leben und auch einige Prioritäten verändert. Diese Lebenserfahrung hat die Werte gestärkt, für die ich heute einstehe. Wenn man gewisse tragische Momente erlebt hat, erfährt man auch, was wichtig ist und was weniger. Wichtig sind das Umfeld, das Menschliche und die Werte, die bleiben. Man relativiert viel nach so einem Erlebnis. Und für gewisse meiner Engagements hat es mich zusätzlich motiviert. Dazu zählt insbesondere das Engagement für les Pinceaux magiques. Die gemeinnützige Organisation erfreut Kinder im Spital mit Malerei.
Weshalb wählten Sie diese Organisation?
Es gibt viele Eltern, die eine eigene Stiftung gründen zum Gedenken an ihr Kind. Ich habe einen anderen Weg gewählt. Ich wollte meine Zeit für eine Organisation einsetzen, die sich um Kinder im Spital kümmert. Meine Tochter war viele Monate lang im Krankenhaus und ich konnte sehen, dass die Aktionen dieser und anderer Organisationen für Kinder und ihre Eltern unersetzlich sind.
Kannten sie les Pinceaux magiques schon vorher?
Ich habe sie kennengelernt, als meine Tochter im Spital war. Ich konnte das Lachen der Kinder sehen, wenn die Animateure zum Malen ins Spital kamen. Das Malen gab den Kindern das Lachen zurück. Vor allem aber bedeutet die Beschäftigung der Kinder Freizeit für die Eltern. Eltern mit einem Kind im Spital verbringen Stunden im Spital damit, den Kindern beim Atmen zuzusehen. Wenn sie nur schon für 15 Minuten einen Kaffee trinken können ist das eine enorme Pause zum Atmen.
Was hat Ihnen damals geholfen?
Ich habe das Glück eines starken Zusammenhalts in der Familie. Zudem haben mich sehr enge Freunde unterstützt. Das hilft. Ein solches Erlebnis erlaubt es umgekehrt, den Wert dieser Freundschaften zu schätzen und diese zu kultivieren.
Sie hatten keine Unterstützung durch Organisationen?
Ich durfte feststellen, dass es viele Organisationen gibt, die mich unterstützt hätten. Dank meiner Familie und Freunde brauchte ich sie nicht. Aber die Organisationen waren immer da. Sie sind auf uns zugekommen. Sie haben uns Hilfe angeboten. Wir haben Menschen in unserem Umfeld, die auf diese Unterstützung angewiesen waren. Das hat mir gezeigt, wie wichtig diese Organisationen sind. Manche Menschen finden sich sehr schnell in einer komplizierten oder sogar dramatischen Situation wieder, wenn das eigene Kind krank ist oder im Krankenhaus liegt. Es braucht bspw. ein Entgegenkommen des Arbeitgebers. Wer alleine ist, braucht viel Hilfe. Dazu sind diese Organisationen da.
Karin Perraudin: «Das Wichtigste ist das Umfeld, die Menschen, die Werte, die uns am Herzen liegen.»
Sie haben noch weitere soziale Engagements. Sie sind Stiftungsratspräsidentin der Fondation Fovahm.
Sie nimmt Erwachsene mit geistiger Behinderung auf, begleitet sie und bildet sie aus. Ihre Aufgabe ist es, ein angepasstes Lebensumfeld zu schaffen und die soziale und berufliche Integration dieser Menschen zu fördern.
Hat die Pandemie diese Arbeit erschwert?
Ja. Die Pandemie hat von uns allen Flexibilität und Agilität gefordert. Für die Menschen mit Beeinträchtigung ist dies zum Teil kompliziert. Wenn man ihnen erklären muss, dass sie für eine unbestimmte Zeit nicht arbeiten können und zu Hause bleiben müssen erfordert dies viel Zeit, um sich darauf einzustellen. Auch gibt es gesundheitliche Fragestellungen?
Das heisst?
Je nach Beeinträchtigung ist eine Impfung nicht möglich.
Wie haben die Arbeitgeber reagiert?
Während der Pandemie hielten die meisten Unternehmen ihre Integrationspläne aufrecht. Die Arbeitgeber sind sich heute ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst. Wir verzeichnen einen Zuwachs von Unternehmen, die Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung schaffen. Die soziale Verantwortung ist heute eng verknüpft mit der Nachhaltigkeit.
Hilft es, dass in Stiftungsräten oft Wirtschaftsvertreterinnen wie Sie sitzen, welche die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Privatwirtschaft kennen?
In jedem Stiftungs- oder Verwaltungsrat ist es wichtig, Diversität der Kompetenzen, der Erfahrungen und der Sensibilitäten zu haben. Stiftungsrätinnen und ‑räte aus der Wirtschaft können ihr Netzwerk nutzen, um etwa Unternehmen zu finden, die sich an einem solchen Integrationsprojekt beteiligen. Aber sie können auch dazu beitragen, die Stiftung bekannt zu machen und Mittel zu generieren. Und nicht zuletzt bringen sie professionelle Verwaltungskompetenzen mit. Dies trägt zur Professionalisierung dieser Stiftungen und Organisationen bei.
Nachhaltigkeit ist heute ein Verkaufsargument. Ist es für die Groupe Mutuel Versicherten wichtig, dass das Unternehmen einer Stiftung gehört?
Dass wir einen Teil unseres Gewinns in soziale Engagements zurückgeben trägt sicher zu unserem positiven Image bei. Aber die Argumente, weswegen Versicherte zu uns kommen oder bleiben wollen sind andere. Es zählen die Höhe der Prämien, die Qualität des Kundendienstes, die Qualität der Dienstleistungen und die Nähe.
Und für die Mitarbeitenden? Ist die Stiftung ein Grund, stolz auf den Arbeitgeber zu sein?
Ja, das glaube ich. Zu unserer Unternehmenskultur gehören die Werte hilfsbereit, proaktiv und verantwortungsbewusst. Es ist daher wichtig, dass die Stiftung diese Werte in ihrem eigenen Handeln vermittelt, insbesondere durch Wohltätigkeit gegenüber anderen.