Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz

Amnesty Inter­na­tio­nal: Konflikte sind auf Rekordniveau

Vor 75 Jahren hat die UNO-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz Alexandra Karle sieht heute einen grossen Graben zwischen Erklärung und Realität und sagt, dass auch in europäischen Staaten die Repressionen gegen Menschenrechtsorganisationen zunehmen.

Am 10. Dezem­ber ist der Tag der Menschen­rechte: Vor 75 Jahren hat die UNO-Gene­ral­ver­samm­lung die Allge­meine Erklä­rung der Menschen­rechte (AEMR) verab­schie­det. Wie hat sich die Bedeu­tung der Erklä­rung in der Gesell­schaft seit­her verändert?

Die Allge­meine Erklä­rung der Menschen­rechte ist noch immer die Grund­lage und der Leucht­turm der Menschen­rechte. Heute klafft aber ein tiefer Graben zwischen der Erklä­rung und der Reali­tät. Nie mehr Krieg war das Verspre­chen damals. Heute kämpft die Welt mit Konflik­ten auf Rekord­ni­veau, dem erneu­ten Aufstieg von Auto­kra­tie und Despo­tis­mus. Popu­lis­ten welt­weit schü­ren Hass und Spal­tung. Gleich­zei­tig scheint die Staa­ten­ge­mein­schaft gelähmt ange­sichts der exis­ten­zi­el­len Bedro­hung durch den Klimawandel.

Wie wirken sich die aktu­el­len Krisen auf den Umgang der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft mit den Menschen­rech­ten aus?

Menschen­rechte werden zuneh­mend nur noch selek­tiv durch­ge­setzt: man fordert sie bei ande­ren Staa­ten ein, verletzt aber selbst welche. Diese Doppel­stan­dards berei­ten uns grosse Sorgen. Ange­fan­gen beim mäch­tigs­ten Gremium der Welt, dem Uno-Sicher­heits­rat. Dieser ist durch Gross­mächte blockiert, die selbst funda­men­tale Regeln miss­ach­ten und umfang­rei­che Menschen­rechts­ver­let­zun­gen begehen.

Der Uno-Sicher­heits­rat ist durch Gross­mächte blockiert, die selbst funda­men­tale Regeln miss­ach­ten und umfang­rei­che Menschen­rechts­ver­let­zun­gen begehen.

Alex­an­dra Karle, Geschäfts­lei­te­rin Amnesty Inter­na­tio­nal Schweiz

Arti­kel 1 – «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rech­ten gebo­ren. Sie sind mit Vernunft und Gewis­sen begabt und sollen einan­der im Geist der Soli­da­ri­tät begeg­nen.» – bildet die Grund­lage der Arbeit von Amnesty inter­na­tio­nal. Gibt es unter­schied­li­che Inter­pre­ta­tio­nen davon, was mit dem «Geist der Soli­da­ri­tät» gemeint ist?

Ich verstehe die Soli­da­ri­tät als Aufruf, sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um das Wohl ande­rer Menschen zu kümmern. Es geht im Grunde um die Kraft der Mensch­lich­keit. Die geht mitun­ter verlo­ren. Denken wir nur an das Zurück­stos­sen von manö­vrier­un­fä­hi­gen Schlauch­boo­ten voller Menschen auf der Flucht ins offene Meer. Dabei ertrin­ken regel­mäs­sig Frauen, Männer, Kinder, aber das scheint viele Menschen in Europa nicht mehr zu berüh­ren. Wir haben das Glück, in einem siche­ren und wohl­si­tu­ier­ten Land zu leben. Vielen Menschen ist dies nicht vergönnt. 

Wo steht die Schweiz bei der Durch­set­zung der Menschenrechte?

Die Schweiz hat einen guten Menschen­rechts­schutz und funk­tio­nie­rende Insti­tu­tio­nen. Doch die Heraus­for­de­run­gen sind auch hier gross. Bei der Inklu­sion von Menschen mit Behin­de­run­gen oder der Betreu­ung beson­ders verletz­li­cher Geflüch­te­ter, insbe­son­dere unbe­glei­te­ter Minder­jäh­ri­ger, besteht Hand­lungs­be­darf. Viel zu nach­läs­sig ist die Schweiz bei ihren Mass­nah­men gegen die drohende Klima­ka­ta­stro­phe oder der Kontrolle multi­na­tio­na­ler Konzerne und deren Geschäf­ten im globa­len Süden.

Sehe der Alltag in der Schweiz anders aus, ohne die Allge­meine Erklä­rung der Menschenrechte?

Vielen ist nicht bewusst, welchen Einfluss die Allge­meine Erklä­rung der Menschen­rechte auch auf unser ganz priva­tes Leben hat. Viele Rechte, die wir hier als «normal» empfin­den und Teil der Bundes­ver­fas­sung sind, leiten sich aus der AEMR und den Folge­ab­kom­men der UNO ab. Um nur einige zu nennen: Die Frau­en­rechts­kon­ven­tion, die Kinder­rechte oder der Schutz und die Aner­ken­nung der Rechte von LGBTQI*-Personen – diese Errun­gen­schaf­ten sind aus unse­rem Alltag nicht mehr wegzudenken.

In verschie­de­nen Ländern werden Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und andere NGOs in ihrer Arbeit behin­dert. Wie schät­zen Sie die aktu­el­len Entwick­lun­gen ein? 

Wir beob­ach­ten welt­weit eine zuneh­mende Einschrän­kung des Raums der Zivil­ge­sell­schaft und wach­sende Repres­sion gegen Menschenrechtsverteidiger:innen – nicht nur in auto­kra­tisch regier­ten Ländern wie Russ­land oder China, sondern auch in euro­päi­schen Staa­ten wie Ungarn oder Polen. 

Vielen ist nicht bewusst, welchen Einfluss die Allge­meine Erklä­rung der Menschen­rechte auch auf unser ganz priva­tes Leben hat.

Alex­an­dra Karle

Sehen Sie auch in der Schweiz kriti­sche Tenden­zen, die Ihre Arbeit erschweren?

Es gibt auch in der Schweiz die Versu­che, Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen die Finan­zie­rung zu erschwe­ren, etwa indem die Steu­er­be­frei­ung in Frage gestellt wird oder staat­li­che Gelder gestri­chen werden – wie zuletzt im Fall paläs­ti­nen­si­scher NGO. Zudem drohen Einschrän­kun­gen der Meinungs­äus­se­rungs- und Pres­se­frei­heit, so bei Recher­chen zum Finanz­platz. Eine Gefahr sehen wir auch in juris­ti­schen Prozes­sen gegen Investigativ-Journalist:innen und NGOs, soge­nann­ten SLAPP-Klagen, mit denen Unter­neh­men versu­chen, mit Millio­nen­kla­gen gegen Recher­chen vorzu­ge­hen und Veröf­fent­li­chun­gen zu verhin­dern. Da Amnesty Inter­na­tio­nal weder Spen­den von Firmen noch staat­li­che Gelder für die Recher­che- und Kampa­gnen­ar­beit annimmt, können wir Kritik auch gegen mäch­tige Akteure offen äussern. Diese Unab­hän­gig­keit ist eine der gros­sen Stär­ken unse­rer Organisation.

Wo sehen Sie noch Poten­zial, wie auch andere NGOs oder gemein­nüt­zige Orga­ni­sa­tio­nen einen Beitrag zur Stär­kung der Menschen­rechte leis­ten können?

Wir arbei­ten bereits heute eng zusam­men mit ande­ren NGO, Bewe­gun­gen und gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­tio­nen – etwa beim Schutz von Geflüch­te­ten, bei der Vertei­di­gung von Frau­en­rech­ten oder im Kampf gegen die Straf­lo­sig­keit von Völker­rechts­ver­bre­chen, bei der Konzern­ver­ant­wor­tung für den Schutz von Menschen­rech­ten und Umwelt bei Geschäf­ten im Ausland. Menschen­rechte beschrän­ken sich nicht auf eine Orga­ni­sa­tion oder ein poli­ti­sches Lager. Eine leben­dige, viel­sei­tige Zivil­ge­sell­schaft ist Ausdruck einer freien Gesellschaft.

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