Am Samstag fand der Rotkreuz-Ball zum 20. Mal statt. Welche Bedeutung hat er für das Schweizerische Rote Kreuz (SRK)?
Der Genfer Rotkreuzball ist eine der wichtigsten Wohltätigkeitsveranstaltungen des Jahres. Wir sind stolz darauf, dass wir ihn so viele Jahre lang mit immer grösserem Erfolg durchführen konnten. Tatsächlich sind die Spenden schrittweise auf eine Million Schweizer Franken angestiegen. Durch diesen Ball können wir ein bestimmtes Publikum sensibilisieren, das über die Mittel und Kontakte verfügt, um für humanitäre Zwecke zu handeln.
Durch zwei Auktionen kamen 1‘035’000 Franken zusammen. Wofür haben Sie gesammelt?
Diese Gelder sind für unsere Projekte im Libanon bestimmt, wo wir Hand in Hand mit dem Libanesischen Roten Kreuz arbeiten, sowie für lokale Projekte des Genfer Roten Kreuzes.
Das Rote Kreuz des Kantons Genf sieht vor, die Gelder für drei spezifische Projekte einzusetzen: die individuelle und bedürfnisorientierte Unterstützung von Geflüchteten und Opfern des Konflikts in der Ukraine; die Begleitung von kranken oder leidenden Menschen in Spitälern oder zu Hause und den Zugang zu Zahnpflege für «Working Poors».
Im Libanon können wir die Versorgung mit sauberem Trinkwasser, Bluttransfusionen und den Zugang zu medizinischen Not- und Basisdiensten unterstützen.
Libanesische und syrische Flüchtlingsfamilien können so in ihrer Nähe sauberes Trinkwasser erhalten, was ihrer Gesundheit zugute kommt.
Barbara Schmid-Federer, Präsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz
Das Rote Kreuz baut im Libanon die Infrastruktur für die Trinkwasserversorgung in öffentlichen Schulen, Gesundheitszentren und Gemeinden wieder auf. In Flüchtlingslagern testet und implementiert das Rote Kreuz neue Lösungen für die Wasserversorgung, die mit Solarenergie betrieben werden. Diese Systeme sind ökologisch nachhaltig, nicht auf das instabile öffentliche Stromnetz angewiesen und werden nicht von den Treibstoffpreisen beeinflusst. Libanesische und syrische Flüchtlingsfamilien können so in ihrer Nähe sauberes Trinkwasser erhalten, was ihrer Gesundheit zugute kommt.
Wir unterstützen das Libanesische Rote Kreuz auch im Bereich der medizinischen Notfallversorgung und der primären Gesundheitsversorgung. Mehr als 300 Krankenwagen und Teams, 36 personell besetzte Zentren für medizinische Grundversorgung und 9 mobile medizinische Einheiten sind bereits aktiv. Das Rote Kreuz baut eine Versorgungskette mit wichtigen medizinischen Hilfsgütern auf, damit die Kliniken über die notwendigen Geräte und Medikamente zur Behandlung von Patienten verfügen. Mit den mobilen medizinischen Einheiten erreicht das Rote Kreuz die Menschen auch in abgelegenen Gebieten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Bluttransfusionsdienste. Das Libanesische Rote Kreuz betreibt 13 Blutspendezentren und mobilisiert mithilfe seiner Freiwilligen die Bevölkerung zu freiwilligen, unbezahlten Blutspenden. Es stellt etwa 40 Prozent der jährlich im Land benötigten Blutkonserven bereit. Um zu gewährleisten, dass sicheres Blut für die Patienten, die es benötigen, zur Verfügung steht, wird das Libanesische Rote Kreuz die bestehenden Blutspendezentren renovieren und ein neues zentrales Blutspendezentrum einrichten, in Blut getestet und verarbeitet wird.
Der Krieg in der Ukraine dauert schon über sieben Monate. Wie hat sich die Arbeit des SRK verändert?
Seit Februar 2022 arbeiten wir mit Hochdruck daran, den Menschen, die in der Ukraine vertrieben wurden oder in die Nachbarländer geflohen sind, zu helfen. Wir sind in der Internationalen Rotkreuzbewegung aktiv und haben gleich zu Beginn des Konflikts fünf Nothilfe-Spezialisten nach Moldawien, Polen, Ungarn und in die Slowakei entsandt.
In der Ukraine unterstützen wir die Nothilfe des Ukrainischen Roten Kreuzes in den Oblasten Iwano-Frankiwsk und Ternopil im Westen des Landes. Vorrangig geht es um die Unterbringung von Binnenvertriebenen und deren medizinische Versorgung.
20. Rotkreuz-Ball in Genf am 8. Oktober 2022, Fotos: TeamReporters
Auch in der Schweiz hatten wir viel zu tun und haben immer noch viel zu tun. Das Schweizerische Rote Kreuz und seine Kantonalverbände haben viel Erfahrung mit der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen. Dennoch mussten die Leistungen angepasst und erweitert sowie auf nationaler Ebene koordiniert werden. Wir koordinierten rasch die Freiwilligenarbeit auf nationaler Ebene, richteten eine Online-Plattform namens Helpful ein, auf der wichtige Informationen für Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz zusammengefasst sind. Im Kanton Uri, den ich letzte Woche besuchte, ist das Schweizerische Rote Kreuz für die Aufnahme von Flüchtlingen zuständig. Es musste Personal eingestellt, Infrastrukturen für die Erstaufnahme aufgebaut, Wohnungen für Familien organisiert und viele weitere Herausforderungen bewältigt werden. Die Situation ist sehr hart für die Flüchtlinge hier, die von Tag zu Tag mit der Ungewissheit leben, ob sie bald zurückkehren können oder nicht. Sie haben noch Familie, Freunde und Nachbarn in der Heimat, Kinder, die sich an ihre neue Umgebung gewöhnen müssen. Die psychische Belastung ist sehr hoch. Auch im Bereich der psychosozialen Unterstützung konnten wir unsere langjährige Erfahrung einbringen.
Ein Teil des Erlöses kommt auch den Working Poor zu Gute. Wie hilft das SRK gerade auch mit Blick auf die kommenden Monate konkret?
Das Genfer Rote Kreuz leistet ganz konkrete Hilfe für Menschen, die sich in einer prekären Lage befinden. Oft handelt es sich dabei um alleinerziehende Mütter oder Väter, die zwar arbeiten, aber trotzdem nicht über die Runden kommen. Oder Familien, in denen beide Elternteile arbeiten, aber zu wenig verdienen, um alle Rechnungen decken zu können. Aufgrund der Inflation, steigender Krankenkassenprämien und Stromrechnungen wird die Situation für immer mehr Menschen, die keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, kritisch werden. In diesem Jahr wird das Genfer Rote Kreuz aufgrund der deutlichen Zunahme von Migrantinnen und Migranten in Not in der Schweiz und in Genf, darunter auch aus der Ukraine, einen beträchtlichen Teil der Einnahmen des Balls für die konkrete Unterstützung dieser Menschen verwenden (materielle Nothilfe, Informationen, Französischkurse, Bereitstellung von Dolmetschern, Aktivitäten für Kinder usw.).
Aufgrund der Inflation, steigender Krankenkassenprämien und Stromrechnungen wird die Situation für immer mehr Menschen, die keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, kritisch werden.
Barbara Schmid-Federer, Präsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz
Dank der Eröffnung einer Zahnarztpraxis kann das Genfer Rote Kreuz armutsbetroffene Arbeitnehmende – die zu viel verdienen, um Sozialhilfe zu beziehen, aber zu wenig, um die Kosten selbst zu tragen — professionell und zu einem ermässigten Preis – 40 Franken für eine zahnärztliche Behandlung und 20 Franken für eine Dentalhygiene – behandeln lassen und so konkret auf ein Problem der öffentlichen Gesundheit reagieren. Im Rahmen dieses Programms wird ein Teil der Einnahmen des Balls dazu verwendet, die Kosten für umfangreichere Zahnbehandlungen zu decken.
Pandemie, Krieg in der Ukraine, drohende Energieengpässe, was bedeutet diese Abfolge von Krisen für Ihre Organisation?
Diese aufeinanderfolgenden Krisen erfordern eine hohe Agilität unserer Organisation, die sich in Echtzeit an die Bedürfnisse der Hilfsbedürftigen anpassen muss. Wir müssen auch auf die Finanzierung unserer Hilfe für die Verletzlichsten achten und beim Fundraising aktiv bleiben. Wir haben das Glück, dass wir in der Schweiz auf eine sehr grosse Solidarität der Bevölkerung und der Unternehmen zählen können.
Wie hat sich die Stimmung bei den Spendern:innen verändert? Spüren Sie, dass im Gegensatz zu Krisen in der Ferne die Menschen in der Schweiz jetzt ganz direkt die Unsicherheit selbst erleben?
Nach wie vor verzeichnen wir eine hohe Spenden- und Hilfsbereitschaft. Gerade unsere treuen Spenderinnen und Spender zeigen eine hohe Solidarität. Ein kürzlich versandtes Spendenmailing zugunsten der Ukraine war sehr erfolgreich.
Dass Spenden für Katastrophen-/Krisenfälle nach ca. sechs Wochen absinken ist nichts Ungewöhnliches. Im Fall der Ukraine hält die Spenden- und Hilfsbereitschaft nun seit bald einem halben Jahr an. Aber auch im Syrien-Konflikt hielt sich die Solidarität über Jahre.
Nachdem Sie zuvor Vizepräsidentin waren, haben Sie das Amt der Präsidentin des SRK erst diesen Sommer angetreten. Wie waren Ihre ersten 100 Tage?
Ich engagiere mich seit mehr als zehn Jahren für das SRK. Als ehemalige Präsidentin des SRK Kanton Zürich bin ich fest im Schweizerischen Roten Kreuz verwurzelt. Ich kenne die vielschichtige Struktur des SRK bestens. Mir war immer wichtig engen Kontakt zur Basis und zum Wirken des SRK vor Ort zu haben. Diese Nähe konnte ich auch in den ersten 100 Tagen als Präsidentin aufrechterhalten. So konnte ich mir in Uri ein Bild der Situation von Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Ländern hier bei uns in der Schweiz machen und habe die Rotkreuzferien in Schaffhausen besucht. Noch dieses Jahr ist eine Reise nach Laos geplant, wo ich die Projekte des SRK vor Ort kennen lernen möchte.
Was braucht das SRK, damit es in den kommenden Monaten noch effektiver helfen kann?
Das Rote Kreuz hat eine lange, sehr erfolgreiche Geschichte und ist in der Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft verankert. Das ist eine hervorragende Ausgangslage. Leider nehmen die Krisen und Konflikte, der Hunger und die Armut nicht so ab, wie ich mir das gewünscht habe. Die Aufgabe des SRK ist es deshalb, diese Herausforderungen gemeinsam zu lösen, die Menschen, Organisationen und Staaten zu sensibilisieren und zu motivieren sowie offen und innovativ zu bleiben, das heisst auch auf neue Technologien zu setzen. Drei Beispiele hierzu.
Nach wie vor verzeichnen wir eine hohe Spenden- und Hilfsbereitschaft.
Barbara Schmid-Federer, Präsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz
Erstens. Das SRK soll gerüstet sein für die enormen Herausforderungen der Zukunft, die Folgen des Klimawandels. 80 Prozent aller Katastrophen sind heutzutage wetterbedingt. Und das wird zunehmen. 3,3 Milliarden Menschen auf der Welt, knapp die Hälfte der Weltbevölkerung, bekommen existentielle Probleme wegen des Klimawandels oder haben sie bereits. Zum Beispiel sind wir in Äthiopien oder in Bangladesch in diesem Bereich sehr aktiv. In Äthiopien leisten wir Nothilfe in entlegenen Gebieten, die von einer akuten Ernährungskrise betroffen sind. Wir stellen die Wasserversorgung sicher und geben den Menschen Bargeld-Beiträge, damit sie auf den lokalen Märkten das Nötigste kaufen können. Ausserdem fördern wir die Konfliktprävention. In Bangladesch helfen wir Dorfgemeinschaften, die immer wieder von Monsun-Fluten betroffen sind. Dazu gehört die Entwicklung von Evakuierungsplänen, aber auch bauliche Massnahmen, damit Gesundheitszentren und die Wasserversorgung auch bei Fluten weiter funktionieren.
Zweitens. Wir erleben wegen des Ukrainekriegs aktuell den grössten Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg. Zugleich wird ein Teil der Infrastruktur zerstört, inklusive Schulen. Wir arbeiten in der Ukraine eng mit dem Ukrainischen Roten Kreuz zusammen, unterstützen unsere Schwestergesellschaft bei ihren Projekten mit Knowhow und Ressourcen.
Drittens. Das Rote Kreuz arbeitet weltweit vernetzt Hand in Hand: Meine Aufgabe ist es, das SRK noch stärker mit IKRK, Internationaler Föderation, Kantonal- und Rettungsorganisationen zu vernetzen, die Zusammenarbeit zu stärken und die gemeinsamen Erfolge und Errungenschaften sichtbar zu machen.