Unsere Gesellschaft steht vor grossen Herausforderungen. Welche Rolle kann der Philanthropiesektor einnehmen?
Beatrice Fihn: Es ist wichtiger denn je, dass sich die Philanthropie Gedanken macht zu den grossen Herausforderungen. Wir laufen aktuell von Krise zu Krise. Die Menschen sind erschöpft und ausgelaugt von all den schlechten Nachrichten.
Und was kann die Philanthropie leisten?
Philanthrop*innen haben die Pflicht, breitere Bewegungen zu unterstützen – Grasroot-Bewegungen, welche die Menschen bewegen. Um die komplexen und globalen Probleme zu lösen, braucht es ein breites Angebot an Lösungen. Und, um die wichtigen Probleme zu lösen, ist eine ganze Bewegung nötig, die unterstützt werden muss, und nicht nur ein einziges Projekt.
Bei der Pandemie hat sich gezeigt, dass es eine gewisse Skepsis gibt, wenn zu mächtige Philanthropen wie Bill Gates sich engagieren. Ist es deswegen wichtig, viele Menschen zu involvieren?
Ja. Die wirklich schwierigen Herausforderungen wie die Klimaerwärmung, die Pandemie und auch die Atomwaffen, mit welchen ich mich beschäftige, sind sektorübergreifend. Es gibt nicht einen einzelnen Akteur oder eine Konferenz, die das Problem lösen wird. Es ist die ganze Gesellschaft, die sich ändern muss. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz. Der wissenschaftliche Ansatz der Wissenschaftler*innen oder die Lösung der NGOs – das reicht nicht. Wir brauchen die Wissenschaftler*innen, die Medien- und die Kulturschaffenden, alle verschiedenen Gruppen, die zusammen in dieselbe Richtung arbeiten.
Die Idee des Gleichgewichts der Abschreckung funktioniert nicht mehr.
Beatrice Fihn, Executive Director ICAN
Deswegen arbeitet ICAN als Koalition verschiedener Organisation?
Genau. Und deswegen will ich in Verbier diese Ideen diskutieren. Wir haben ein Modell, das sich auch für andere Herausforderungen eignet: möglichst viele verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Methoden und Strategien vereinen. Es braucht eine koordinierte und ebenso offene Koalition, in der es Raum für alle gibt, in der aber alle ein gemeinsames Ziel verfolgen und erkennen, dass sie Teil eines grösseren Ganzen sind. Das heisst auch, wir müssen die Motivation finden, kleine Dinge zu tun. Und wir sollten erkennen, dass diese zum Grossen beitragen.
Ist ihr Ansatz ihr Erfolgsgeheimnis? 2007 gegründet wurden sie 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet?
Es ist ein Modell, das wir von der erfolgreichen internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen kennen. Wir haben es vergrössert und dem Thema angepasst. Wichtig ist dabei, dass wir auch mit Akteuren zusammenarbeiten, die nicht offiziell Teil der Koalition sind. Das können Regierungen sein, das IKRK oder der Papst und die katholische Kirche. Wir haben ein Modell, in dem jeder Akteur und jede Akteurin etwas bewirken kann, und wir versuchen, das grosse Ganze zusammenzufügen.
War es mehr die Angst vor einem Atomkrieg oder die Hoffnung nach dem Ende des Kalten Krieges, dass eine Veränderung möglich ist, die zur Gründung von ICAN 2007 beigetragen hat?
Es dürfte die Frustration gewesen sein. Wir hatten das Ende des kalten Krieges. Wir hatten die guten Jahre, aber keiner der Atomwaffenstaaten machte Fortschritte zur Abrüstung. Die Argumentation für Atomwaffen änderte sich stetig. Nach der Sowjetunion kamen andere Gründe. Heute ist es wieder Russland. Das zeigt, wir können nicht auf die Atommächte warten, dass sie das Richtige tun. Wir müssen externen Druck erzeugen, damit sie sich bewegen. Wir haben heute keinen kalten Krieg mit zwei Blöcken. Die Situation ist komplizierter. Wir haben China, Indien und Pakistan. Viele regionale Konflikte, wie auch neue Technologien, sorgen für diese Komplexität. Die Idee des Gleichgewichts der Abschreckung funktioniert nicht mehr. Wenn wir die Atomwaffen behalten, werden sie auch benutzt. Deswegen müssen wir sie eliminieren.
Die russische Bedrohung ist wie der Kanarienvogel in der Kohlemine.
Beatrice Fihn, Executive Director ICAN
Hat Sie der Krieg in der Ukraine überrascht?
Wie viele war ich überrascht. Natürlich hatten wir die Zeichen gesehen, aber bis zum letzten Tag gehofft, dass er es nicht tun werde. Wir haben allerdings diskutiert, wie und ob die Bedrohung durch Atomwaffen gestiegen ist. Die Staaten mit Atomwaffen entwickeln sich zunehmend in Richtung nationalistische Staaten unter autoritären Führungen. Kommt hinzu, dass viele Waffenabkommen aufgegeben wurden. Seit Jahren warnen wir – auch in unserer Rede zum Nobelpreis – dass wir nicht genügsam sein dürfen. Die Dinge werden schlimmer. Wir müssen handeln. Denn die Situation wird komplizierter. Wir haben den Klimawandel, den wirtschaftlichen Druck und die Herausforderung der Nahrungsmittelversorgung, grosse Migrationsströme und den Kampf um Ressourcen: Das wird eine sehr gefährliche Welt und in dieser hat es Atomwaffen. Die russische Bedrohung ist wie der Kanarienvogel in der Kohlemine. Wenn wir dieses Warnsignal nicht ernst nehmen, laufen wir in eine Katastrophe.
In welche Richtung können wir uns heute überhaupt bewegen? Zwischen gewissen Ländern fehlt eine Vertrauensbasis.
Die Medien fokussieren immer auf die schlechten Dinge. Genau hier kann die Philanthropie einen Beitrag leisten und die Erfolgsgeschichten teilen. Zeigen, was funktioniert. Wichtig ist, dass wir diese Erfolge nicht einfach als gegeben verstehen, sondern die Arbeit dahinter anerkennen. Viele Staaten haben sich für ein Verbot der Atomwaffen ausgesprochen und den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen unterschrieben. Es ist ein positives Signal, dass sie auch in unsicheren Zeiten diese Option nicht wollen. Dass diese Staaten atomwaffenfrei bleiben, sollten wir aber nicht einfach als garantiert annehmen. Es ist wichtig, dass wir diese Arbeit fortsetzen und uns mit dem Vertrag zum Verbot von Atomwaffen dafür einsetzen, auch wenn die Atommächte diesen noch nicht unterschrieben haben.
Welche Entwicklungen sind überhaupt möglich?
Die Motivation für Abrüstung wird steigen. Historisch zeigt sich in Bezug auf die grössten Krisen, die kältesten Phasen des Kalten Krieges, dass danach die grössten Durchbrüche möglich waren. Nach der Kubakrise kam der Atomwaffensperrvertrag zustande. Und in den 80er Jahren, in Zeiten grosser Spannungen und einer globalen Angst vor einem Atomkrieg, zwang der öffentliche Druck Michail Gorbatschow und Ronald Reagan dazu, massive Reduktionen des Bestandes an Atomwaffen um 80 Prozent auszuhandeln. Gefährliche Momente in der Geschichte können zu grossen Fortschritten führen. Daran müssen wir uns erinnern. Wir müssen uns im Klaren sein, dass wir heute den Rahmen setzen, für das, was kommen wird. Wir legen die Basis für den Moment, wenn es die Gelegenheit geben wird, wenn die richtige Person an der Macht sein wird, um Grosses zu erreichen. Dazu müssen wir heute die Arbeit machen. Der Erfolg ist nicht garantiert. Aber ich bin optimistisch.
Klimawandel, Flüchtlingskrise, Pandemie – wie können wir diese Themen gemeinsam behandeln und welche Rolle kann der Philanthropiesektor übernehmen?
Die Themen sind eng verbunden. Sie sind in vielerlei Hinsicht ähnlich. Es ist die existenzielle Bedrohung, von der wir alle wissen, dass sie uns schaden wird, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Die Herausforderung ist, Politiker*innen davon zu überzeugen, die kurzfristigen Kosten für den langfristigen Nutzen zu tragen. Diese Entscheidung innerhalb eines Wahlzyklus zu fällen, ist schwierig. Hier kann die Philanthropie eine gewichtige Rolle übernehmen und sich für die nachhaltigsten Lösungen engagieren. Dazu braucht es kontinuierliche Arbeit – wir können den Klimawandel nicht innerhalb eines Jahres stoppen. Diese langfristige Arbeit braucht es auch bei den Atomwaffen.
Verbier Festival Philanthropy Forum 2022
Beatrice Fihn diskutiert am diesjährigen Verbier Festival Philanthropy Forum zusammen mit Maria Cattaui, Yves Daccord und Jeremy Farrar unter der Leitung Etienne Eichenberger über die Frage: Wie kann Philanthropie einen stärkeren Impact erzeugen im Zeitalter von Disruption? How can philanthropy be more impactful in an age of disruption?
Die Podiumsdiskussion kann online verfolgt werden.
Philanthropy Forum: Samstag 23. Juli 2022, 15.00 – 16.30 Uhr