MSF Schweiz wurde vor 50 Jahren gegründet. Der Zewo-zertifizierte Verein finanziert sich zu 97 Prozent aus Spenden von Privatpersonen.
The Philanthropist: Wie hat Corona die Arbeit von Médecins sans Frontières MSF verändert?
Stephen Cornish: Wir haben eine Ausnahmesituation. Es ist eine globale Gesundheitskrise, die nicht nur jene Länder trifft, in welchen MSF traditionell tätig ist. Auch wohlhabende Länder wie die Schweiz oder Frankreich, die USA oder Spanien sind zum Teil hart getroffen. Unser Wissen und unsere Erfahrung war auf einmal auch in diesen Ländern gefragt. So war etwa in der Schweiz unsere Erfahrung gefragt, wie die Essensverteilung an verletzliche Personen in der Pandemiesituation aufgegleist werden kann.
TP: Viele Länder, in denen MSF traditionell tätig ist, sind Krisenländer. Wie wird die Pandemie in diesen erlebt?
SC: Sie sind natürlich auch hart getroffen. Auch sie müssen auf die Pandemie reagieren. Die grosse Herausforderung ist, die bisherige Organisation wie die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten. Mit dem Covid-Ausbruch wurde es in vielen Regionen noch schwieriger, bspw. Routineimpfungen durchzuführen. Klar ist, dass die Situation von Land zu Land anders ist. Wenn sie in einem Kriegsgebiet sind, haben sie gelernt, ums Überleben zu kämpfen. Dann ist Covid ein zusätzliches Problem zu den anderen.
Gerade für den Süden hat es zu wenig Impfstoff.
Stephen Cornish, Direktor von Ärzte ohne Grenzen/Médecins sans Frontières
TP: Gehen diese Länder anders mit der Pandemie um, weil sie sich in ihrem Alltag gewohnt sind, zu improvisieren und mit einer Krise umzugehen?
SC: Das lässt sich nicht einfach beantworten. Das ist sehr unterschiedlich. Gewisse haben bereits eine gute Kontrolle der Ansteckungen. Entscheidend ist der Umgang der Regierungen mit der Pandemie. In Ländern wie Brasilien oder Tansania aber auch die USA, wo die Regierungen die Pandemie heruntergespielt haben, gab es kaum Vorbereitungsarbeiten auf die Pandemie. Hier ist die Zahl der Todesfälle sehr hoch. Die Wirklichkeit aber ist vor allem, dass es ein globales Problem ist, das eine globale Antwort verlangt.
TP: Das heisst?
SC: Wir brauchen Impfungen für alle. Wir brauchen einen Technologietransfer. Wir haben eine zu kleine Produktion. Gerade für den Süden hat es zu wenig Impfstoff.
TP: Ist es nicht unrealistisch, gerade in einer Krise zu erwarten, dass die wohlhabenden Nationen Impfstoff abgeben, wenn sie selbst zu wenig haben?
SC: In der Doha-Erklärung von 2001 hatten die Nationen erklärt, bei Gesundheitskrisen den Patentschutz aufzuheben, um die Medikamentenproduktion vor Ort zu ermöglichen. Doch die Realität sieht anders aus, obschon viele öffentliche Gelder die Entwicklung der Impfstoffe erst ermöglicht haben. Afrika produziert gerade einmal ein Prozent des benötigten Impfstoffes selbst. Und zum Teil sind Impfstoffe in Südafrika gar teurer als in Europa.
TP: In der Krise ist jedes Land mit sich selbst beschäftigt.
SC: Das ist auch nachvollziehbar. Aber wir müssen verstehen, dass es eine globale Krise ist. Wenn wir versuchen, diese national zu lösen, rollt immer wieder eine neue Welle mit Virusmutationen über die Welt.
TP: Ist es aktuell einfacher, gehört zu werden, weil alle im selben Boot sitzen?
SC: Wir sitzen nicht alle im selben Boot. Die einen sitzen an Bord einer Luxusjacht, andere auf einem kaum seetüchtigen Kahn. In den wohlhabenden Ländern haben wir Möglichkeiten wie Homeoffice. In den Ländern, in welchen MSF aktiv ist, ist kaum ein Prozent geimpft. Wir sind seit über einem Jahr in der Pandemie. Wir brauchen endlich einen Weckruf.
TP: Aktuell gibt es vielerorts auch zu wenig Gesundheitspersonal. Haben Sie Schwierigkeiten, Ärztinnen und Pfleger für ihre Einsätze zu finden?
SC: Das global verfügbare Gesundheitspersonal ist limitiert. Es gab Schwierigkeiten, weil in Ländern, in denen wir rekrutieren, das Gesundheitspersonal im Land eingezogen wurde. Aber wir haben genügend Personal, auch wenn wir vielleicht mehr Aufwand betreiben müssen, um sie zu erreichen.
TP: Und auf Spendenseite: Ist es schwieriger, Gelder zu sammeln?
SC: Als Organisation im Gesundheitsbereich sind wir aktuell gefragt. Das hilft uns. Wir konnten unsere Basis vergrössern. Ich möchte mich auch gerade bei den Menschen in der Schweiz bedanken. Ihre Grosszügigkeit ermöglicht erst die Einsätze von MSF, auch in der Pandemie.
Aber Covid trifft alle. Das öffnet ein Fenster für Empathie. Vielleicht gelingt es, diese Empathie für andere Themen zu nutzen.
Stephen Cornish, Direktor von Ärzte ohne Grenzen/Médecins sans Frontières
TP: Dass die Spenderinnen und Spender aktuell selbst in einer Krise leben, hält sie nicht vom Spenden ab?
SC: Im Gegenteil. Weil die Krise alle trifft, ist es für die Menschen in der Schweiz einfacher, die Situation der Menschen in einem der traditionellen Tätigkeitsgebiete von MSF zu verstehen und nachzuvollziehen. Themen wie Tuberkulose oder die Rechte von Vertriebenen können für die Menschen in der Schweiz theoretisch bleiben, weil sie nie etwas vergleichbares erlebt haben. Aber Covid trifft alle. Das öffnet ein Fenster für Empathie. Vielleicht gelingt es, diese Empathie für andere Themen zu nutzen.