Sie haben 2020 ein Manifest verfasst: Wie hat dies die Zusammenarbeit beeinflusst?
Wichtig ist festzuhalten, dass wir das Manifest nicht geschrieben haben, weil in unserem Team grundsätzlich was schief lief. Es war für uns eher ein Innehalten und uns unserer gemeinsamen Werte bewusst werden. Wir wollten die Werte schärfen, indem wir sie schriftlich festhalten.
Wie ist das Manifest entstanden?
Initialzündung des Manifests war die Aussicht auf mehr Subventionen. Uns war klar, dass wir für mehr Fördergelder der Stadt Bern kämpfen wollten, aber dabei nicht einfach entsprechend mehr Programm anbieten wollten bei gleichschlecht bleibenden Arbeitsbedingungen. Wir haben uns also erst einmal gefragt, welche Werte – bisher implizit – hinter unserer Arbeit stehen und wo wir einen Schritt weitergehen sollten. So haben wir im Zuge dessen auch die Arbeitsbedingungen des Teams verbessert. Die Löhne lagen tiefer als der Branchendurchschnitt. Zudem verfügten wir über zu wenig Stellenprozente für die notwendige Arbeit.
Wie überprüfen Sie den Anspruch bezüglich Inklusion und Diversität, Nachhaltigkeit und Transparenz, der im Manifest formuliert ist, ob Sie diesem gerecht werden?
Wir widmen jährlich eine Sitzung oder Retraite im Kernteam der Überprüfung des Manifests. Dabei interessieren uns vier Fragen: Haben wir das Manifest eingehalten und wo nicht? Gab es kritische Reaktionen auf das Manifest von unseren Kollaborateur:innen, woraus wir etwas lernen können? In welchem Bereich geht das Manifest zu wenig weit und muss es geschärft werden? Sind uns weitere Bereiche/Punkte aufgefallen, die wir festhalten möchten? Nach wie vor bleibt für uns eine Frage offen: Was passiert, wenn sich in einem Thema alle vier Mitglieder des Kernteams manifest-widrig verhalten? Wenn wir uns bspw. alle gleichermassen diskriminierend gegenüber einer Person oder Personengruppe verhalten würden? Wäre da die Selbstreflexion genügend stark, um das aufzudecken?
So können wir gemeinsam strategische Entscheidungen treffen, ohne je das Künstlerische gegen das Kaufmännische auszuspielen.
Nicolette Kretz, Gesamtleiterin auawirleben Theaterfestival Bern
Wie schwierig ist die Zusammenarbeit verschiedener Bereiche? Wie stark lässt sich die künstlerische Arbeit mit der kaufmännischen verbinden?
Hier hilft uns die geringe Grösse unseres Teams. Im «Büro», also im organisatorischen und künstlerischen Bereich, sind wir vier Personen. Jede und jeder hat sozusagen eine Abteilung. Wir müssen zwingend bereichsübergreifend arbeiten. Alle sind über die anderen Bereiche gut informiert. Ich bin sehr froh, dass ich neben meinem theaterwissenschaftlichen Studium im Nebenfach Betriebswirtschaftslehre studiert habe. Umgekehrt ist Bettina Tanner, die bei uns die finanziellen, personellen und vertraglichen Geschäfte führt, hochgradig kompetent in künstlerischen Belangen. So können wir gemeinsam strategische Entscheidungen treffen, ohne je das Künstlerische gegen das Kaufmännische auszuspielen.
Sie setzen sich inhaltlich mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen auseinander. Ist es für Sie selbstverständlich, deswegen auch ihre Zusammenarbeit hinsichtlich dieser Veränderungen zu prüfen und anzupassen?
Es ist auf alle Fälle so, dass wir das Manifest mitunter geschrieben haben, weil wir nicht «Wasser predigen und Wein trinken» wollten. Nach wie vor geschieht dies oft im Theater! Schauspieler:innen und Tänzer:innen werden ausgebeutet, während sie in einem kapitalismuskritischen Stück spielen. Oder Regisseur:innen fliegen nach Berlin, um an einem Stück über die Klimakatastrophe zu arbeiten. Das ist vielleicht etwas zugespitzt formuliert, aber doch in etwa korrekt. Aber wir machen ja natürlich auch nicht alles richtig, nur weil wir jetzt dieses Manifest haben!
Wie erkennen Sie Verbesserungspotenzial?
Die Inhalte bzw. die Künstler:innen unseres Programms fordern uns nach wie vor heraus! Dieses Jahr haben wir bspw. zwei britische Theatergruppen im Programm, die im Bereich Barrierefreiheit deutlich weiter gehen als wir. Wir lernen gerade sehr viel, indem wir ihre Forderungen umsetzen. Ebenso prüfen einige Künstler:innen oder Organisationen, mit denen wir kooperieren, immer mal wieder, ob wir uns des Tokenisms – dass wir nur symbolische Anstrengungen unternehmen – schuldig machen. Dieser «Reality Check» ist absolut wichtig und richtig! Wenn uns Künstler*innen keine kritischen Fragen mehr stellen würden, wäre das Manifest eine Farce!
Zum Beitrag Kollaboration im Rampenlicht. Wie Kulturinstitutionen neue Arten der Kollaboration nutzen.