Was waren die Ursprünge von Blindspot?
Das Ziel war und ist es, ein inklusives gesellschaftliches und wirtschaftliches System zu verwirklichen. In diesem kann jeder Mensch, egal mit welchen Fähigkeiten, selbstbestimmt teilhaben. Wir brauchen heute eine vielfältige und diverse Gesellschaft, um die Probleme zu lösen. Mit unterschiedlichen Menschen können wir Probleme zu Chancen wandeln und Schwächen mit gegenseitigen Stärken eliminieren. Kurz gesagt: Ich habe Blindspot gegründet, weil Separation eine Sackgasse ist und Inklusion der Weg, der aus dieser führt.
Wie haben sich die Ziele im Laufe der Zeit entwickelt?
Das oberste Ziel hat sich nicht verändert. Ich wollte etwas bewegen, verändern und zeigen, dass es auch anders geht. Damals fehlten die Beweise noch. Es gab noch keine UNO-Behindertenkonvention. Heute können wir mit Best-Practice-Beispielen zeigen, dass ein inklusiver Ansatz funktioniert.
Wir stellen die Menschen ins Zentrum und nicht die Institutionen.
Jonas Staub, Social-Entrepreneur und Gründer Blindspot
Was bewirkt Ihr Streben nach Veränderung?
Wir kämpfen gegen ein professionalisiertes und gesellschaftlich verankertes Förderungs- und Unterstützungssystem an. Dieses setzt auf Trennung. Wir dagegen stellen die Menschen ins Zentrum und nicht die Institutionen. Mit unseren Beispielen können wir heute zeigen, wie es funktioniert. Damit stellen wir uns aber auch in den Gegenwind: Denn verändert sich das System, werden Institutionen an Einfluss und finanziellen Mitteln verlieren.
Wie kann Blindspot den grössten Beitrag zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention leisten?
Am wichtigsten ist, dass wir etliche Menschen mit und ohne Beeinträchtigung sensibilisiert haben. Wir zeigen den Mehrwert für alle auf. Und weil wir mit Arbeit, Wohnen, Freizeit und Bildung in den wichtigsten Lebensbereichen tätig sind, können wir hier mit Best-Practice-Beispielen zeigen: es funktioniert. Um dies langfristig zu verankern, nutzen wir den Motor der Wirtschaft, und nicht die Politik. Wir bieten alles auf dem freien Arbeits‑, Wohn- und Freizeitmarkt an und überzeugen mit Qualität. Denn die UNO-Behindertenrechtskonvention ist ein Menschenrecht, und keine Alternative.
Mit Behindertengleichstellungsgesetz und ratifizierter UNO-Behindertenrechtskonvention: Wo hat die Schweiz den grössten Nachholbedarf bei der Gleichstellung?
In der Politik. Die Politik könnte die Finanzströme ändern. Anstatt der Objektfinanzierung an die Institutionen setzen wir uns für einen Wechsel zur Subjektfinanzierung zu den Menschen ein. Wir müssen ein System entwickeln, in dem Menschen mit Beeinträchtigung unter Beizug ihres engsten Umfeldes – Familie, Beistandschaft, Berater:innen – selbst entscheiden können, wie sie ihr Geld einsetzten: Wo sie wohnen und arbeiten wollen, wie sie reisen möchten und welche Ausbildung sie machen möchten etc. Dazu braucht es ein Beratungsangebot. Aktuell ist es eher ein Entscheidungsangebot: Es wird für die Menschen mit Beeinträchtigung entschieden, wo sie wohnen und arbeiten sollen.
Inklusion ist etwas Natürliches. Nur braucht es dazu die Möglichkeiten.
Jonas Staub
Weshalb wird das heute nicht geändert?
Es fehlt an jeglicher nationaler Strategie auf der politischen Ebene, um die UNO-Behindertenrechtskonvention umzusetzen.
Blindspot zeigt bereits heute, wie Inklusion geht. Wie funktioniert das inklusive Wohnprojekt?
Es ist deinstitutionalisiertes Wohnen. Menschen mit und ohne Beeinträchtigung leben normal in einer Wohnung. Die Menschen, die dort wohnen, erhalten einen normalen Untermietvertrag und verwalten die Wohnung selbst. Sie buchen sich zudem das Coaching, das sie brauchen. Es ist also auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Sie bestimmen, was sie brauchen und was nicht. Um eine gewisse Nachhaltigkeit gegenüber den Immobiliengesellschaften zu garantieren, mietet Blindspot die Wohnungen.
Welche Auswirkungen hat es auf die Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen?
Es hat eine sehr grosse Auswirkung. Sie lernen Verantwortung für sich selbst und ihr Umfeld zu übernehmen. Unsere Gesellschaft spricht dies Menschen mit Beeinträchtigung kaum bis gar nicht zu.
Wo konnten Sie Wohnungen finden?
Es handelt sich um Wohnungen in beliebten und belebten Stadtteilen von Bern. So lernen die Menschen mit Beeinträchtigung ihr Umfeld kennen und inkludieren sich ganz natürlich. Inklusion ist etwas Natürliches. Nur braucht es dazu die Möglichkeiten.
Welches waren die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung des inklusiven Wohnprojekts?
Am Anfang war die grösste Herausforderung, überhaupt an Wohnungen zu kommen. Wohngemeinschaften sind bei Liegenschaftsverwaltungen nicht gerade beliebt. Daher war die Beziehungsarbeit unglaublich wichtig. Wir mussten die Immobiliengesellschaften und Verwaltungen mit unserem Konzept überzeugen. Wir konnten auch eine private grössere Liegenschaft und die Stadt Bern selbst mit an Bord holen für unser inklusives Wohnprojekt.
Wie vernetzt sich Blindspot mit anderen Organisationen und Gleichgesinnten, um die Inklusion zu fördern?
Seit der Gründung setzen wir auf Netzwerkarbeit mit Organisationen innerhalb der «Behinderungsbranche» und eben auch ausserhalb wie Verbände und Behörden, Politik und Wirtschaftskreise. Jene ausserhalb sind entscheidend, weil diese die Inklusion in unserer Gesellschaft tragen müssen.
Wir möchten zeigen, wie einfach es ist, Menschen mit Beeinträchtigung im ersten Arbeitsmarkt zu inkludieren.
Jonas Staub
Welche Rolle spielt das Projekt «Arbeitsmarkt inklusiv» bei der Sensibilisierung von Arbeitgebern für die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen?
Das Projekt Arbeitsmarkt inklusiv ist der Schauplatz für unsere Best-Practice Beispiele in der Wirtschaft. Wir möchten zeigen, wie einfach es ist, Menschen mit Beeinträchtigung im ersten Arbeitsmarkt zu inkludieren und ihre Stärken und ihre Produktivität zu nutzen.
Unterstützt Blindspot andere Arbeitgeber:innen bei der Schaffung inklusiver Arbeitsstrukturen?
Ja. Mit unserem Ausbildungsprojekt. Wir begleiten Menschen mit Beeinträchtigung und ihre Arbeitgeber in ihrer Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt in unterschiedlichen Branchen. Diese wird auch meist von der IV finanziert.
Welche langfristigen Ziele verfolgt Blindspot im Hinblick auf eine nachhaltige Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen im Arbeitsmarkt?
Wir wollen den Arbeitsmarkt revolutionieren. Nach dem Motto: Jedes Prozent an Leistung ist ein Prozent mehr Leistung in der Wirtschaft. Im Moment ist unsere Wirtschaft so ausgerichtet, dass jeder Mensch mindestens 70 bis 80 Prozent Leistungsfähigkeit braucht, um im ersten Arbeitsmarkt arbeiten zu dürfen bzw. als Mehrwert angesehen zu werden. Wir sehen es so: Jeder Mensch kann einen Mehrwert bringen und ein diverses Team ist produktiver als ein homogenes. Womit wir bei meiner ersten Antwort sind: Wir können mit unseren Best-Practice Beispielen – wie auch mit verschiedenen Studien – beweisen, dass inklusive Teams produktiver und sozial kompetenter werden, dass es weniger Burnouts und sonstige psychische Erkrankungen gibt, dass die Mitarbeitenden länger im Unternehmen bleiben und vieles mehr.