Photos: Marcus Steinmeyer; Illustartion: Ana Matsusaki

Wir müssen diese unan­ge­neh­men Diskus­sio­nen führen

Philanthropie kann Lösungen bieten. Gleichzeitig hat sie die eigenen Wurzeln in der Ursache für die Probleme. Rodrigo Pipponzi will Brasilien zu einer spendenden Gesellschaft wandeln. Der Social Entrepreneur hat ein Unternehmen gegründet, das seinen Erfolg philanthropisch nutzt.

Sie wollen eine neue Kultur des Gebens schaf­fen. Fehlt Brasi­lien diese Kultur?

Wir haben in Brasi­lien ein gros­ses Problem. Seit der Kolo­ni­sa­tion sind wir ein Land, in dem die Menschen wenig Vertrauen haben, nicht in die Insti­tu­tio­nen und nicht in andere Menschen. 

Was bedeu­tet dies für den drit­ten Sektor?

Auch diesem fehlt das Vertrauen. Die Menschen haben Angst zu spen­den. Und die gros­sen sozia­len Ungleich­hei­ten in unse­rer Gesell­schaft verschär­fen das Problem. 

Das verhin­dert das Spenden?

Wenn ich Geld spende, denken die Menschen, ich sei zu reich, ich hätte zu viel. Sich mit Geld zu expo­nie­ren ist zudem ein Sicher­heits­pro­blem. Wir haben in Brasi­lien eine enorme Heraus­for­de­rung mit Gewalt. Es gibt auch andere Einflüsse, die Menschen davon abhal­ten, über wohl­tä­tige Ausga­ben zu spre­chen: Oft wird impli­ziert, dass dieje­ni­gen, die spen­den, dies aus einem Schuld­ge­fühl heraus tun und nicht darüber spre­chen sollten.

Sehen Sie auch Positives?

Trotz allem haben wir eine starke Zivil­ge­sell­schaft. Die Pande­mie hat uns gezeigt, dass wir ein besse­res, stär­ke­res Ökosys­tem aufbauen können. 

Inwie­fern?

In der Pande­mie war es wunder­bar zu beob­ach­ten, mit welcher Geschwin­dig­keit der private und der dritte Sektor Lösun­gen reali­sier­ten. Genau dieses Beispiel können wir als Grund­lage nehmen. Und nun müssen wir darauf hinar­bei­ten, das Verhal­ten der gesam­ten Gesell­schaft zu ändern und zu zeigen, dass wir eine gross­zü­gige Gesell­schaft sind. Wir sind auf dem rich­ti­gen Weg.

Woran sehen Sie das?

Im World Giving Index hat sich Brasi­lien in den vergan­ge­nen Jahren auf Platz 18 deut­lich verbes­sert. Aber wir müssen noch besser werden. Für viele bleibt Phil­an­thrope ein Thema für die Super­rei­chen. Für sie ist spen­den ledig­lich eine Hand­lung in der Krise: Sie sehen einen Notfall, Hilfe ist gefor­dert, sie spenden. 

Und die Menschen sollen nicht nur im Notfall spenden?

Spen­den soll ein selbst­ver­ständ­li­cher, zivi­ler Akt werden. Dazu müssen wir das Vertrauen stär­ken, die Daten­ba­sis verbes­sern, das Steu­er­sys­tem anpas­sen und affine Menschen im Ökosys­tem besser darauf vorbe­rei­ten. Die Leute müssen das System verstehen.

«Die Phil­an­thro­pie selbst ist eine Lösung, aber gleich­zei­tig sind ihre Wurzeln auch eines der Probleme, die sie lösen soll»

Rodrigo Pipponzi

Sie spen­den den ganzen Gewinn, den die Produkte ihres Unter­neh­mens erzie­len. Wie kamen Sie auf die Idee, MOL als sozia­les Unter­neh­men zu gründen?

Ich komme aus einer Unter­neh­mer­fa­mi­lie. Schon immer wollte ich meine eige­nen Ideen umset­zen. So habe ich 2003 die Kommu­ni­ka­ti­ons­agen­tur MOL gegrün­det und schnell gelernt, dass Kommu­ni­ka­tion ein mäch­ti­ges Tool ist. Sie kann das Verhal­ten von Menschen ändern. Es ist ein wich­ti­ges Werk­zeug für eine Transformation.

Und wie kam die Idee des Spen­dens zur Geschäftsidee?

Meine Fami­lie ist eng mit dem Grün­der von GRAACC befreun­det. GRAACC ist eine der wich­tigs­ten Orga­ni­sa­tio­nen im Kampf gegen Krebs bei Kindern in Brasi­lien. Sie arbei­ten gratis für Fami­lien und Kinder im ganzen Land. In dieser Orga­ni­sa­tion habe ich Frei­wil­li­gen­ar­beit kennen­ge­lernt. Und GRAACC lehrte mich die Liebe zur Phil­an­thro­pie. Ich lernte die Heraus­for­de­run­gen im Fund­rai­sing verste­hen. Während ich mein Unter­neh­men aufbaute, tauchte ich gleich­zei­tig in den drit­ten Sektor ein.

Wie haben Sie beides verbunden?

Wir haben ein Maga­zin, Sorria – Lächeln, lanciert. Dieses verkauf­ten wir zu einem sehr güns­ti­gen Preis und spen­de­ten den Gewinn an GRAACC. Verkauft haben wir es über die Droge­rie­kette meiner Familie.

Hat die Idee funktioniert?

Die erste Auflage betrug 120’000 Exem­plare. Sie war in drei Wochen ausver­kauft. Wir konn­ten 270’000 Brasi­lia­ni­sche Real spen­den, das sind über 50’000 Fran­ken. Wir haben die Idee skaliert. Fünf Jahre später konnte GRAACC mit den Spen­den ein neues Spital bauen. Heute publi­zie­ren wir verschie­dene Produkte, spen­den an rund 200 NGOs und konn­ten schon über 63 Millio­nen Real spenden. 

Spezi­ell ist auch, dass Ihr Maga­zin posi­tive Geschich­ten erzählt.

Ja. Es ist ein Kolla­te­ral­ef­fekt. Wir schrei­ben Inhalte für eine bessere Gesell­schaft. Die Geschich­ten sollen das Leben von Fami­lien verbes­sern. Sorria umfasst heute eine Reihe von Büchern und ande­ren Produk­ten mit posi­ti­vem Inhalt.

Rechts: Rodrigo Pipponzi mit Roberta Faria, Mitbe­grün­de­rin und derzei­tige Geschäfts­füh­re­rin des Insti­tuto MOL. Oben: Das Team der Jornada Doadora, einem Projekt, das vom Insti­tuto MOL durch­ge­führt wird. Das Ziel dieser ersten Ausgabe des Programms ist es, das Team zu infor­mie­ren und zu ermu­ti­gen, Spen­der zu werden und ihre Spende-Gewohn­hei­ten mit ihrer Fami­lie und ihren Freun­den zu teilen.

Sind sich die Käufer:innen bewusst, dass sie ein Produkt kaufen, dessen Gewinn gespen­det wird?

Wir kommu­ni­zie­ren auf dem Produkt trans­pa­rent, wie sich der Verkaufs­preis zusam­men­setzt und wohin die Spen­den­gel­der flies­sen. Das macht das Spen­den sehr einfach. Wir müssen nieman­den um eine Spende anfra­gen. Wir bieten ein cooles Produkt – und wenn es gefällt, kaufen es die Menschen regel­mäs­sig. Diese Erfah­rung hat mich gelehrt, wie meine Arbeit der Gesell­schaft dienen kann. 

Wo steht das Projekt heute?

Wir haben das Unter­neh­men als Gruppe ausge­wei­tet. Es vereint heute verschie­dene Initia­ti­ven. Das Insti­tuto MOL, unser NPO, setzt sich für die Förde­rung der Phil­an­thro­pie bei Menschen und in Unter­neh­men ein. Unter dem Namen Varejo com Causa haben wir eine Bildungs­platt­form geschaf­fen, um Fach­leute zu schu­len, wie sie Phil­an­thro­pie und soziale Inves­ti­tio­nen besser in ihre Stra­te­gie inte­grie­ren können. Die ganze Gruppe verfolgt die Mission: Wir wollen eine spen­dende Nation. 

Hat Brasi­lien ein gemein­sa­mes Verständ­nis von Philanthropie?

Unter Expert:innen, die in der Phil­an­thro­pie enga­giert sind, gibt es ein gemein­sa­mes Verständ­nis. Aber Brasi­lien hat über 200 Millio­nen Einwohner:innen mit gros­sen sozia­len Unter­schie­den. Wir haben eine riesige geogra­fi­sche Gegen­sätze. Deshalb brau­chen wir ein gemein­sa­mes Verständ­nis von Phil­an­thro­pie. Dabei müssen wir den Menschen die rich­tige Perspek­tive für die Phil­an­thro­pie zeigen. Denn sie ist nicht nur für die Wohl­ha­ben­den. Und wich­tig: Es dreht sich nicht nur um Geld. Wir müssen ein Narra­tiv über die Gross­zü­gig­keit in unse­rer Gesell­schaft schaf­fen. Das ist eine grosse Aufgabe und bedarf harter Arbeit. Damit es gelingt, braucht es die Arbeit zwischen den Sekto­ren, der Zivil­ge­sell­schaft, der Privat­wirt­schaft und der Regierung. 

Kommt die Phil­an­thro­pie dort zum Einsatz, wo der Staat oder die Privat­wirt­schaft versagen?

Natür­lich kommt sie dort zum Einsatz. Viele Menschen in Brasi­lien hätten ohne den drit­ten Sektor keinen Zugang zum Gesund­heits­we­sen oder zur Bildung. Aber Phil­an­thro­pie hat eine bedeu­ten­dere Rolle. Sie hat eine eigene Verant­wort­lich­keit und ist nicht die Lösung selbst. Sie vertei­digt die Demo­kra­tie, fördert eine florie­rende Gesell­schaft und beein­flusst das Verhal­ten der Menschen posi­tiv. Sie kann dort­hin gehen, wo der Staat und die Privat­wirt­schaft nicht können und bspw. das Thema Menschen­rechte auf die Agenda setzen. Sie kann den Wandel voran­brin­gen, unab­hän­gig von der Agenda der Regie­rung und sie kann grös­sere Risi­ken nehmen. Sie kann die öffent­li­che Poli­tik beein­flus­sen und gestal­ten. Die Phil­an­thro­pie hat das Poten­zial, Lösun­gen zu finden und neue Narra­tive zu schrei­ben. Sie bringt Verän­de­run­gen auf einem sehr struk­tu­rier­ten und durch­dach­ten Weg.

Deswe­gen muss die ganze Gesell­schaft einge­bun­den sein?

Wir spre­chen über Soli­da­ri­tät und Gross­zü­gig­keit. Das Bekennt­nis muss von der ganzen Gesell­schaft kommen. Wir spre­chen über ein neues gemein­sa­mes Verständ­nis von Gesell­schaft. Grosse Verän­de­run­gen sind nicht möglich, wenn Teile der Gesell­schaft ausge­schlos­sen sind. Die Gesell­schaft darf nicht in Silos gedacht werden. 

Anfangs Jahr erlebte Brasi­lien einen Regie­rungs­wech­sel. Wie hat dies die Arbeit des drit­ten Sektors verändert?

Die letz­ten vier Jahre waren für die Zivil­ge­sell­schaft in Brasi­lien schwer. Das Vertrau­ens­thema wurde noch mehr belas­tet. Jair Bolso­n­aro versuchte, seine Ideen der Gesell­schaft aufzu­drü­cken und schloss die Zivil­ge­sell­schaft aus. Die Pande­mie machte die Situa­tion nicht einfa­cher. Seit Anfang Jahr ist Luiz Inácio Lula da Silva an der Macht. Die neue Regie­rung ist viel offe­ner gegen­über der Zivil­ge­sell­schaft. Es gibt wieder einen Austausch. Wir sehen Vertreter:innen der Zivil­ge­sell­schaft, die in der Regie­rung eine Rolle über­neh­men. So entsteht die Idee einer gemein­sa­men Agenda. Das stärkt die Zivil­ge­sell­schaft und das Vertrauen. 

Das stärkt die Demokratie?

Die Phil­an­thro­pie ist eine starke Vertei­di­ge­rin der Demokratie.

Aber die brasi­lia­ni­sche Gesell­schaft bleibt gespal­ten. Kann die Phil­an­thro­pie dazu beitra­gen, die Spal­tung zu über­win­den? Errei­chen Sie mit Ihren Publi­ka­tio­nen die gesamte Gesellschaft?

Unsere Publi­ka­tio­nen errei­chen alle. Aber es stimmt, Brasi­lien ist pola­ri­siert. In den vergan­ge­nen Jahren wurde täglich über die Pola­ri­sie­rung gespro­chen. Doch es ändert sich. Die Gesell­schaft ist müde. TV, Zeitun­gen oder Websei­ten berich­ten nicht mehr immer nur über dieses Thema. Das Umfeld wird ruhi­ger. Für das phil­an­thro­pi­sche Enga­ge­ment ist das gut. 

Wo steht der dritte Sektor?

Für gewisse Teile der Gesell­schaft sind alle, die mit dem drit­ten Sektor verbun­den sind, auto­ma­tisch auf der Seite von Lula. Viele meiner Freunde sagen, ich sei wegen meines Enga­ge­ments links. Aber ich bin weder links noch rechts. Insge­samt hat die Phil­an­thro­pie ihr eige­nes Ökosys­tem und kann die Pola­ri­sie­rung umgehen. 

Schafft die Phil­an­thro­pie die Lösung für die gesell­schaft­li­chen Probleme?

Sie ist eine der Lösun­gen. Dennoch ist eine ihrer Wurzeln auch das Problem. Meist kommt phil­an­thro­pi­sches Enga­ge­ment aus dem Ungleich­ge­wicht in der Gesell­schaft. Der Wohl­stand ist auf wenige verteilt. Phil­an­thro­pie ist das Ergeb­nis daraus. Oft sehe ich in Brasi­lien, dass Phil­an­thro­pie die Macht nicht ausba­lan­ciert, sondern die bestehen­den Struk­tu­ren bewahrt. 

Wie kann sie dies ändern?

Indem wir über neue Ideen spre­chen und Phil­an­thro­pie entwi­ckeln. Wir müssen bereit sein, unan­ge­nehme Gesprä­che zu führen. Wir müssen über unsere Privi­le­gien spre­chen. Wir müssen verste­hen, wie wir diese öffnen können, wie wir für die ande­ren etwas bewir­ken können: Wie können wir unsere Privi­le­gien teilen. Das ist keine einfa­che Diskus­sion mit den Menschen, die Macht haben. Aber in diesen unan­ge­neh­men Diskus­sio­nen finden wir neue Ideen und bauen Vertrauen auf. Wir müssen die verschie­de­nen Orga­ni­sa­tio­nen errei­chen und die Menschen einbe­zie­hen, deren Probleme wir lösen wollen. Es ist eine schwie­rige Aufgabe, die Phil­an­thro­pie zu entwi­ckeln, denn du musst gleich­zei­tig deine eigene Phil­an­thro­pie, deinen Wohl­stand hinter­fra­gen. Es ist Dekolonialisierungsarbeit. 

Sind die Menschen dazu bereit?

Nicht alle Orga­ni­sa­tio­nen, nicht alle Philanthrop:innen oder die Regie­rung, nicht alle Menschen sind offen, diese Diskus­sion zu führen. Aber meine und die nächste Gene­ra­tion werden die Struk­tu­ren hinter­fra­gen. Wenn du aus einer sehr wohl­ha­ben­den Fami­lie stammst und auf einen Schlag Millio­nen von Dollar erbst, dann fragst du dich, ist das alles für mich? Die neue Gene­ra­tion wird sich fragen, wie ist dieser Wohl­stand über­haupt zustande gekom­men. Und sie wird sich über­le­gen, was sie damit macht. Diese Diskus­sio­nen werden wir führen, hoffe ich. Sie soll krea­tiv sein und neue Ideen bilden. Das wird ein lang­wie­ri­ger Prozess. Vor allem müssen wir unsere Ohren für die Anlie­gen der nächs­ten Gene­ra­tion öffnen. So können wir verste­hen, wie wir diese Verän­de­rung in der Phil­an­thro­pie erreichen. 

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