Sie wollen eine neue Kultur des Gebens schaffen. Fehlt Brasilien diese Kultur?
Wir haben in Brasilien ein grosses Problem. Seit der Kolonisation sind wir ein Land, in dem die Menschen wenig Vertrauen haben, nicht in die Institutionen und nicht in andere Menschen.
Was bedeutet dies für den dritten Sektor?
Auch diesem fehlt das Vertrauen. Die Menschen haben Angst zu spenden. Und die grossen sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft verschärfen das Problem.
Das verhindert das Spenden?
Wenn ich Geld spende, denken die Menschen, ich sei zu reich, ich hätte zu viel. Sich mit Geld zu exponieren ist zudem ein Sicherheitsproblem. Wir haben in Brasilien eine enorme Herausforderung mit Gewalt. Es gibt auch andere Einflüsse, die Menschen davon abhalten, über wohltätige Ausgaben zu sprechen: Oft wird impliziert, dass diejenigen, die spenden, dies aus einem Schuldgefühl heraus tun und nicht darüber sprechen sollten.
Sehen Sie auch Positives?
Trotz allem haben wir eine starke Zivilgesellschaft. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir ein besseres, stärkeres Ökosystem aufbauen können.
Inwiefern?
In der Pandemie war es wunderbar zu beobachten, mit welcher Geschwindigkeit der private und der dritte Sektor Lösungen realisierten. Genau dieses Beispiel können wir als Grundlage nehmen. Und nun müssen wir darauf hinarbeiten, das Verhalten der gesamten Gesellschaft zu ändern und zu zeigen, dass wir eine grosszügige Gesellschaft sind. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Woran sehen Sie das?
Im World Giving Index hat sich Brasilien in den vergangenen Jahren auf Platz 18 deutlich verbessert. Aber wir müssen noch besser werden. Für viele bleibt Philanthrope ein Thema für die Superreichen. Für sie ist spenden lediglich eine Handlung in der Krise: Sie sehen einen Notfall, Hilfe ist gefordert, sie spenden.
Und die Menschen sollen nicht nur im Notfall spenden?
Spenden soll ein selbstverständlicher, ziviler Akt werden. Dazu müssen wir das Vertrauen stärken, die Datenbasis verbessern, das Steuersystem anpassen und affine Menschen im Ökosystem besser darauf vorbereiten. Die Leute müssen das System verstehen.
«Die Philanthropie selbst ist eine Lösung, aber gleichzeitig sind ihre Wurzeln auch eines der Probleme, die sie lösen soll»
Rodrigo Pipponzi
Sie spenden den ganzen Gewinn, den die Produkte ihres Unternehmens erzielen. Wie kamen Sie auf die Idee, MOL als soziales Unternehmen zu gründen?
Ich komme aus einer Unternehmerfamilie. Schon immer wollte ich meine eigenen Ideen umsetzen. So habe ich 2003 die Kommunikationsagentur MOL gegründet und schnell gelernt, dass Kommunikation ein mächtiges Tool ist. Sie kann das Verhalten von Menschen ändern. Es ist ein wichtiges Werkzeug für eine Transformation.
Und wie kam die Idee des Spendens zur Geschäftsidee?
Meine Familie ist eng mit dem Gründer von GRAACC befreundet. GRAACC ist eine der wichtigsten Organisationen im Kampf gegen Krebs bei Kindern in Brasilien. Sie arbeiten gratis für Familien und Kinder im ganzen Land. In dieser Organisation habe ich Freiwilligenarbeit kennengelernt. Und GRAACC lehrte mich die Liebe zur Philanthropie. Ich lernte die Herausforderungen im Fundraising verstehen. Während ich mein Unternehmen aufbaute, tauchte ich gleichzeitig in den dritten Sektor ein.
Wie haben Sie beides verbunden?
Wir haben ein Magazin, Sorria – Lächeln, lanciert. Dieses verkauften wir zu einem sehr günstigen Preis und spendeten den Gewinn an GRAACC. Verkauft haben wir es über die Drogeriekette meiner Familie.
Hat die Idee funktioniert?
Die erste Auflage betrug 120’000 Exemplare. Sie war in drei Wochen ausverkauft. Wir konnten 270’000 Brasilianische Real spenden, das sind über 50’000 Franken. Wir haben die Idee skaliert. Fünf Jahre später konnte GRAACC mit den Spenden ein neues Spital bauen. Heute publizieren wir verschiedene Produkte, spenden an rund 200 NGOs und konnten schon über 63 Millionen Real spenden.
Speziell ist auch, dass Ihr Magazin positive Geschichten erzählt.
Ja. Es ist ein Kollateraleffekt. Wir schreiben Inhalte für eine bessere Gesellschaft. Die Geschichten sollen das Leben von Familien verbessern. Sorria umfasst heute eine Reihe von Büchern und anderen Produkten mit positivem Inhalt.
Rechts: Rodrigo Pipponzi mit Roberta Faria, Mitbegründerin und derzeitige Geschäftsführerin des Instituto MOL. Oben: Das Team der Jornada Doadora, einem Projekt, das vom Instituto MOL durchgeführt wird. Das Ziel dieser ersten Ausgabe des Programms ist es, das Team zu informieren und zu ermutigen, Spender zu werden und ihre Spende-Gewohnheiten mit ihrer Familie und ihren Freunden zu teilen.
Sind sich die Käufer:innen bewusst, dass sie ein Produkt kaufen, dessen Gewinn gespendet wird?
Wir kommunizieren auf dem Produkt transparent, wie sich der Verkaufspreis zusammensetzt und wohin die Spendengelder fliessen. Das macht das Spenden sehr einfach. Wir müssen niemanden um eine Spende anfragen. Wir bieten ein cooles Produkt – und wenn es gefällt, kaufen es die Menschen regelmässig. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, wie meine Arbeit der Gesellschaft dienen kann.
Wo steht das Projekt heute?
Wir haben das Unternehmen als Gruppe ausgeweitet. Es vereint heute verschiedene Initiativen. Das Instituto MOL, unser NPO, setzt sich für die Förderung der Philanthropie bei Menschen und in Unternehmen ein. Unter dem Namen Varejo com Causa haben wir eine Bildungsplattform geschaffen, um Fachleute zu schulen, wie sie Philanthropie und soziale Investitionen besser in ihre Strategie integrieren können. Die ganze Gruppe verfolgt die Mission: Wir wollen eine spendende Nation.
Hat Brasilien ein gemeinsames Verständnis von Philanthropie?
Unter Expert:innen, die in der Philanthropie engagiert sind, gibt es ein gemeinsames Verständnis. Aber Brasilien hat über 200 Millionen Einwohner:innen mit grossen sozialen Unterschieden. Wir haben eine riesige geografische Gegensätze. Deshalb brauchen wir ein gemeinsames Verständnis von Philanthropie. Dabei müssen wir den Menschen die richtige Perspektive für die Philanthropie zeigen. Denn sie ist nicht nur für die Wohlhabenden. Und wichtig: Es dreht sich nicht nur um Geld. Wir müssen ein Narrativ über die Grosszügigkeit in unserer Gesellschaft schaffen. Das ist eine grosse Aufgabe und bedarf harter Arbeit. Damit es gelingt, braucht es die Arbeit zwischen den Sektoren, der Zivilgesellschaft, der Privatwirtschaft und der Regierung.
Kommt die Philanthropie dort zum Einsatz, wo der Staat oder die Privatwirtschaft versagen?
Natürlich kommt sie dort zum Einsatz. Viele Menschen in Brasilien hätten ohne den dritten Sektor keinen Zugang zum Gesundheitswesen oder zur Bildung. Aber Philanthropie hat eine bedeutendere Rolle. Sie hat eine eigene Verantwortlichkeit und ist nicht die Lösung selbst. Sie verteidigt die Demokratie, fördert eine florierende Gesellschaft und beeinflusst das Verhalten der Menschen positiv. Sie kann dorthin gehen, wo der Staat und die Privatwirtschaft nicht können und bspw. das Thema Menschenrechte auf die Agenda setzen. Sie kann den Wandel voranbringen, unabhängig von der Agenda der Regierung und sie kann grössere Risiken nehmen. Sie kann die öffentliche Politik beeinflussen und gestalten. Die Philanthropie hat das Potenzial, Lösungen zu finden und neue Narrative zu schreiben. Sie bringt Veränderungen auf einem sehr strukturierten und durchdachten Weg.
Deswegen muss die ganze Gesellschaft eingebunden sein?
Wir sprechen über Solidarität und Grosszügigkeit. Das Bekenntnis muss von der ganzen Gesellschaft kommen. Wir sprechen über ein neues gemeinsames Verständnis von Gesellschaft. Grosse Veränderungen sind nicht möglich, wenn Teile der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Die Gesellschaft darf nicht in Silos gedacht werden.
Anfangs Jahr erlebte Brasilien einen Regierungswechsel. Wie hat dies die Arbeit des dritten Sektors verändert?
Die letzten vier Jahre waren für die Zivilgesellschaft in Brasilien schwer. Das Vertrauensthema wurde noch mehr belastet. Jair Bolsonaro versuchte, seine Ideen der Gesellschaft aufzudrücken und schloss die Zivilgesellschaft aus. Die Pandemie machte die Situation nicht einfacher. Seit Anfang Jahr ist Luiz Inácio Lula da Silva an der Macht. Die neue Regierung ist viel offener gegenüber der Zivilgesellschaft. Es gibt wieder einen Austausch. Wir sehen Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, die in der Regierung eine Rolle übernehmen. So entsteht die Idee einer gemeinsamen Agenda. Das stärkt die Zivilgesellschaft und das Vertrauen.
Das stärkt die Demokratie?
Die Philanthropie ist eine starke Verteidigerin der Demokratie.
Aber die brasilianische Gesellschaft bleibt gespalten. Kann die Philanthropie dazu beitragen, die Spaltung zu überwinden? Erreichen Sie mit Ihren Publikationen die gesamte Gesellschaft?
Unsere Publikationen erreichen alle. Aber es stimmt, Brasilien ist polarisiert. In den vergangenen Jahren wurde täglich über die Polarisierung gesprochen. Doch es ändert sich. Die Gesellschaft ist müde. TV, Zeitungen oder Webseiten berichten nicht mehr immer nur über dieses Thema. Das Umfeld wird ruhiger. Für das philanthropische Engagement ist das gut.
Wo steht der dritte Sektor?
Für gewisse Teile der Gesellschaft sind alle, die mit dem dritten Sektor verbunden sind, automatisch auf der Seite von Lula. Viele meiner Freunde sagen, ich sei wegen meines Engagements links. Aber ich bin weder links noch rechts. Insgesamt hat die Philanthropie ihr eigenes Ökosystem und kann die Polarisierung umgehen.
Schafft die Philanthropie die Lösung für die gesellschaftlichen Probleme?
Sie ist eine der Lösungen. Dennoch ist eine ihrer Wurzeln auch das Problem. Meist kommt philanthropisches Engagement aus dem Ungleichgewicht in der Gesellschaft. Der Wohlstand ist auf wenige verteilt. Philanthropie ist das Ergebnis daraus. Oft sehe ich in Brasilien, dass Philanthropie die Macht nicht ausbalanciert, sondern die bestehenden Strukturen bewahrt.
Wie kann sie dies ändern?
Indem wir über neue Ideen sprechen und Philanthropie entwickeln. Wir müssen bereit sein, unangenehme Gespräche zu führen. Wir müssen über unsere Privilegien sprechen. Wir müssen verstehen, wie wir diese öffnen können, wie wir für die anderen etwas bewirken können: Wie können wir unsere Privilegien teilen. Das ist keine einfache Diskussion mit den Menschen, die Macht haben. Aber in diesen unangenehmen Diskussionen finden wir neue Ideen und bauen Vertrauen auf. Wir müssen die verschiedenen Organisationen erreichen und die Menschen einbeziehen, deren Probleme wir lösen wollen. Es ist eine schwierige Aufgabe, die Philanthropie zu entwickeln, denn du musst gleichzeitig deine eigene Philanthropie, deinen Wohlstand hinterfragen. Es ist Dekolonialisierungsarbeit.
Sind die Menschen dazu bereit?
Nicht alle Organisationen, nicht alle Philanthrop:innen oder die Regierung, nicht alle Menschen sind offen, diese Diskussion zu führen. Aber meine und die nächste Generation werden die Strukturen hinterfragen. Wenn du aus einer sehr wohlhabenden Familie stammst und auf einen Schlag Millionen von Dollar erbst, dann fragst du dich, ist das alles für mich? Die neue Generation wird sich fragen, wie ist dieser Wohlstand überhaupt zustande gekommen. Und sie wird sich überlegen, was sie damit macht. Diese Diskussionen werden wir führen, hoffe ich. Sie soll kreativ sein und neue Ideen bilden. Das wird ein langwieriger Prozess. Vor allem müssen wir unsere Ohren für die Anliegen der nächsten Generation öffnen. So können wir verstehen, wie wir diese Veränderung in der Philanthropie erreichen.