Wie hat sich die Flüchtlingssituation im vergangenen Jahr weltweit entwickelt?
Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren im humanitären Bereich, und jedes Mal, wenn UNHCR seinen globalen Bericht mit den Vertreibungszahlen für das vergangene Jahr veröffentlicht, werden neue Rekorde aufgestellt. Immer mehr Konflikte brechen aus, wie vor einem Jahr im Sudan oder im Gazastreifen – obwohl letzterer unter das Mandat von UNRWA* und nicht UNHCR* fällt. Ständig entstehen neue Notsituationen, und für alte scheint keine Lösung in Sicht zu sein. Ende 2023 verzeichnete UNHCR weltweit 114 Millionen gewaltsam vertriebene Menschen – sechs Millionen mehr als noch ein halbes Jahr zuvor. Diese Zahlen spiegeln nur den Zustand der Welt wider und lassen nicht mal erahnen, was jede und jeder einzelne, der und die zur Flucht gezwungen ist, durchmachen muss.
[*UNRWA: UN-Organisation für Palästina-Flüchtlinge (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees)
* UNHCR: UN-Flüchtlingsorganisation]
Die Öffentlichkeit konzentriert sich auf aktuelle Konflikte wie im Gazastreifen oder in der Ukraine: Wie schwierig ist es, die öffentliche Aufmerksamkeit auf andere Krisen wie in der DR Kongo, im Sudan, in Syrien oder Afghanistan zu lenken?
Um es einfach auszudrücken: Es ist sehr schwierig. Aber wir glauben auch, dass Interviews wie dieses dazu beitragen können, die Notsituationen zu beleuchten, von denen niemand sonst niemand etwas wahrnimmt. Viele Menschen denken, dass UNHCR nur von Regierungen finanziert wird, die jedes Jahr einen festen Betrag zahlen, da wir unser Mandat von der UN-Generalversammlung erhalten haben. In Wirklichkeit sind jedoch zunehmend Beiträge von Einzelpersonen und aus dem privaten Sektor erforderlich, da die staatlichen Beiträge nicht im gleichen Masse steigen wie der Bedarf.
In Wirklichkeit sind jedoch zunehmend Beiträge von Einzelpersonen und aus dem privaten Sektor erforderlich, da die staatlichen Beiträge nicht im gleichen Masse steigen wie der Bedarf.
Cristina Davies, Geschäftsführerin Switzerland for UNHCR
Darüber hinaus gibt es freiwillige Beiträge, die an einen bestimmten Zweck gebunden sind und somit UNHCR weniger Spielraum lassen. Als der Krieg in der Ukraine im Jahr 2022 ausbrach, zeigte sich die Schweizer Bevölkerung sehr solidarisch und war sehr grosszügig. Doch leider ist der Krieg zwei Jahre später immer noch nicht vorbei, und wir spüren langsam eine gewisse Müdigkeit. Ich möchte alle daran erinnern: Jede Spende kann einen Unterschied machen. Ganz gleich, wie klein sie ist. Aber angesichts der Inflation und der Stagnation der Reallöhne scheint diese Botschaft manchmal nicht stark genug zu sein. Neben der Ukraine sind auch viele andere Notsituationen unterfinanziert, und die Mitarbeitenden von UNHCR können den Vertriebenen nicht alle nötige Hilfe zukommen lassen. Bei Switzerland for UNHCR informieren wir immer wieder über aktuelle Konflikte auf der ganzen Welt und nutzen alle Kanäle und Mittel, die uns zur Verfügung stehen: Website, soziale Medien, Newsletter, Veranstaltungen. Die meisten Menschen wissen nichts von den Konflikten im Sudan oder in der Demokratischen Republik Kongo. Manchmal vergessen sie auch den Krieg in Syrien, da er bereits seit 13 Jahren andauert. Unser Ziel ist es also, das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Menschen zu schärfen, die in diesen Ländern zur Flucht gezwungen sind.
Wie kann die Schweizer Gesellschaft einen grösseren Beitrag für Flüchtlinge leisten?
Die Schweizer Bevölkerung ist bereits sehr hilfsbereit. Aber da die Zahl der Konflikte in der Welt zunimmt, bleibt die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen unglaublich hoch. Sie brauchen unsere Hilfe.
Die Integration von Flüchtlingen zu fördern, ist ein Weg, um zu helfen: Wir können sie dabei unterstützen, ihren Platz in den Gastgemeinden zu finden, sie willkommen zu heissen, ihnen Arbeit zu geben. Letztlich ist das auch gut für unser Land, denn wir können viel von ihrem Wissen und ihrer Erfahrung profitieren. Wir haben in der Schweiz einen Fachkräftemangel, und hier kommt auch die Integration von Flüchtlingen ins Spiel. Ausserdem ist es eine Möglichkeit für jeden und jede in diesem Land, der oder die das Gefühl hat, dass das, was um uns herum geschieht nicht in Ordnung ist, zu handeln. Vielen machen diese vielen Krisen auf der Welt Sorgen, und sie wollen sich nicht hilflos fühlen. Sie können aktiv etwas verändern, indem sie in der Schweiz für UNHCR spenden und die Vertriebenen auf der ganzen Welt unterstützen, indem sie ihnen neue Perspektiven für die Zukunft geben. Jeder Franken hilft!
Sie arbeiten nicht nur mit Einzelpersonen zusammen, sondern auch mit Unternehmen oder Stiftungen.
Ja, der Privatsektor ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. Die Schweizer Öffentlichkeit, aber auch grosse und kleine Unternehmen, Stiftungen und Philanthropen unterstützen die Arbeit von UNHCR grosszügig. Dabei geht es oft nicht nur um finanzielle Spenden, sondern auch um Sachspenden oder Dienstleistungen. Dabei kann es sich zum Beispiel um logistische Hilfe handeln, wie im Fall der MSC-Stiftung, die mehrere Tonnen Hilfsgüter an Tausende von Flüchtlingen in der Ukraine geliefert hat – und kürzlich auch an die Betroffenen nach den Erdbeben in Syrien und Türkei. Und mit der Z Zurich Foundation haben wir vor kurzem eine Zusammenarbeit im Bereich der Nothilfe gestartet. Die Ideen für Partnerschaften kommen oft von Unternehmen aus der Privatwirtschaft selbst. Sie kommen auf uns zu und bieten ihre Dienste und Unterstützung an. Und dafür sind wir sehr dankbar.
Wie arbeiten Sie als Schweizer Stiftung mit UNHCR, der UN-Flüchtlingsorganisation, zusammen?
Wir sind der nationale Partner von UNHCR in der Schweiz und Liechtenstein. Wir mobilisieren in diesen beiden Ländern Ressourcen für die Mission von UNHCR und sensibilisieren die Bevölkerung für die Flüchtlingsthematik und die Arbeit von UNHCR. Switzerland for UNHCR ist zwar eine Stiftung unter Schweizer Recht, aber wir sind Teil des grösseren Ökosystems rund um UNHCR. Wir arbeiten tagtäglich mit der UN-Flüchtlingshilfsorganisation und ihrem Büro in der Schweiz und Liechtenstein zusammen und zwar für dieselbe Sache. Einer der Hauptunterschiede ist, dass wir eben eine Schweizer Stiftung sind und Spenden somit steuerlich absetzbar sind.
Gibt es Entwicklungen, die derzeit Hoffnung machen, dass sich die Situation der Flüchtlinge in bestimmten Regionen nachhaltig verbessern könnte?
Wir sehen, dass die Mission von UNHCR an vielen Orten funktioniert. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist eine von UNHCR ins Leben gerufene Hochschulkampagne mit dem Namen «Aiming Higher», die das Flüchtlingsstipendienprogramm von UNHCR unterstützt. Bisher wurden 21,5 Millionen Dollar gesammelt, die es 1680 Stipendiaten ermöglichen, vier volle Jahre Hochschulbildung zu absolvieren. Bildung ist bei weitem die beste Investition, die eine Gesellschaft tätigen kann, da die Flüchtlinge so einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrag in ihrer Aufnahmegesellschaft oder in ihrem Heimatland leisten können.
Bildung ist bei weitem die beste Investition, die eine Gesellschaft tätigen kann, da die Flüchtlinge so einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrag in ihrer Aufnahmegesellschaft oder in ihrem Heimatland leisten können.
Cristina Davies
Wenn Flüchtlinge nicht zur Schule gehen oder eine berufliche Laufbahn einschlagen können, gehen ganze Generationen verloren. Sie werden nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und ihre Träume zu verfolgen. Abhängig zu sein von anderen ist in der Tat sehr frustrierend, denn jeder Mensch möchte in Würde leben und seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Dies ist eine gute Möglichkeit, daran zu erinnern, dass UNHCR nicht nur erste Hilfe leistet, sondern dass es auch seine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass sich Flüchtlinge ein neues, unabhängiges Leben in Würde aufbauen können.
Sehen Sie Entwicklungspotenzial, in welche Richtung die Flüchtlingsarbeit gehen kann, um effektiver zu werden?
Ich glaube, dass es wichtig ist, in die Zukunft der Flüchtlinge zu investieren. Wie ich bereits erwähnt habe, ist es das oberste Ziel von UNHCR, dauerhafte Lösungen für die Vertriebenen zu finden. Ganz gleich, ob sie in einer neuen Gemeinde oder in ihrem eigenen Land ein neues Zuhause finden: Die Integration in den Arbeitsmarkt verringert die finanzielle Belastung für das Aufnahmeland und die internationale Gemeinschaft und hilft den Flüchtlingen, sich ein neues Leben in Würde aufzubauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass niemand freiwillig ein Flüchtling ist. Diese Menschen wollen nicht von humanitärer Hilfe abhängig sein, sie wollen ihr Leben zurückgewinnen, ihren Beitrag in der Gesellschaft leisten, ihre Fähigkeiten einsetzen und wie jeder andere Bürger, jede andere Bürgerin behandelt werden.