Ende 2022 musste der langjährige Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK), Markus Mader, überraschend seinen Posten räumen. In einer Medienmitteilung liess das SRK verlauten, dass hinter dem Entscheid des Rotkreuzrats, sich von Direktor Markus Mader zu trennen, unterschiedliche Vorstellungen über Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten stehen. Gleichzeitig mit der Entlassung von Markus Mader sind weitere Rotkreuzräte per sofort zurückgetreten. Der Konflikt gipfelte nach der Veröffentlichung eines Untersuchungsberichtes im Rücktritt der Präsidentin. Protest-Rücktritte aus dem Vorstand gab es diesen Frühling beim Schweizerischen Tierschutz. Verschiedene Exponent:innen haben die Organisation wegen unüberwindbarer Differenzen in der Ausrichtung selber verlassen. Beide Konflikte hatten eine grosse mediale Beachtung, die der Reputation der beiden Organisationen sicher nicht zuträglich war. Und es waren nicht die einzigen NPOs mit negativen Schlagzeilen.
«Föderale Organisationsstrukturen stellen Anforderungen an das Management, die sich von denen in hierarchisch fester gefügten Strukturen deutlich unterscheiden.»
Markus Gmür, Professor und Direktor Forschung des Instituts für Verbands‑, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI)
Strategie und Management
Die Meldungen dieser Zerwürfnisse lassen vermuten, dass NPOs besonders anfällig für Führungskonflikte sind. Die Frage ist, besteht bei gemeinnützigen Organisationen ein besonders starkes Spannungsfeld zwischen der strategischen – diese ist oft unbezahlt – und der operativen Ebene? «Grundsätzlich besteht ein Spannungsfeld, wenn der operativen Ebene eine Ausführungs- und der strategischen Ebene eine Aufsichtsaufgabe zukommt», erklärt Markus Gmür, Professor und Direktor Forschung des Instituts für Verbands‑, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI), «und die Spannung spitzt sich weiter zu, wenn die Beteiligten neben unterschiedlichen Aufgaben eine ungleiche professionelle Orientierung haben.» Das sei dann der Fall, wenn sich bei einem Hilfswerk das Management an betriebswirtschaftlichen Grundsätzen orientiert und der Vorstand sehr humanitär eingestellt ist. Es liegt in der Sache, dass die operative Geschäftsführung für sich in Anspruch nimmt, über die notwendige betriebliche Kompetenz zu verfügen. Ein ehrenamtliches Vorstandsmitglied hingegen sieht sich als Garant, die in den Statuten festgelegte humanitäre Idee konsequent und professionell zu verfolgen. Doch dies birgt Konfliktpotenzial: So kann beispielsweise der Vorwurf entstehen, dass die Geschäftsleitung den Zweck aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen aus den Augen verliert. Hier hält Markus Gmür fest: «Die Organisationen sind brückenbauend tätig und müssen über entsprechend interdisziplinäre Fähigkeiten und Einsichten verfügen. Mit diesen umzugehen, erfordert bei allen Beteiligten Respekt und Übersicht.»
Zentral versus dezentral
Mehrstufige gemeinnützige Organisationen mit föderalen Strukturen wie beim SRK und beim Schweizer Tierschutz sind zusätzlich mit ständigen Spannungen zwischen der Zentrale und den regionalen Organisationen konfrontiert. Das zeigt sich in vorübergehenden Phasen der Zentralisierung und Dezentralisierung. Markus Gmür gibt zu bedenken, «der Wendepunkt geht oftmals mit offenen Governance-Konflikten einher». Diese Spannungen betrachtete er in einer föderalen Struktur als systemimmanent und er empfiehlt, die verschiedenen Spannungsfelder in regelmässigen Abständen in einem offenen Dialog zu thematisieren. Dies, um Eskalationen rechtzeitig aufzufangen und die unvermeidliche Pendelbewegung zwischen Zentrale und Dezentrale konstruktiv zu nutzen. Er betont: «Föderale Organisationsstrukturen stellen Anforderungen an das Management, die sich von denen in den hierarchisch fester gefügten Strukturen, die in der öffentlichen Verwaltung oder in Wirtschaftsbetrieben anzutreffen sind, deutlich unterscheiden.»
«Die einen wollen, dass NPO ihre Augen nicht vor wirtschaftlichen Notwendigkeiten verschliessen, die anderen sehen die ideellen Ziele in Gefahr.»
Markus Gmür, Professor und Direktor Forschung des Instituts für Verbands‑, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI)
Wirtschaftliche versus ideelle Anliegen
In der NPO-Welt stehen sich betriebswirtschaftliche und ideelle Anliegen gegenüber. Man könne davon ausgehen, so Markus Gmür, dass es in den vergangenen Jahren eine Verschiebung hin zu einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber betriebswirtschaftlichen Sichtweisen gegeben habe und damit verbunden einen höheren Respekt vor wirtschaftlichen Restriktionen. Auch das führt zu Spannungen. «Die einen wollen, dass NPO ihre Augen nicht vor wirtschaftlichen Notwendigkeiten verschliessen und mit ideellen Anliegen die Zielerreichung behindern», sagt der Fachmann, «und die anderen sehen die ideellen Ziele in Gefahr, weil sie durch den ‹Managerialismus› einer vermeintlich ‹ökonomischen Realität› geopfert würden.» Die wirtschaftliche Ausrichtung entspricht einer starken gesellschaftlichen Norm unserer Gegenwart. Eine allzu starke Akzentuierung auf ökonomische Ziele könnte aber die Wirksamkeit ideeller Anliegen auch behindern.
Das Risiko einzuschlafen
Kollaborative und partizipative Ansätze werden heute oft als eine gute Lösung für komplexe Aufgaben in komplizierten Organisationen empfohlen. Doch führen diese neuen Zusammenarbeitsformen sicher ins Ziel? «Die Art der Arbeitsteilung, operativ und strategisch, ergibt immer noch Sinn, wenn wir die Menschen, die sie erfüllen sollen, nicht überfordern wollen», sagt Markus Gmür. «Es ist vielleicht ein bisschen wie in der Demokratie, die auch von der – am Ende friedlich aufgelösten – Debatte der Gegensätze lebt, weil sie bei vorzeitigem Konsensstreben riskiert einzuschlafen.» Und er erläutert weiter, dass im NPO-Sektor sowieso eine vergleichsweise kooperative Einstellung herrsche, die strukturelle Gegensätze kulturell abmildert. Er empfiehlt, diese Abmilderung generell nicht noch stärker voranzutreiben.
«Eine fruchtbare Zusammenarbeit gelingt dort, wo die Beteiligten Klarheit über ihre spezifischen Rollen haben.»
Markus Gmür, Professor und Direktor Forschung des Instituts für Verbands‑, Stiftungs- und Genossenschafts- management (VMI)
In das Gegenüber versetzen
«Eine fruchtbare Zusammenarbeit gelingt dort, wo die Beteiligten Klarheit über ihre spezifischen Rollen haben – je komplexer die gemeinsame Aufgabenstellung, umso wichtiger das Anliegen», betont Markus Gmür. Erfolgreiche Zusammenarbeit scheitert oft an zu komplexen Vorgaben, an überforderten Entscheidungsbeteiligten, denen es an kognitiven Fähigkeiten, an Erfahrungen oder einer gefestigten Persönlichkeit fehlt. Für ihn steckt die wesentliche Erkenntnis in einer Aussage des Deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900–2002): «Bildung heisst, sich die Dinge vom Standpunkt eines Anderen ansehen können.»