Wer bestimmt eigentlich, was wohltätig ist? Professor Giuseppe Ugazio spricht über die Bedeutung von gut und wohltätig. Er sagt, was Philanthropie hierzu leistet und was wichtiger ist, Geld oder persönliches Engagement.
Professor Giuseppe Ugazio ist sowohl Doktor der Philosophie als auch der Neuroökonomie. Er untersucht mit interdisziplinären Methoden die sozialen Entscheidungsfindungen, insbesondere in Zusammenhang mit moralischen Werten und Ehrlichkeit. Er besetzt die Edmond de Rothschild Assistenz Professur in Behavioral Philanthropy und lehrt am Zentrum für Philanthropie an der Universität Genf.
The Philanthropist: Wer sagt, was gut ist – ist eine Organisation wohltätig, weil sie steuerbefreit ist?
Giuseppe Ugazio. Es ist umgekehrt. Die Steuerbefreiung ist keine Definition für Wohltätigkeit. Praktisch funktioniert es zwar, aber die Frage ist von der falschen Seite beantwortet. Die Steuerbefreiung ist die Folge der Wohltätigkeit.
TP: Wie bestimmen wir denn, was wohltätig ist?
GU: Auf Gesellschaftsebene lautet die Antwort: die Mehrheit. In einer Demokratie – dem besten System, das wir haben – muss die Mehrheit entscheiden. Sie bestimmt, welche moralischen Werte am meisten zur Gestaltung unserer Gesellschaft beitragen. Das heisst aber nicht, dass wir die moralischen Werte der Minderheit vernachlässigen sollten.
TP: Was heisst das für den Einzelnen?
GU: Auf privater Ebene kann jede und jeder selbst wählen, welche moralischen Werte er oder sie befolgt, solange diese innerhalb des allgemein akzeptierten Rahmens liegen. In diesem können Sie von Ihrem Standpunkt aus wählen, was wohltätig ist.
TP: Wozu braucht es denn die Steuerbefreiung?
GU: Die Regierung bietet so einen Ansporn für Menschen, die privat Anliegen unterstützen wie Menschen in Not zu helfen oder Kunst zu unterstützen. Sie können eine eigene Initiative ergreifen, wo der Staat keine oder in ungenügender Weise Mittel zur Verfügung stellen kann. Die Steuerbefreiung ist die Anerkennung des Staates für ein Engagement. Dieses hilft, eine Aufgabe zu lösen, die den Staat selbst Geld kosten würde.
TP: Kompromittiert die Steuerbefreiung den Wohltätigkeitsgedanken? Laufen Philanthropen nicht Gefahr, etwas nur wegen des steuerlichen Vorteils zu tun oder zumindest so wahrgenommen zu werden?
GU: Es gilt zwei Fragen zu unterscheiden. Wird die Motivation kompromittiert? Ist dem so müssten wir sehen, dass die Motivation, sich für Philanthropie zu engagieren, beeinträchtigt wird, sobald die Steuervorteile aufgehoben werden. Abgesehen von dieser philosophischen Frage gibt es die praktische: Ermöglicht die Steuerbefreiung mehr Geld effizienter dorthin fliessen zu lassen, wo es benötigt wird.
TP: Ist es denn dasselbe, Wohltätiges oder Gutes in einem moralischen Sinn zu tun?
GU: Die beiden sind miteinander verflochten. Es ist nicht möglich, Wohltätiges zu tun und nicht zu glauben, dass es gut ist. Wer wohltätig engagiert ist will einen Wert fördern. Philanthropen investieren eigene Ressourcen. Sie engagieren sich, weil sie überzeugt sind, dass eine Sache gefördert werden soll. Es ist schwer vorstellbar, dass sich eine Person wohltätig engagiert ohne dass sie überzeugt ist, dass es moralisch gut ist.
TP: Das heisst, es gibt einen Unterschied zwischen der persönlichen Ansicht und der allgemeinen Ansicht, was gut ist?
GU: Es ist wichtig: Die oder der Handelnde tut aus seiner oder ihrer Sicht etwas moralisch gutes. Es kann aber sein, dass es aus der Sicht einer anderen Person anders erscheint oder gar negative Konsequenzen auf andere hat. Beispielsweise bringt westliche Philanthropie Geld in weniger entwickelte Gesellschaft. Dieses Engagement kann Strukturen vor Ort zerstören. Dass ein Engagement negative Folgen haben kann bedeutet aber nicht, dass die Absicht moralisch schlecht war.
TP: Spielt es eine Rolle, ob es sich bei den eingesetzten Ressourcen um einen «Überschuss» handelt?
GU: Es ist sicher einfacher, wenn jemand zuviel hat, diese Ressourcen philanthropisch einzusetzen. Aber die Person könnte auch dieses Geld anders, nicht philanthropisch einsetzen.
TP: Aber es ist moralisch mehr wert, wenn jemand etwas einsetzt, das er selbst noch brauchen könnte?
GU: Puristisch zu sagen, es ist moralisch, überflüssige Ressourcen zu investieren und noch moralischer, Dinge einzusetzen, die eine Person eigentlich noch brauchen könnte, scheint mir schwierig. Bei moralischen Fragen denken wir in Kategorien: Es ist moralisch oder amoralisch. Beide erwähnten Arten sich zu engagieren sind auf der moralischen Seite. Voraussetzung ist, dass die Person eine Vision verfolgt, auch wenn sie etwas weggibt, das sie sowieso zu viel hat.
TP: Sie haben gesagt, was wohltätig ist entscheidet die Mehrheit. Braucht es für diese Entscheidungsfindung einen staatlichen Prozess oder geschieht dies unabhängig von offiziellen Entscheidungsträgern?
GU: Die Gesellschaft muss einen Konsens finden. Der Staat bildet die Basis. Er fördert, was wirklich notwendig ist. Dazu gehört beispielsweise die Ausbildung. Grundlegende Werte schützt der Staat mit Gesetzen. Weitere Werte kann aber die Zivilgesellschaft bestimmen.
TP: Können Sie ein Beispiel nennen?
GU: Die Gesellschaft kann Werte bestimmen, die nicht von der Mehrheit der Gesellschaft getragen werden oder sehr spezifisch sind. Ein Beispiel ist der Einsatz für den Schutz der Gletscher. Diese Werte müssen aber mit den generellen Werten der Gesellschaft kompatibel sein. Damit dies als moralisch gut gilt braucht es allerdings keine staatliche Sanktionierung.
TP: Dennoch braucht es einen gewissen Konsens.
GU: Soll es in einem Gesetz festgeschrieben sein braucht es einen formalisierten Prozess. Andere Werte entwickeln sich in der Gesellschaft aus der Geschichte und der Tradition. Das können soziale Werte sein wie etwa, dass wir uns begrüssen, wenn wir uns treffen. Niemand geht ins Gefängnis, wenn er dies nicht tut. Es ist eine soziale Norm. Etwas gilt als gut, weil die Gesellschaft übereinstimmt, dass wir dies tun sollen. Sich die Hand zu geben ist in unserer Gesellschaft eine gelernte Geste – auch wenn es in der heutigen Zeit anständiger ist, darauf zu verzichten. Für solche Werte braucht es keinen Prozess, um sie zu formalisieren.
«Dieser Sektor mag zwar eine Säule der Gesellschaft sein, aber wir sind nicht in Stande, ihn anzuerkennen.»
TP: Welche Rolle soll der Philanthropie-Sektor hier einnehmen: Aktiv diese Werte mitbestimmen oder jene der Gesellschaft reaktiv übernehmen?
GU: Es geht in beide Richtungen. Ein Philanthrop engagiert sich, weil er stark an eine gewisse Moral, an einen bestimmt Wert glaubt. Er nimmt eine aktive Rolle ein. Er setzt sich für diesen Wert ein weil er überzeugt ist, dass dieser wichtig ist und andere davon profitieren. Investiert ein Philanthrop etwa in die Oper weil er überzeugt ist, dass Kunst wichtig ist für unsere Gesellschaft, fördert er damit auch aktiv diese Wertvorstellung. Umgekehrt kann ein Philanthrop beispielsweise die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen als sinnvoll anerkennen und sich für diese einsetzen. In diesem Fall agiert er reaktiv.
TP: Hilft ein liberales System dem Philanthropie-Sektor?
GU: Ein System, das dem Individuum maximale Freiheit ermöglicht und den Staat auf die notwendigen Aufgaben beschränkt kreiert eine Situation, die eigene Aktivitäten fördert. Davon profitiert auch die Philanthropie.
TP: Heisst das im Umkehrschluss, Philanthropie soll sich auf die optionalen Dinge konzentrieren und die notwendigen dem Staat überlassen?
GU: Nein. Es sollte nicht strikt getrennt werden. Was vom Staat geleistet wird heisst nicht, dass es hier nicht auch Gelegenheiten für Private gibt. Es besteht ein Raum für Zusammenarbeit, zum Beispiel mittels Public-Private-Partnership. Es wirken verschiedene Dynamiken, wie die beiden Sektoren zusammen effizienter sind, als wenn beide unabhängig agieren.
TP: Ist der Philanthorpiesktor gar eine Stütze unserer Gesellschaft?
GU: Schwierige Frage: Oft werden die Leistungen des Philanthropiesektors kaum wahrgenommen. Die Gesellschaft erkennt zwar die Resultate, aber sie weiss nicht, wie diese zustande kommen. Es kann sein, dass der Sektor eine Stütze der Gesellschaft ist. Aber wir sind unfähig, dies zu realisieren. In vielen Kulturen, etwa hier in Genf, liegt es in der Natur der Philanthropie, dass sie keine grosse Aufmerksamkeit für sich selbst benötigt. Sie macht die Arbeit und die Gesellschaft profitiert. Ich persönliche denke jedenfalls, sie ist eine Stütze der Gesellschaft.
TP: Sollte sie in dem Fall transparenter sein?
GU: Transparenz ist wirklich nützlich. Ich bin ein Anwalt der Transparenz. Transparenz bedeutet jedoch nicht, dass man für seine Werke wirbt. Diskretion und Transparenz sind kompatibel.
TP: Das heisst?
GU: Wohltätige Organisationen müssen nicht zwangsläufig für sich werben. Eine einfache Liste würde reichen, wenn sie die Angaben enthiehlte, welche Organisation engagiert sich in welchem Gebiet, mit welchem Betrag unterstützt sie welches Projekt. Das wäre Transparenz. Das heisst aber nicht, dass jede Organisation aktiv verkünden muss, was sie alles tut.
TP: Würde es nicht helfen, den Wert einer Sache zu erkennen, wenn der Einsatz der Mittel transparenter wäre?
GU: Muss ich mir der Kosten bewusst sein, um einen Wert zu erkennen? Natürlich ist es möglich, dass wir etwas mehr schätzen, wenn wir dafür zahlen. Aber ich denke, das ist nicht notwendig. Erkennen wir etwas als positiv, Umweltschutz beispielsweise, mindert es dessen Wert nicht, nur weil wir nicht wissen, wie viel Geld dafür eingesetzt wird. Wir vernachlässigen einen moralischen Wert deswegen nicht.
TP: Was ist in dem Fall wichtiger für unsere Gesellschaft: Die finanziellen Möglichkeiten oder das persönliche Engagement im Philanthropiesektor?
GU: Die romantische Antwort ist die letztere.
TP: Und die richtige?
GU: Wir sollten erst die moralischen Werte sehen. Erst dann gilt der Blick den finanziellen Aspekten, den Mitteln, um diesen Wert zu fördern. Zwischen zwei wohltätigen Ideen sollten wir erst eine öffentliche Debatte führen, was der bessere Vorschlag ist. Anschliessend können wir bestimmen, wie viele finanziellen Ressourcen benötigt werden und wie wir diese verteilen.
TP: Philanthropie ist eine Stütze der Gesellschaft: Ist eine Gesellschaft ohne diese überhaupt möglich?
GU: Das hängt davon ab, wie wir Philanthropie definieren. Aber ich denke in jedem Fall, unserer Gesellschaft ginge es schlechter ohne.
TP: Weshalb?
GU: Sogar in der Schweiz, wo wir einen Staat haben, der gut auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abgestimmt ist, funktioniert nicht alles perfekt. Das Engagement von privaten Personen und Institutionen bringt Verbesserungen, wo der Staat nicht so gut arbeitet, wie wir uns das erhoffen. Eine Gesellschaft ohne Philanthropie ist also denkbar, aber es wäre eine schlechtere.