Im Jahr 2023 jährt sich in der Schweiz das Revolutionsjahr 1848 zum 175. Mal. Und der Schweizerische Bundesstaat feiert entsprechend im laufenden Jahr seinen 175. Geburtstag. Bei dieser Gelegenheit lohnt es sich, über das heute erlangte zu reflektieren – quasi einen Gesundheits-Check-up der Schweizer Demokratie vorzunehmen. Der «Think + Do Tank» Pro Futuris hat in Zusammenarbeit mit gfs.bern kürzlich einen Bericht auf der Grundlage von grossflächigen Umfragen zur Thematik veröffentlicht. Der Bericht erfasst nicht nur das Empfinden der Wahlbevölkerung möglichst repräsentativ, sondern er bildet auch Ansichten von Gruppen ab, die in gängigen Umfragen nicht aufgenommen wurden. Dazu betrachtet der Bericht auch Schweizer:innen ab 14 Jahren und über 18-Jährige, die zwar in der Schweiz geboren sind, mindestens eine Landessprache beherrschen, aber keine Schweizer Staatsbürgerschaft haben. Der Bericht legt auch ein Augenmerk auf zwei weitere marginalisierte Gruppen: Menschen, die mit dem politischen System unzufrieden sind und Menschen mit niedriger formaler Bildung. Insgesamt 6238 Personen wurden befragt. Davon 1211 junge Menschen (zwischen 14 und 35 Jahre), 182 sprachassimilierte Ausländer:innen, 4156 Menschen, die mit der Schweiz eher oder sehr unzufrieden sind und 239 mit niedriger formaler Bildung.
Zufrieden, aber nicht nur
«Sind wir auf dem richtigen Weg zum 200-Jahre-Jubiläum?» ist die selbstgestellte Überfrage. Die Antwort darauf ist ein deutliches «Jein.» Die Befragten sind grundsätzlich zufrieden mit den systemischen Rahmenbedingungen der Schweizer Politik. So ist mit 85 Prozent eine klare Mehrheit der Befragten zufrieden mit den Teilhabemöglichkeiten in der Schweizer:innen direkten Demokratie und 71 Prozent sagen, dass sie den Föderalismus schätzen. Rund 77 Prozent sind zufrieden mit den Regeln der Schweizer Politik. Auch die Untergruppen der jungen Menschen, diejenigen mit tiefer formaler Bildung und die sprachassimilierten Ausländer:innen weisen eine ähnlich hohe Zufriedenheit auf. Bloss die mit der Politik Unzufriedenen verzeichnen einen Wert von nur 59 Prozent Zufriedenheit. Die höchsten Zufriedenheitswerte lassen sich bei den Regeln über das System, das alle relevanten politischen Parteien ins Parlament und die Regierung einbindet, ein stark föderal geprägtes System, sowie ein Check-and-Balances-System finden. Die tiefsten Zufriedenheitswerte finden sich hingegen bei der Transparenz von Politik und Verwaltung (57 Prozent eher/sehr zufrieden).
Hohe Anerkennung für politische Mitbestimmung
81 Prozent der Befragten empfinden die Einbindung von Minderheiten als zufriedenstellend. Rund 91 Prozent interessieren sich für die Schweizer Politik. 89 Prozent der Befragten denken, dass die Schweiz dadurch erfolgreich wurde. Dies, weil keine Partei oder Interessensgruppe allein Entscheidungen treffen kann und die Entscheidungen auf Basis von Kompromissen gefällt werden. Im Umkehrschluss denkt nur eine Minderheit von 29 Prozent, dass es der Schweiz viel besser ginge, wenn die eigene bevorzugte Partei eine klare Mehrheit hätte und allein regieren könnte. Die Untergruppe der jungen Menschen schätzt die Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schweizer Politik mit 86 Prozent am meisten. Der tiefste Wert ist mit 56 Prozent bei den sprachassimilierten Ausländerinnen zu finden. Sogar bei der Untergruppe der Unzufriedenen sind 73 Prozent zufrieden mit den Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Misstrauen gegenüber der Politik
Eine klare Mehrheit der Schweizer Wohnbevölkerung unterstützt die 1848 gelegten Grundsteine des modernen Schweizer Staates. Die Zufriedenheit mit dem politischen System spiegelt sich aber nicht bei der Zufriedenheit mit den politischen Resultaten. Viele Befragte äussern ein Misstrauen gegenüber der Politik. Viele orten strukturelle Bedrohungen für die Demokratie. Sie sind der Meinung, der wachsende Populismus behindere politische Lösungen und verstärke die Polarisierung in Politik und Gesellschaft. Er erschwere das Erreichen von Kompromissen und Mehrheiten. Die Befragten sind auch der Ansicht, dass Wirtschaft, Wohlhabende und Lobbygruppen einen übermässigen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten und die Medien nicht völlig unabhängig seien. Darüber hinaus sorgen sich viele über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und sie wünschen sich eine inklusivere Demokratie, die schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen besser einbindet. Über alle Kategorien sind 46 Prozent der Befragten mit der Schweizer Politik unzufrieden. SVP-Angehörige und Parteiungebundene sind zu 66 Prozent beziehungsweise 74 Prozent unzufrieden mit der Schweizer Politik.
Die grössten Sorgen
Als die fünf wichtigsten Probleme, vor welchen die Schweiz steht, sehen 70 Prozent der Befragten Gesundheitsfragen, einschliesslich Krankenkassenprämien, 63 Prozent die AHV und 53 Prozent die Versorgungssicherheit. Umweltschutz und Klimawandel mit 50 Prozent sowie die Zuwanderung mit 49 Prozent folgen erst danach. 71 Prozent der Befragten glauben, dass der Populismus zukünftige Lösungen verhindern wird. Das ist bemerkenswert, denn gleichzeitig denkt eine Mehrheit von 58 Prozent, dass Lobbyist:innen, Reiche und die Wirtschaft – und nicht die einfachen Bürger:innen – das politische Geschehen dominieren. Ebenso bleibt die Rolle der Medien zu grossen Teilen umstritten: 62 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Medien in der Schweiz nicht objektiv und unabhängig genug berichten.
Wie es zu dieser Diskrepanz zwischen dem Vertrauen in die Grundlagen der Politik und der allgemeinen Unzufriedenheit mit deren Resultaten gekommen, ist beantwortet der Bericht nicht. Stattdessen gibt er den politischen Entscheidungsträger:innen einen Einblick, wo die Bürger:innen Defizite in der aktuellen demokratischen Praxis sehen.
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