Bild: Louis Maniquet, unsplash

Den syste­mi­schen Wandel finan­zie­ren: Von der Theo­rie zur Praxis

Ein Systemwandel braucht Zeit, er ist komplex und findet auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig statt. Ein Kollektiv aus Stiftungen und Changemakern in der Schweiz hat in einem einjährigen gemeinsamen Lernprozess Erkenntnisse und Best Practices ausgetauscht.

Emilie Romon, Yuxian Seow, Kata­lin Hausel, Nora Wilhelm

Wir sind mit der drin­gen­den Notwen­dig­keit konfron­tiert, trans­for­ma­tive Lösun­gen in einem viel schnel­le­ren Tempo zu finden und zu unter­stüt­zen als bisher. Neben der Bekämp­fung der Symptome der aktu­el­len Krisen müssen wir auch die Ursa­chen der Ungleich­hei­ten ange­hen, die den sozia­len und ökolo­gi­schen Proble­men zugrunde liegen.

Einem globa­len Bericht von 2020 zufolge sind die meis­ten Finan­zie­rungs­prak­ti­ken jedoch nicht geeig­net, um Inno­va­tio­nen auf syste­mi­scher Ebene zu unter­stüt­zen, da sie «oft den Schwer­punkt auf die Finan­zie­rung genau defi­nier­ter Projekte legen, die inner­halb eines kurzen Zeit­rah­mens sicht­bare Ergeb­nisse erzie­len, was zu Finan­zie­rungs­an­for­de­run­gen und Zeit­plä­nen führt, die nicht gut mit den Bemü­hun­gen um einen System­wan­del verein­bar sind. Wer sich für den Wandel auf syste­mi­scher Ebene einsetzt, bleibt so auch ohne die so wich­tige nicht­fi­nan­zi­elle Unter­stüt­zung zurück». (Embra­cing Comple­xity, 2020)

Vor diesem Hinter­grund hat sich unter der Leitung von Ashoka Schweiz und colla­bo­ra­tio helve­tica ein Kollek­tiv aus Stif­tun­gen und Chan­ge­ma­kern in der Schweiz (siehe unten) gebil­det, das sich um genau diese Proble­ma­tik kümmert. In einem einjäh­ri­gen gemein­sa­men Lern­pro­zess tausch­ten wir Erkennt­nisse und Best Prac­ti­ces aus. Zudem entwi­ckel­ten wir Proto­ty­pen für die Umge­stal­tung bestehen­der Finan­zie­rungs­me­cha­nis­men zur besse­ren Unter­stüt­zung von Systemwandel.

Einbli­cke

In «Acce­le­ra­ting funding for systems change: A Swiss expe­ri­ence» stellte The Philanthropist bereits die von uns ange­wandte Theory-U-Methode und unsere ersten Erkennt­nisse vor – insbe­son­dere die Schlüs­sel­di­men­sio­nen für die Finan­zie­rung des System­wan­dels. In diesem Folge­ar­ti­kel teilen wir nun die Resul­tate aus dem weite­ren Prozess:

Verän­de­rung der Denk­weise: Die Grund­lage für einen Wandel der Finan­zie­rungs­sys­teme ist ein Menta­li­täts­wan­del bei den Projektträger:innen und den verschie­de­nen Akteur:innen inner­halb der Stif­tun­gen. Ohne diese Ände­rung sind alle umge­setz­ten «Lösun­gen» ober­fläch­lich und nicht nach­hal­tig. Menschen, die auf einen System­wan­del hinar­bei­ten, müssen die Systeme verste­hen, in denen sie tätig sind, auch aus der Perspek­tive ande­rer. Wir müssen unser Ego und unsere indi­vi­du­el­len Agen­den für unsere gemein­same Zukunft zurückstellen.

System­ori­en­tierte Stra­te­gien und Finan­zie­rungs­me­cha­nis­men: Unab­hän­gig davon, ob ein:e Geldgeber:in den System­wan­del unter­stüt­zen will, ist ein Verständ­nis für das System­den­ken der Schlüs­sel zum Verständ­nis der (oft) komple­xen Probleme, die ange­gan­gen werden sollen, sowie zur Entwick­lung von Stra­te­gien auf der Grund­lage dieses Wissens. Das Verständ­nis der verschie­de­nen Ebenen des Problems ist bspw. auch für Förder:innen rele­vant, die direkte Dienst­leis­tun­gen für eine Bevöl­ke­rung erbrin­gen – im Gegen­satz zu den Struk­tu­ren, die das Problem aufrecht­erhal­ten. Ebenso müssen Geldgeber:innen verste­hen, wie sich ihre Finan­zie­rungs­me­cha­nis­men auf das System auswir­ken, in das sie eingrei­fen, und wie sie unbe­ab­sich­tigte Ergeb­nisse fördern können, die nicht mit den Werten oder Absich­ten der Geldgeber:in über­ein­stim­men. Wenn man bspw. von den Projektträger:innen verlangt, dass sie um die Finan­zie­rung konkur­rie­ren, wird dies wahr­schein­lich die Zusam­men­ar­beit zwischen Projektträger:innen im selben Bereich behindern.

Zeit – lang­fris­ti­ger Hori­zont (keine schnel­len Lösun­gen): Da ein System­wan­del nicht über Nacht statt­fin­det, ist viel Geduld erfor­der­lich. Geldgeber:innen inves­tie­ren, ähnlich wie Inves­to­ren in Start-up-Unter­neh­men, in eine Vision und in Menschen, von denen sie über­zeugt sind, dass sie diese umset­zen können. Eine geschei­terte Stra­te­gie kann der Schlüs­sel­mo­ment sein, um die Stra­te­gie zu finden, die letzt­lich funk­tio­niert. Es erfor­dert Mut, eine lang­fris­tige Finan­zie­rung bereit­zu­stel­len und in die orga­ni­sa­to­ri­sche Entwick­lung der Partner:innen zu inves­tie­ren. Doch dies ist zentral, um Verän­de­rung auf syste­mi­scher Ebene tatsäch­lich zu ermöglichen.

Neuer Rahmen für Wirkungs­mes­sung und Lernen: Die Unter­stüt­zung des Wandels auf syste­mi­scher Ebene erfor­dert, dass Lernen ein zentra­ler Bestand­teil der Erfolgs­mes­sung ist (bspw. mit dem Ansatz der Entwick­lungs­evo­lu­tion oder der Lern­öko­lo­gie). Durch bewuss­tes Lernen kann die Stra­te­gie, wie wir mit ihr unsere Vision errei­chen wollen, konti­nu­ier­lich ange­passt werden. Je nach­dem, ob die Projekte auf die Bekämp­fung der Ursa­chen oder der Symptome abzie­len, müssen ange­passte Lern- und Bewer­tungs­in­stru­mente einge­setzt werden. Verein­ba­run­gen soll­ten eher an den Lern­pro­zess als an kurz­fris­tige KPIs geknüpft sein. Dabei braucht es auch Raum für Misserfolge.

Bewusst­sein für die Macht­dy­na­mik, um eine echte Zusam­men­ar­beit und Vertrau­ens­bil­dung zu ermög­li­chen: Die Bezie­hung zwischen Geldgeber:innen und Projektträger:innen ist aufgrund der damit verbun­de­nen Finanz­trans­ak­tion von Natur aus unaus­ge­wo­gen. Andere Dimen­sio­nen können die Macht­dy­na­mik beein­flus­sen, wie etwa die kolo­niale Geschichte. Ein offe­ner Umgang mit diesen Fragen trägt dazu bei, das für eine echte Zusam­men­ar­beit erfor­der­li­che Vertrauen aufzu­bauen. Vertrauen ist auch zwischen den Mitarbeiter:innen der Geldgeber:innen und den Verwal­tungs­rats­mit­glie­dern entscheidend.

Inves­ti­tio­nen in den Aufbau von Kapa­zi­tä­ten: Der System­wan­del ist ein hoch­ak­tu­el­les Thema und für uns alle noch ein Lern­feld. Die Geldgeber:innen müssen in den Aufbau ihrer eige­nen Kapa­zi­tä­ten inves­tie­ren, sowohl für ihre Mitarbeiter:innen und Vorstände als auch für die Projektträger:innen. Theo­re­ti­sches Wissen allein reicht jedoch nicht aus. Ziel­ge­rich­te­tes Handeln in komple­xen Kontex­ten und die Förde­rung des System­wan­dels lassen sich nicht mit gene­ra­li­sier­ten Vorla­gen oder allge­mein­gül­ti­gen Plänen bewerk­stel­li­gen – statt­des­sen geht es um Werte, Denk­wei­sen und die Art, wie man sich auf das System und seine Teilnehmer:innen einlässt. Es ist wich­tig, dabei beschei­den zu blei­ben und weiter­hin durch Handeln zu lernen.

● Zusam­men­ar­beit zwischen Geldgeber:innen: Die Arbeit für syste­mi­schen Wandel kann nicht isoliert erfol­gen und erfor­dert eine umfas­sende Koor­di­na­tion und Zusam­men­ar­beit zwischen den verschie­de­nen Akteur:innen in einem System. Förder:innen können die Wirkung maxi­mie­ren, indem sie gemein­sam ein Verständ­nis für das System, resp. die Systeme, zu dem, resp. zu denen sie gehö­ren, und dessen, resp. deren Akteur:innen entwi­ckeln und ihre Stra­te­gien und Mass­nah­men koor­di­nie­ren. Durch den Austausch von Erkennt­nis­sen darüber, was funk­tio­niert hat und was nicht – ähnlich wie es den Projektträger:innen empfoh­len wird – kann die Lern­kurve des gesam­ten Systems erhöht werden und wir kommen gemein­sam unse­ren Zielen näher. Auch andere Schritte der Zusam­men­ar­beit, wie bspw. die Bünde­lung von Finanz­mit­teln, haben gros­ses Poten­zial, unsere gemein­same Arbeit zu beschleunigen.

Drei neue Instru­mente für den Über­gang von der Theo­rie zur Praxis

Zwischen Februar und Juni 2022 trafen sich regel­mäs­sig Arbeits­grup­pen, um auf Basis der gewon­ne­nen Erkennt­nisse Proto­ty­pen zu entwer­fen und zu testen, die die Finan­zie­rungs­me­cha­nis­men in der Schweiz in Rich­tung Unter­stüt­zung syste­mi­scher Lösun­gen verän­dern könn­ten. Die Grup­pen erstell­ten ein Glos­sar und zwei krea­tive und inno­va­tive Instru­mente für Geldgeber:innen, um die Selbst­re­fle­xion über ihre Finan­zie­rungs­prak­ti­ken zu fördern.

Funding Mecha­nisms Spider­web ist eine visu­elle Übung, die Geldgeber:innen hilft, über ihre Finan­zie­rungs­me­cha­nis­men in zwölf verschie­de­nen Dimen­sio­nen des Finan­zie­rungs­zy­klus nach­zu­den­ken. Der Haupt­zweck der Übung besteht darin, den Geldgeber:innen die Entschei­dun­gen, die hinter bestehen­den oder poten­zi­el­len Finan­zie­rungs­me­cha­nis­men stehen, bewuss­ter zu machen, damit sie die daraus resul­tie­ren­den Auswir­kun­gen besser verste­hen und durch die Erwei­te­rung des Spek­trums an Optio­nen neue Ideen entwi­ckeln können.

Syste­mic Mind­set: 17 Guiding Ques­ti­ons for Funders soll bei der Über­prü­fung von Stra­te­gien und Arbeits­me­tho­den von Stif­tun­gen helfen, die bereits an syste­mi­scher Wirkung arbei­ten. Der Frage­bo­gen kann bei der Einlei­tung eines Stra­te­gie­pro­zes­ses oder als Selbst­ein­schät­zung verwen­det werden, entwe­der auf der Ebene der Stif­tung als Ganzes oder auf der Ebene eines ihrer Programme. Der Leit­fa­den ist in vier Kate­go­rien unter­teilt, die verschie­dene Aspekte der Arbeit von Förder:innen wider­spie­geln: Vision und Wirkung, Part­ner­schaf­ten und Feed­back, Rollen und Posi­tio­nie­rung sowie Bewer­tung und Lernen. Er ist auf Englisch, Deutsch und Fran­zö­sisch verfügbar.

Funding Systems Change Glos­sary ist ein Hilfs­mit­tel, das Defi­ni­tio­nen und Beispiele für einige der Schlüs­sel­kon­zepte des System­wan­dels in der Finan­zie­rung und im phil­an­thro­pi­schen Sektor enthält.

Diese Instru­mente sollen so weit wie möglich verbrei­tet werden und die Arbeit von Stif­tun­gen in der Schweiz und im Ausland unter­stüt­zen. Helfen Sie uns, sie bekann­ter zu machen!

Was wir aus diesem Prozess gelernt haben

Da wir uns auf einen expe­ri­men­tel­len Weg bege­ben haben, hiel­ten wir es für wich­tig, unsere Erfah­run­gen zu doku­men­tie­ren und sie öffent­lich zu teilen. Die Erkennt­nisse aus dem Prozess haben wir mit Hilfe eines lear­ning ecology approach und vier Umfra­gen erfasst. Die Teilnehmer:innen berich­te­ten unter ande­rem, dass:

● sie sich als Teil eines Kollek­tivs und  unter­stützt fühl­ten und dass sie ein hohes Mass an Vertrauen inner­halb der Gruppe genossen.

● sie ein besse­res Verständ­nis für den System­wan­del entwi­ckel­ten und gleich­zei­tig ange­sichts der Komple­xi­tät der Heraus­for­de­rung Unbe­ha­gen empfan­den (was ein gutes Zeichen für Lernen und die nötige Demut ange­sichts des System­wan­dels ist!).

● sie ein wach­sen­des Gespür dafür entwi­ckel­ten, was die Finan­zie­rung des System­wan­dels für ihre Orga­ni­sa­tio­nen bedeu­ten könnte.

● sie fest­stell­ten, dass sie neue persön­li­che Bezie­hun­gen aufge­baut haben, die die Grund­lage für künf­tige Koope­ra­tio­nen bilden können.

● sie mit und von Gleich­ge­sinn­ten und ande­ren Akteur:innen des Ökosys­tems, die an der Initia­tive betei­ligt waren, lernen konnten.

● sie daran inter­es­siert sind, diese Arbeit fortzusetzen.

Der Zeit­rah­men war nicht auss­rei­chend, um ein abschlies­sen­des Urteil über die tiefe­ren Auswir­kun­gen dieser Arbeit auf den Sektor zu fällen, da sich diese Effekte über längere Zeit­räume entfal­ten. Jedoch ist die Absicht der Teilnehmer:innen, diesen gemein­sa­men Prozess fort­zu­set­zen, viel­ver­spre­chend. Insge­samt sind wir stolz auf den Weg, den wir zurück­ge­legt haben, auf die gewon­ne­nen Erkennt­nisse, auf die aufge­bau­ten Bezie­hun­gen und die erziel­ten Ergebnisse.

Unsere Arbeit bestä­tigt, was wir bereits über den System­wan­del wissen: Er braucht Zeit, er ist komplex und findet auf verschie­de­nen Ebenen gleich­zei­tig statt. Es gibt eine Dyna­mik in diesem Thema, die nicht nur durch die Arbeit, die wir gemein­sam hier in der Schweiz geleis­tet haben, sondern auch durch das Inter­esse an Koope­ra­tio­nen und der Verbrei­tung dieser Erkennt­nisse auf inter­na­tio­na­ler Ebene (zum Beispiel zusam­men mit Cata­lyst 2030), deut­lich wird. Wohin uns dieser Weg zur Finan­zie­rung des syste­mi­schen Wandels führt, ist nicht abseh­bar, aber wir freuen uns auf die nächs­ten Schritte und laden Sie herz­lich ein, sich uns anzuschliessen.

Haben Sie die von uns entwi­ckel­ten Instru­mente und Metho­den bereits in Ihrer Orga­ni­sa­tion ange­wen­det und möch­ten Sie uns Ihr Feed­back mittei­len? Haben Sie Fragen zu deren Verwen­dung oder benö­ti­gen Sie Unter­stüt­zung bei der Anwen­dung in Ihrem Arbeits­kon­text? Wir würden uns freuen, von Ihnen zu hören. Wenden Sie sich an ein Mitglied der Arbeits­grup­pen und erzäh­len Sie uns von Ihren Erfah­run­gen und Bedürfnissen.

Emilie Romon, Ashoka Switz­er­land: Email

Yuxian Seow, Ashoka Switz­er­land: Email

Kata­lin Hausel, Lear­ning Ecology, colla­bo­ra­tio helve­tica: Email

Nora Wilhelm, Co-Foun­der & Cata­lyst, colla­bo­ra­tio helve­tica: Email

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