Als Anita Winter vernahm, dass weltweit die Hälfte der Holocaustüberlebenden in Armut leben, entschied sie sich zu handeln. Mit der Arbeit der Gamaraal Foundation setzt sie sich für die Erinnerung an den unfassbaren Zivilisationsbruch des Holocausts ein.
«Dann hat man mich tätowiert: 17978. Da habe ich sehr geweint. Nicht wegen des Schmerzes, nein, wegen der Nummer. Denn ich hatte den Namen verloren, ich war nur noch eine Nummer», sagt Nina Weil, Holocaustüberlebende und Porträtierte in der Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors». In der Schweiz leben heute gemäss Anita Winter, Gründerin und Präsidentin der Gamaraal-Stiftung, noch wenige hundert Holocaust-Überlebende.
Ein Muss
Es war dieser eine Moment, den Anita Winter ins Handeln brachte. «Als ich vernommen habe, dass weltweit mehr als die Hälfte der Holocaustüberlebenden in Armut leben, konnte ich nicht mehr schlafen», erzählt Anita Winter. Es gibt Länder, etwa die USA oder die Ukraine, in welchen Holocaustüberlebende laut der Jewish Claims Conference überdurchschnittlich oft von Altersarmut betroffen sind. Altersarmut gebe es auch in der Schweiz. In allen Landesteilen. «Wir unterstützen Holocaustüberlebende auf unterschiedlichste Arten», sagt die Präsidentin der Gamaraal Foundation. Die Stiftung übernimmt beispielsweise die Kosten für Hörgeräte oder andere Ausgaben, die das Leben erleichtern.
Ein Projekt zwischen den Generationen
«Wir wollten etwas Kleines machen. Einfach etwas tun. Das ist besser als nichts tun», betont Anita Winter. Eine Stiftung sei es geworden, weil diese Form am passendsten war. Die Ersten, die sich nach der Gründung gemeldet haben, waren Überlebende, denen es heute finanziell sehr gut geht. Sie wollten helfen, wussten aber nicht wie, denn sie konnten ja nicht einfach jemandem Geld schicken. Sehr berührend sei auch, dass Familienangehörige und Nachkommen von Täterseite immer wieder auf die Stiftung zukommen und helfen wollen, erzählt Anita Winter.
Schweigen oder Reden
Eine weitere Motivation zu handeln, wurzelt in der Kindheit Anita Winters. Sie ist in Baden geboren und mit drei Geschwistern als Tochter von jüdischen Holocaustverfolgten aufgewachsen. Heute lebt sie in Zürich. Seit der Kindheit war sie mit den Themen des Holocausts konfrontiert. Bei ihr zu Hause. Sie weiss: «Es gibt Menschen, die schweigen, weil es zu schmerzhaft ist, darüber zu reden, und es gibt jene, die das Erlebte immer wieder thematisieren. Ich hatte beides: Meine Mutter hat geschwiegen und mein Vater hat immer betont, dass der Holocaust nicht vergessen werden darf.» Anita Winter beschreibt ihr Engagement mit leisen und sorgsam gewählten Worten, unterlegt mit Respekt, Achtsamkeit und grosser Dankbarkeit gegenüber den Holocaustüberlebenden. Es kommt eine grosse Bewunderung zum Ausdruck, dass diese Menschen die Kraft und Resilienz hatten, ein neues Leben aufzubauen, nach allem, was sie erlebt haben. Anita Winters Engagement basiert auf der eigenen Geschichte.
«Mein Vater und viele Überlebende sagten in ihren Vorträgen immer wieder: Niemand hätte sich je vorstellen können, was passiert ist. »
Anita Winter, Gründerin der Gamaraal Foundation
Der Vater
Walter Strauss, der Vater Anita Winters, wurde 1922 in Heilbronn geboren. Er erlebte seine Kindheit als eine lehrreiche, fröhliche und glückliche Zeit1. Nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933, änderte sich sein Schulalltag, mit Eintritt ins Gymnasium. Zu Beginn sei er «lediglich» missachtet worden. Dann durfte er sich nicht mehr setzen und wurde als Saujude beschimpft und später war der Schulbesuch für Juden untersagt. In der Verzweiflung schickten seine Eltern ihn nach Berlin, damit er dort eine Schneiderlehre absolvieren konnte. 1938 erlebte er als 16-Jähriger, auf sich alleine gestellt, die Reichspogromnacht. Sein erster Gedanke, als die Synagogen brannten, war: Zum Glück kommt gleich die Feuerwehr und löscht den Brand. Umso entsetzter war er, als er realisierte, dass zwar die Feuerwehr kam, aber nicht, um die brennende Synagoge zu löschen, sondern um die anliegenden Gebäude zu schützen. «Von dieser Nacht hat er immer wieder berichtet, wie einfach alles zusammengeschlagen und geplündert wurde», erzählt Anita Winter.
Die Mutter
Margit Fern kam nach der Machtergreifung Hitlers in Nürnberg zur Welt. 1934. 1938 flüchtete ihre Mutter Rosa mit ihr und ihrem kleinen Bruder Arno über Strasburg, Paris nach Südfrankreich in die Dordogne2. Im ländlichen Gebiet Südfrankreichs konnte sie sich unter dem falschen Namen Marguerite Fontaine bis zum Ende des Krieges verstecken. Es war eine schwere Zeit mit grossen Entbehrungen. Diese Familiengeschichte hat Anita Winter auch dazu bewegt, die Stiftung zu gründen. Aus dem 2014 angedachten kleinen Projekt sind in den vergangenen acht Jahren grosse Projekte entstanden. Das eine ist die Ausstellung, die virtuell und weltweit vor Ort tourt und auf Testimonials von Holocaustüberlebenden beruht. «Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben», ein Zitiat Primo Levis aus dem Buch «The Last Swiss Holocaust Survivors.»
Herzensbildung ist Herzensangelegenheit
Die Bedeutung der Holocaust-Education erachtet Anita Winter von grösster Wichtigkeit. «Wir können diesem Hass die Erinnerung entgegenstellen. Wir können etwas verändern, wenn die nächste Generation vom Holocaust weiss. Ich sage es offen, wir sind enorm gefordert: Der Holocaust gerät in Vergessenheit, vor allem bei den Jugendlichen. Beispielsweise in Frankreich gab einer von fünf Befragten im Alter zwischen 18 und 34 an, noch nie etwas vom Holocaust gehört zu haben. In Österreich, dem Geburtsland von Adolf Hitler, waren es sogar zwölf Prozent der Jugendlichen (Antisemitism in Europe: CNN exclusive poll). Eine Entwicklung, gegen welche die Stiftung ankämpft. Die Gamaraal Stiftung erhielt 2018 zusammen mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich den Dr. Kurt Bigler Preis für hervorragende Projekte im Bereich der Holocausterziehungsarbeit. Die eindrücklichen und berührenden Vorträge gestalten die Holocaustüberlebenden inhaltlich selbst. Die Stiftung erledigt die Vermittlung und Administration und stellt Kontakte her. Dass die Überlebenden ihre Begegnungen selbst gestalten können, ist für Anita Winter von grösster Bedeutung. «Wir sind den Holocaustüberlebenden unendlich und von Herzen dankbar, dass sie die Kraft aufbringen, uns Ihre Lebensgeschichten zu erzählen und uns von Erfahrungen und Erinnerungen zu berichten, die teilweise kaum in Worte gefasst werden können. Die Erinnerungen kommen hoch. Und die Gefühle damit», gibt sie zu bedenken. Nicht immer sei es möglich zu erzählen. Manchmal raubt es schlicht zu viel Energie, über das Geschehene zu sprechen. Die Überlebenden empfänden es aber auch als eine Verpflichtung. Sie sprechen für jene sechs Millionen, die nicht überlebt haben und nicht mehr sprechen können. Es gebe nichts Eindrücklicheres als die direkte Begegnung mit Überlebenden. Bei den regelmässigen Veranstaltungen mit Zeitzeugen, wie kürzlich in einer Zürcher Aula, sei es jeweils mucksmäuschenstill. Die Schüler:innen hören aufmerksam zu. Niemand ist am Handy. Das sei eindrücklich. Und Anita Winter betont. «Jeder Schüler, der einer oder einem Überlebenden zuhören kann, wird Zeuge eines Zeitzeugen. Er wird verstehen und den Holocaust nicht leugnen. Deshalb arbeiten wir Tag und Nacht.»
«Ich sage es offen, wir sind enorm gefordert: Der Holocaust gerät in Vergessenheit, vor allem bei den Jugendlichen. »
Anita Winter
Mitläufer oder Widerstand
Wer vom Holocaust nichts weiss, versteht nicht, wie fragil eine Demokratie letztlich ist. Er versteht nicht, wie aus einer Demokratie eine Diktatur entstehen kann. Er versteht nicht, dass man die Demokratie und die Menschenrechte verteidigen muss und immer verteidigen kann. Auch gegen diesen Hass auf Menschen wegen ihrer Religion, wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung. «Man kann Mitläufer sein oder Widerstand leisten», gibt Anita Winter zu bedenken, «diese Optionen müssen wir den Jugendlichen erklären.»
Sagen, was war
«Holocaustüberlebende wissen, dass sich die Geschichte wiederholen kann, denn sie haben mit eigenen Augen gesehen, wozu Menschen fähig sind», schreibt Anita Winter im Vorwort des Buches zur Ausstellung «The Last Swiss Holcaust Survivors». Dieser Fakt treibt sie an, Porträts und die individuellen Erzählungen von Überlebenden für künftige Generationen zu konservieren. Am dringendsten sucht die Stiftung Geld, um hochwertige Video-Testimonials herzustellen. Sie werden mit den neuesten Technologien aufgenommen, damit sie Bestand haben und für vieles verwendet werden können – etwa für den Geschichtsunterricht, für Social Media, für die Tiktok-Kampagnen oder für virtuelle Ausstellungen.
Nina Weil, Holocaustüberlebende, 1932 in Klattau (heute Tschechien) geboren. Sie engagiert sich in der Gamaraal Foundation gegen das Vergessen des Holocausts.
Wettlauf mit der Zeit
Die Lebensgeschichten der Überlebenden sind einzigartig, sehr individuell und wichtige Zeitzeugnisse. Leider ist es auch schon passiert, dass das Projektteam der Gamaraal Foundation alle Vorbereitungen für Filmarbeiten getroffen hat und die Person noch vor den Dreharbeiten verstarb. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. «Mein Vater und viele Überlebende sagten in ihren Vorträgen immer wieder: Niemand hätte sich je vorstellen können, was passiert ist. Es begann mit der Ausgrenzung. Langsam. Hier eine Bemerkung, dort ein antisemitischer Spruch oder jemand hat sein Unwohlsein gegenüber den Juden bekundet. Aber kein Mensch hätte je nur ansatzweise gedacht, wohin diese je länger je grösser werdenden Diskriminierungen führen würden und zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind.» Umso wichtiger sei es, so Anita Winter, dass die Augenzeugen erzählen, was sie mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Körper erfahren haben.
«Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.»
Primo Levi, Holocaustüberlebender und Autor
Weltweit
Die Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors» ist heute auch dank Anita Winter sehr erfolgreich. Sie ist mutig. Sie bringt die Ausstellung an wichtige Brennpunkte. Die Ausstellung stellt sich dem Schrecken und Tod entgegen, sie ist ein Appell für das Leben und auf der ganzen Welt unterwegs. Der erste Ausstellungsort war Berlin, in der Schweizer Botschaft. Diese liegt direkt gegenüber dem Deutschen Kanzleramt. Das Gebäude überstand als einziges Bauwerk im Spreebogen den Zweiten Weltkrieg. Später hielt die Ausstellung in renommierten Museen, wie beispielsweise dem Memoriale della Shoah di Milano, an unterschiedlichsten Standorten in Asien wie Singapur, in vielen Schweizer Städten und in Israel. Zudem war sie auf Tour in den USA. «Ein grosser Moment war die Ausstellung im Uno-Hauptgebäude in New York. Hauptrednerin war Ruth Westheimer, die in der Schweiz den Holocaust überleben konnte und heute in Amerika lebt», erzählt Anita Winter. Die Ausstellung wurde sowohl in Virginia im Holocaustmuseum als auch in Washington DC gezeigt. Viele Vor-Ort-Ausstellungen wie Bergen-Belsen und Shanghai mussten wegen Corona abgesagt werden. So wurde eine hybride Ausstellung entwickelt, die unter anderem in Athen, Griechenland, gezeigt wurde. Die eindrückliche Ausstellung in Krakau, auf dem Areal von Schindlers Fabrik, konnte zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Die aktuelle Ausstellung wurde am 9. November 2022 in Stockholm in Zusammenarbeit mit dem neuen Holocaustmuseum eröffnet. Die Publikation zur Ausstellung gibt es in zahlreichen Sprachen. Ein kleiner Teil von «The Last Swiss Holocaust Survivors» ist in der Dauerausstellung zur Schweizer Geschichte im Landesmuseum in Zürich zu sehen. Für Schulbesuche stehen kostenlose Leitfäden in mehreren Sprachen zur Verfügung. Neu erscheint ein Buch «The Last Swiss Holocaust Survivors», im Stämpfli Verlag.
Persönlich
Anita Winter bringt weltweit Menschen zusammen, um Gesichter und Geschichten von Menschen zu zeigen, denen einst die Menschenwürde verwehrt wurde. Deshalb möchte ich den Beitrag zu Anita Winter und ihrem Engagement mit dem Zitat von Ivan Lefkovits, Holocaustüberlebender, abschliessen. «Meine Mutter hat mich in Ravensbrück sehr geschützt. Sie machte Extrakommandos für eine zusätzliche Portion Suppe, die sie mir dann gab. Ich habe Lesen und Schreiben, das ganze Einmaleins unter schlimmsten Umständen gelernt. Meine Mutter hat gesagt: Das wirst du in deinem Leben noch brauchen. Das war magisch. Das hiess, du wirst überleben.»
1 Dem Tod entronnen, Gadi Winter, S. 19
2 Dem Tod entronnen, Gadi Winter, S. 36