Ende April durfte «The Philanthropist» mit Altbundesrat Adolf Ogi sein erstes Skype-Interview führen. Ein herzliches, persönliches Gespräch über die Auswirkungen der Coronakrise auf die ältere Bevölkerung, auf den Sport und ganz konkret auf seine Stiftung Freude herrscht.
Sie waren Sportminister, sind selber sehr sportlich: Kommen Sie in dieser speziellen Zeit noch zu Bewegung?
Ich probiere, jeden Tag eine bis anderthalb Stunden in den Wald zu gehen. Das heisst auch, sich an die Anweisungen des Bundesrates zu halten. Ich habe eigentlich selten jemanden getroffen und ich brauche die Bewegung. Das war schon immer so.
Es ist Ende April: Was vermissen Sie?
Wir haben diese Zeit gut über die Bühne gebracht. Aber jetzt kommt der Moment, an welchem ich sehr gerne wieder unter die Leute gehen würde. Gemeinsam Kaffee trinken, wieder einmal in ein Restaurant ausgehen. Beim Wandern würde ich gerne einkehren, Freunde treffen und vor allem meine Tochter wieder umarmen.
Sie befassen sich schon fast ein ganzes Leben lang mit Sport. Sie waren in schweizerischen und internationalen Schlüsselpositionen für den Sport. Was bedeutet die aktuelle Situation?
Diese Situation macht mir grosse Sorgen. Es ist eine sehr schwierige Situation für den Sport. Man sieht das heute noch nicht so richtig. Leider wurde während der Coronakrise an den täglichen Pressekonferenzen des Bundes der Sport sehr lange nicht erwähnt. Ich habe ein bisschen Angst, dass der Sport der grosse Verlierer in dieser schwierigen Situation sein wird. Es steht sehr viel auf dem Spiel, nicht nur beim Profisport, auch auf der Ebene der Clubs und Vereine. Diese werden wahrscheinlich nicht alle überleben können. Meiner Meinung nach müsste der Sport von der
Politik mehr als Wertfaktor wahrgenommen werden.
Inwiefern wird ein Schaden entstehen beim Breitensport?
Nicht nur beim Breitensport. Es startet bei den Grossen. Die Olympiade wurde verschoben, die Fussball-Europameisterschaft findet nicht statt, grosse Tennisturniere wie Wimbledon sind abgesagt und täglich werden weitere internationale Wettkämpfe gecancelt. Das führt zu einer Kaskade. Nationale Meisterschaften und regionale Anlässe werden in der Folge abgesagt. Solange sich nicht mehr als fünf Leute treffen dürfen, wird es so weitergehen. Können Vereine ihre regelmässigen Anlässe nicht durchführen, den Wurststand nicht aufbauen, fehlen die minimalsten Einnahmen und die finanzielle Grundlage geht kaputt. So verliert der Verein auch noch die ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Das ist das Problem.
Wie wird sich das zeigen?
Sollte die Nationalliga im Eishockey, die Champions League oder die Fussballmeisterschaft 19/20 nicht abgeschlossen und die Saison 20/21 nicht eröffnet werden, ist das schlimm. Man darf das nicht vergessen: Für viele Menschen ist der Fussball eine Abwechslung, die dem Gemüt guttut. Sport begeistert. Das ist ungeheuer wertvoll in unserem Leben. Wir stehen alle auf die eine oder andere Weise unter Druck. Das ist wie ein Ventil.
Was bedeutet der Sport ganz generell für unsere Gesellschaft?
Wenn wir künftig eine bessere und friedlichere Welt wollen, dann brauchen wir sozialkompetente Politikerinnen und Politiker, die Wirtschaft, die Wissenschaft sowie tolerante religiöse und spirituelle Führerinnen und Führer. Dazu braucht es die heutige junge Generation, die künftig Verantwortung übernehmen und Leader werden wollen. Wir sollten jedem Kind zwischen fünf und zwölf Jahren die Möglichkeit geben, durch die Lebensschule Sport zu gehen: lernen im Sport zu gewinnen, ohne überheblich zu werden, lernen im Sport zu verlieren, ohne einer Weltuntergangsstimmung zu verfallen. Im Sport lernt man, sich in ein Team zu integrieren sowie Regeln und den Schiedsrichterentscheid zu akzeptieren. Zu dieser festen Überzeugung bin ich aufgrund meiner Erfahrungen als Direktor bei Swiss Ski, als Bundesrat und vor allem als Uno-Sonderbeauftragter für Sport, Entwicklung und Frieden gekommen.
Wie es aussieht, wird uns dieser Virus noch etwas erhalten bleiben. Was empfehlen Sie der älteren Generation?
Einen allgemeingültigen Ratschlag gibt es nicht. Meine Generation leidet. Da muss man ganz ehrlich sein.
Wahrscheinlich finden sich nicht alle zurecht mit der Situation, aber
sie halten sich sehr gut an die vorgegebenen Empfehlungen. Ein Kompliment ist hier angebracht.
Man hat die älteren Menschen gewissermassen eingesperrt und nun muss ein Weg gefunden werden, sie wieder rauszulassen. Meine Generation hat solidarisch gehandelt, anerkannt, dass man die Anweisungen des Bundesrates nicht einfach über Bord werfen kann. Distanz halten und Hände waschen. Nun ist es gut, wenn der Lockdown vorbei ist und die ältere Generation wieder zu einem
Jass antreten kann. Die Schweiz ist das Land der vier Sprachen und 26 Kantone. Wir leben in Frieden und Freiheit zusammen, und das seit 1848. Die älteren Personen kennen diesen Wert. Bei dieser Art von Zusammenleben braucht es die Begegnung und die Debatte. Sieht man sich nicht mehr, könnte das zu gesellschaftlichen Spannungen führen. Es ist gut und wichtig, wenn sich nun die Menschen wieder unter Beachtung der vorgegebenen Vorsichtsmassnahmen treffen können. Begegnung macht uns stark.
Ist die Coronakrise nicht auch ein Chance, dass es wieder einen besseren Austausch über die Generationen hinweg gibt, mehr Solidarität? Die Jüngeren helfen den Älteren.
In der Krise zählt der Charakter. Aus der Krise kommt man vielleicht etwas gestärkter raus und vielleicht auch etwas bescheidener. Im Sinne, dass wir mehr füreinander sorgen, uns helfen und unterstützen. Aus dieser Krise müssen wir Lehren ziehen, vielleicht bei gewissen Dingen handeln, bei welchen man längst etwas hätte tun sollen. Wir müssen die negativen wie die positiven Konsequenzen ziehen und die entsprechenden Massnahmen beschliessen.
Zur Stiftung Freude herrscht: Sie haben 2010 im Gedenken an Ihren verstorbenen Sohn Mathias A. Ogi die Stiftung Freude herrscht gegründet. Die Stiftung will Kinder und Jugendliche für Sport und Bewegung begeistern. Sie unterstützen Projekte und Organisationen des Kinder- und Jugendsports sowie Programme zur Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen. Was heisst die Krise für die Stiftung?
Wir werden sicher weitermachen. Wir setzen alles daran, die Stiftung finanziell so aufzustellen, dass wir diese Coronakrise überleben und weiterhin vielen tausend Kindern in unserem Land Spiel, Spass und Freude ermöglichen können. Wir wollen Solidarität vermitteln, mit den Kindern raus in die Landschaft und die Natur. Wir werden auch künftig einen wichtigen Beitrag leisten, vielleicht sogar noch einen wichtigeren. Davon ist unser Stiftungsrat überzeugt. Wir wollen gerade nach der Krise jene unterstützen, die es nötig haben. Wir wollen der Jugend die wichtigen Qualitäten für das Zusammenleben in der Zukunft vermitteln und dort ansetzen, wo man die Tendenz hat, die Kinder etwas zu vergessen. Der Stiftungsrat wird neue Ideen und Projekte lancieren.
Man spürt die Freude und den Willen, dass es weitergeht. Jährlich unterstützen Sie etwa 80 Veranstaltungen. Welche Folgen hat die Krise auf Ihre Events?
Leider mussten wir den Skitag mit Matthias Glarner, dem Schwinger-
könig, absagen. Er ist ein wertvoller Botschafter der Stiftung Freude herrscht. Seit vier Jahren haben wir mit ihm eine Vereinbarung. Jährlich kann er zwei Schweizer Schulklassen einladen. Wir organisieren den Transport zu den Bergbahnen Meiringen-Hasliberg. Diese bringen die Kinder gratis in die Höhe. Matthias Glarner spendiert das Mittagessen, übrigens Älplermagronen.
Der Grand Prix von Bern, einer der grössten Laufsportanlässe in der Schweiz, musste abgesagt werden. Seit es die Stiftung Freude herrscht gibt, haben wir Kinder aus dem Lötschental zu diesem Anlass eingeladen – Kinder, die sonst nie die Chance gehabt hätten, an einem solchen Anlass berücksichtigt zu werden. Sie nahmen am Lauf teil, später assen wir gemeinsam im Café Federal und schauten, wie die besten Läuferinnen und Läufer den Bundesplatz überquerten. Und bevor es jeweils zurück ins Lötschental ging, besuchten wir noch das Bundeshaus. Sport, Begegnung, Geschichte und Politik, alles an einem Tag. Und natürlich gibt es auch viele kleine Anlässe, die wir nicht durchführen konnten und können. Aber nach der Krise sollen wieder viele Kinder vor Freude glänzende Augen haben. Dafür geben wir unser Bestes.
Sehen Sie das Engagement Ihrer Stiftung auch als Brückenschlag zwischen den verschiedenen Generationen?
Unsere Organisation ist auf Kinder fokussiert. Natürlich kommt es vor, dass die Grosseltern die Kinder bringen. Wir haben vor allem gegenüber den Eltern eine sehr grosse Verantwortung, deshalb beziehen wir diese sehr bewusst mit ein. Darauf legen wir grossen Wert. Die Kinder müssen richtig übernommen und dann auch wieder den Eltern übergeben werden. Wir wollen, dass man merkt, dass wir diesen Auftrag sehr ernst nehmen. Und so sind diese Übergänge gewissermassen immer auch eine Begegnung zwischen Jung und Alt.
Wie setzt sich der Stiftungsrat zusammen? Ein Thema ist immer, dass es schwierig ist, Stiftungsräte zu finden.
Bei unserer Stiftung ist das kein Thema. Unsere Stiftungsräte sind in erster Linie Studienkollegen und Freunde meines Sohns Mathias – Menschen aus seinem Leichtathletikumfeld, Leute, die auch wir als Familie kennen. Wir sind aktuell neun Mitglieder und wir möchten eigentlich nicht mehr sein. Wir haben zusätzlich verschiedene Botschafterinnen und Botschafter wie Bernhard Russi, Matthias Glarner oder Tanja Frieden. Und wir haben ein sehr gutes Sekretariat und eine tolle Geschäftsführung. Das möchte ich an dieser Stelle erwähnen: Ohne Matthias Kuratli, der aufgrund eines schmerzlichen persönlichen Verlustes die nötige Sensibilität mitbringt, und Sandra Palli könnten wir das alles nicht bewältigen. Sie haben das Gespür, gemeinsam mit uns die Stiftung in die richtige Richtung zu führen.
Es braucht die richtigen Leute mit dem entsprechenden Herzblut.
Wenn es wie in unserem Fall alles Mitglieder sind, die unseren verstorbenen Sohn Mathias gekannt haben, gibt das ein sehr starkes Vertrauensverhältnis. Ich glaube, ich darf das hier sagen: Jene Menschen, die mit Mathias durch das Leben gegangen sind, auch gemeinsam mit ihm im Militär waren, vermitteln mir immer, dass er ein bescheidener und anständiger Bursche war. Dies, auch wenn er ein Bundesrat-Sohn war, was sicher nicht immer einfach für ihn war.
Die Stiftung Freude herrscht
Freude herrscht wurde 2010 im Gedenken an Mathias A. Ogi gegründet. Der Berner Jurist und Sportler Mathias A. Ogi ist im Alter von 35 Jahren an einer seltenen Form von Krebs gestorben.
Die Stiftung will Kinder und Jugendliche für Sport und Bewegung begeistern. Sie unterstützt als gemeinnützige Stiftung jährlich rund 80 Projekte und Organisationen des Kinder- und Jugendsports sowie Programme zur Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen.
Am 18. September 2018 konnte Freude herrscht im Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon den mit 100’000 Franken dotierten Adele-Duttweiler-Preis entgegennehmen. Die Auszeichnung wird alle zwei Jahre von der Migros an Personen und Organisationen verliehen, die sich im sozialen Bereich besonders verdient gemacht haben.