Emilie Romon, Yuxian Seow, Katalin Hausel, Nora Wilhelm
Wir sind mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert, transformative Lösungen in einem viel schnelleren Tempo zu finden und zu unterstützen als bisher. Neben der Bekämpfung der Symptome der aktuellen Krisen müssen wir auch die Ursachen der Ungleichheiten angehen, die den sozialen und ökologischen Problemen zugrunde liegen.
Einem globalen Bericht von 2020 zufolge sind die meisten Finanzierungspraktiken jedoch nicht geeignet, um Innovationen auf systemischer Ebene zu unterstützen, da sie «oft den Schwerpunkt auf die Finanzierung genau definierter Projekte legen, die innerhalb eines kurzen Zeitrahmens sichtbare Ergebnisse erzielen, was zu Finanzierungsanforderungen und Zeitplänen führt, die nicht gut mit den Bemühungen um einen Systemwandel vereinbar sind. Wer sich für den Wandel auf systemischer Ebene einsetzt, bleibt so auch ohne die so wichtige nichtfinanzielle Unterstützung zurück». (Embracing Complexity, 2020)
Vor diesem Hintergrund hat sich unter der Leitung von Ashoka Schweiz und collaboratio helvetica ein Kollektiv aus Stiftungen und Changemakern in der Schweiz (siehe unten) gebildet, das sich um genau diese Problematik kümmert. In einem einjährigen gemeinsamen Lernprozess tauschten wir Erkenntnisse und Best Practices aus. Zudem entwickelten wir Prototypen für die Umgestaltung bestehender Finanzierungsmechanismen zur besseren Unterstützung von Systemwandel.
Einblicke
In «Accelerating funding for systems change: A Swiss experience» stellte The Philanthropist bereits die von uns angewandte Theory-U-Methode und unsere ersten Erkenntnisse vor – insbesondere die Schlüsseldimensionen für die Finanzierung des Systemwandels. In diesem Folgeartikel teilen wir nun die Resultate aus dem weiteren Prozess:
● Veränderung der Denkweise: Die Grundlage für einen Wandel der Finanzierungssysteme ist ein Mentalitätswandel bei den Projektträger:innen und den verschiedenen Akteur:innen innerhalb der Stiftungen. Ohne diese Änderung sind alle umgesetzten «Lösungen» oberflächlich und nicht nachhaltig. Menschen, die auf einen Systemwandel hinarbeiten, müssen die Systeme verstehen, in denen sie tätig sind, auch aus der Perspektive anderer. Wir müssen unser Ego und unsere individuellen Agenden für unsere gemeinsame Zukunft zurückstellen.
● Systemorientierte Strategien und Finanzierungsmechanismen: Unabhängig davon, ob ein:e Geldgeber:in den Systemwandel unterstützen will, ist ein Verständnis für das Systemdenken der Schlüssel zum Verständnis der (oft) komplexen Probleme, die angegangen werden sollen, sowie zur Entwicklung von Strategien auf der Grundlage dieses Wissens. Das Verständnis der verschiedenen Ebenen des Problems ist bspw. auch für Förder:innen relevant, die direkte Dienstleistungen für eine Bevölkerung erbringen – im Gegensatz zu den Strukturen, die das Problem aufrechterhalten. Ebenso müssen Geldgeber:innen verstehen, wie sich ihre Finanzierungsmechanismen auf das System auswirken, in das sie eingreifen, und wie sie unbeabsichtigte Ergebnisse fördern können, die nicht mit den Werten oder Absichten der Geldgeber:in übereinstimmen. Wenn man bspw. von den Projektträger:innen verlangt, dass sie um die Finanzierung konkurrieren, wird dies wahrscheinlich die Zusammenarbeit zwischen Projektträger:innen im selben Bereich behindern.
● Zeit – langfristiger Horizont (keine schnellen Lösungen): Da ein Systemwandel nicht über Nacht stattfindet, ist viel Geduld erforderlich. Geldgeber:innen investieren, ähnlich wie Investoren in Start-up-Unternehmen, in eine Vision und in Menschen, von denen sie überzeugt sind, dass sie diese umsetzen können. Eine gescheiterte Strategie kann der Schlüsselmoment sein, um die Strategie zu finden, die letztlich funktioniert. Es erfordert Mut, eine langfristige Finanzierung bereitzustellen und in die organisatorische Entwicklung der Partner:innen zu investieren. Doch dies ist zentral, um Veränderung auf systemischer Ebene tatsächlich zu ermöglichen.
● Neuer Rahmen für Wirkungsmessung und Lernen: Die Unterstützung des Wandels auf systemischer Ebene erfordert, dass Lernen ein zentraler Bestandteil der Erfolgsmessung ist (bspw. mit dem Ansatz der Entwicklungsevolution oder der Lernökologie). Durch bewusstes Lernen kann die Strategie, wie wir mit ihr unsere Vision erreichen wollen, kontinuierlich angepasst werden. Je nachdem, ob die Projekte auf die Bekämpfung der Ursachen oder der Symptome abzielen, müssen angepasste Lern- und Bewertungsinstrumente eingesetzt werden. Vereinbarungen sollten eher an den Lernprozess als an kurzfristige KPIs geknüpft sein. Dabei braucht es auch Raum für Misserfolge.
● Bewusstsein für die Machtdynamik, um eine echte Zusammenarbeit und Vertrauensbildung zu ermöglichen: Die Beziehung zwischen Geldgeber:innen und Projektträger:innen ist aufgrund der damit verbundenen Finanztransaktion von Natur aus unausgewogen. Andere Dimensionen können die Machtdynamik beeinflussen, wie etwa die koloniale Geschichte. Ein offener Umgang mit diesen Fragen trägt dazu bei, das für eine echte Zusammenarbeit erforderliche Vertrauen aufzubauen. Vertrauen ist auch zwischen den Mitarbeiter:innen der Geldgeber:innen und den Verwaltungsratsmitgliedern entscheidend.
● Investitionen in den Aufbau von Kapazitäten: Der Systemwandel ist ein hochaktuelles Thema und für uns alle noch ein Lernfeld. Die Geldgeber:innen müssen in den Aufbau ihrer eigenen Kapazitäten investieren, sowohl für ihre Mitarbeiter:innen und Vorstände als auch für die Projektträger:innen. Theoretisches Wissen allein reicht jedoch nicht aus. Zielgerichtetes Handeln in komplexen Kontexten und die Förderung des Systemwandels lassen sich nicht mit generalisierten Vorlagen oder allgemeingültigen Plänen bewerkstelligen – stattdessen geht es um Werte, Denkweisen und die Art, wie man sich auf das System und seine Teilnehmer:innen einlässt. Es ist wichtig, dabei bescheiden zu bleiben und weiterhin durch Handeln zu lernen.
● Zusammenarbeit zwischen Geldgeber:innen: Die Arbeit für systemischen Wandel kann nicht isoliert erfolgen und erfordert eine umfassende Koordination und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur:innen in einem System. Förder:innen können die Wirkung maximieren, indem sie gemeinsam ein Verständnis für das System, resp. die Systeme, zu dem, resp. zu denen sie gehören, und dessen, resp. deren Akteur:innen entwickeln und ihre Strategien und Massnahmen koordinieren. Durch den Austausch von Erkenntnissen darüber, was funktioniert hat und was nicht – ähnlich wie es den Projektträger:innen empfohlen wird – kann die Lernkurve des gesamten Systems erhöht werden und wir kommen gemeinsam unseren Zielen näher. Auch andere Schritte der Zusammenarbeit, wie bspw. die Bündelung von Finanzmitteln, haben grosses Potenzial, unsere gemeinsame Arbeit zu beschleunigen.
Drei neue Instrumente für den Übergang von der Theorie zur Praxis
Zwischen Februar und Juni 2022 trafen sich regelmässig Arbeitsgruppen, um auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse Prototypen zu entwerfen und zu testen, die die Finanzierungsmechanismen in der Schweiz in Richtung Unterstützung systemischer Lösungen verändern könnten. Die Gruppen erstellten ein Glossar und zwei kreative und innovative Instrumente für Geldgeber:innen, um die Selbstreflexion über ihre Finanzierungspraktiken zu fördern.
▪ Funding Mechanisms Spiderweb ist eine visuelle Übung, die Geldgeber:innen hilft, über ihre Finanzierungsmechanismen in zwölf verschiedenen Dimensionen des Finanzierungszyklus nachzudenken. Der Hauptzweck der Übung besteht darin, den Geldgeber:innen die Entscheidungen, die hinter bestehenden oder potenziellen Finanzierungsmechanismen stehen, bewusster zu machen, damit sie die daraus resultierenden Auswirkungen besser verstehen und durch die Erweiterung des Spektrums an Optionen neue Ideen entwickeln können.
▪ Systemic Mindset: 17 Guiding Questions for Funders soll bei der Überprüfung von Strategien und Arbeitsmethoden von Stiftungen helfen, die bereits an systemischer Wirkung arbeiten. Der Fragebogen kann bei der Einleitung eines Strategieprozesses oder als Selbsteinschätzung verwendet werden, entweder auf der Ebene der Stiftung als Ganzes oder auf der Ebene eines ihrer Programme. Der Leitfaden ist in vier Kategorien unterteilt, die verschiedene Aspekte der Arbeit von Förder:innen widerspiegeln: Vision und Wirkung, Partnerschaften und Feedback, Rollen und Positionierung sowie Bewertung und Lernen. Er ist auf Englisch, Deutsch und Französisch verfügbar.
▪ Funding Systems Change Glossary ist ein Hilfsmittel, das Definitionen und Beispiele für einige der Schlüsselkonzepte des Systemwandels in der Finanzierung und im philanthropischen Sektor enthält.
Diese Instrumente sollen so weit wie möglich verbreitet werden und die Arbeit von Stiftungen in der Schweiz und im Ausland unterstützen. Helfen Sie uns, sie bekannter zu machen!
Was wir aus diesem Prozess gelernt haben
Da wir uns auf einen experimentellen Weg begeben haben, hielten wir es für wichtig, unsere Erfahrungen zu dokumentieren und sie öffentlich zu teilen. Die Erkenntnisse aus dem Prozess haben wir mit Hilfe eines learning ecology approach und vier Umfragen erfasst. Die Teilnehmer:innen berichteten unter anderem, dass:
● sie sich als Teil eines Kollektivs und unterstützt fühlten und dass sie ein hohes Mass an Vertrauen innerhalb der Gruppe genossen.
● sie ein besseres Verständnis für den Systemwandel entwickelten und gleichzeitig angesichts der Komplexität der Herausforderung Unbehagen empfanden (was ein gutes Zeichen für Lernen und die nötige Demut angesichts des Systemwandels ist!).
● sie ein wachsendes Gespür dafür entwickelten, was die Finanzierung des Systemwandels für ihre Organisationen bedeuten könnte.
● sie feststellten, dass sie neue persönliche Beziehungen aufgebaut haben, die die Grundlage für künftige Kooperationen bilden können.
● sie mit und von Gleichgesinnten und anderen Akteur:innen des Ökosystems, die an der Initiative beteiligt waren, lernen konnten.
● sie daran interessiert sind, diese Arbeit fortzusetzen.
Der Zeitrahmen war nicht aussreichend, um ein abschliessendes Urteil über die tieferen Auswirkungen dieser Arbeit auf den Sektor zu fällen, da sich diese Effekte über längere Zeiträume entfalten. Jedoch ist die Absicht der Teilnehmer:innen, diesen gemeinsamen Prozess fortzusetzen, vielversprechend. Insgesamt sind wir stolz auf den Weg, den wir zurückgelegt haben, auf die gewonnenen Erkenntnisse, auf die aufgebauten Beziehungen und die erzielten Ergebnisse.
Unsere Arbeit bestätigt, was wir bereits über den Systemwandel wissen: Er braucht Zeit, er ist komplex und findet auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig statt. Es gibt eine Dynamik in diesem Thema, die nicht nur durch die Arbeit, die wir gemeinsam hier in der Schweiz geleistet haben, sondern auch durch das Interesse an Kooperationen und der Verbreitung dieser Erkenntnisse auf internationaler Ebene (zum Beispiel zusammen mit Catalyst 2030), deutlich wird. Wohin uns dieser Weg zur Finanzierung des systemischen Wandels führt, ist nicht absehbar, aber wir freuen uns auf die nächsten Schritte und laden Sie herzlich ein, sich uns anzuschliessen.
Haben Sie die von uns entwickelten Instrumente und Methoden bereits in Ihrer Organisation angewendet und möchten Sie uns Ihr Feedback mitteilen? Haben Sie Fragen zu deren Verwendung oder benötigen Sie Unterstützung bei der Anwendung in Ihrem Arbeitskontext? Wir würden uns freuen, von Ihnen zu hören. Wenden Sie sich an ein Mitglied der Arbeitsgruppen und erzählen Sie uns von Ihren Erfahrungen und Bedürfnissen.
Emilie Romon, Ashoka Switzerland: Email
Yuxian Seow, Ashoka Switzerland: Email
Katalin Hausel, Learning Ecology, collaboratio helvetica: Email
Nora Wilhelm, Co-Founder & Catalyst, collaboratio helvetica: Email