Frau Huggenberger, warum ist die Sozialberatung von Pro Infirmis so wichtig?
Das Sozialversicherungssystem in der Schweiz ist extrem komplex. Kommt es, beispielsweise durch einen Unfall, zu einer Behinderung, prasselt erst einmal viel auf einen ein. Man muss nicht nur mit Trauer und Schmerz zurechtkommen, sondern muss sich auch mit unzähligen administrativen und finanziellen Fragen befassen. Das wirkt im ersten Moment schlicht überwältigend. Die Sozialberatung von Pro Infirmis hilft dabei, eine Auslegeordnung zu machen und einen Anfangspunkt zu finden. Sie schafft eine Basis.
Welchen Grundsatz hat die Sozialberatung?
Für uns ist es am wichtigsten, die Eigenständigkeit des einzelnen Menschen zu stärken. Gemäss UN-Behindertenrechtskonvention sind Selbstbestimmung und Teilhabe ein Recht, das allen Menschen zusteht – auch in Bezug auf die Wahlfreiheit beim Wohnen.
Pro Infirmis ist seit einigen Jahren mit einem strukturellen Defizit konfrontiert. Woher kommt das?
Kurz gesagt: Die Nachfrage für unsere Sozialberatung steigt kontinuierlich. Wir können einen riesigen Bedarf ausmachen, der nicht gedeckt wird. Die Beratungsstunden, die vom Bund und weiteren Finanzquellen bezahlt werden, reichen bei Weitem nicht. Eine besonders hohe Nachfrage verzeichnen wir bei Menschen mit psychischen Erkrankungen. Gerade diese Menschen brauchen Unterstützung bei der Bewältigung schwieriger Situationen, in ihrer selbstbestimmten Lebensplanung und bei der Verwirklichung ihrer Ziele. Die gleichbleibenden Fördergelder und die steigende Zahl an nachgefragten Beratungsstunden sorgen für eine immer grösser werdende Lücke. Die Folge: Das strukturelle Defizit wächst. Pro Infirmis setzt alles daran, diese Lücke mit Spenden, Legaten sowie Stiftungs- oder Unternehmensbeiträgen zu kompensieren.
Müsste die Finanzierung der veränderten Situation angepasst werden?
Unbedingt! Nicht nur die Nachfrage ist gestiegen, auch die Angebote für Menschen mit Behinderungen haben sich verändert. Menschen mit Behinderungen haben heute – zum Glück – sehr viel mehr Wahlmöglichkeiten. Sie wollen von ihrem Recht auf Gleichberechtigung Gebrauch machen, sie wollen wählen können – gerade auch beim Wohnen. Eine aus unserer Sicht längst fällige Entwicklung, die jedoch einen erhöhten Aufwand bei der Sozialberartung mit sich bringt.
Pro Infirmis musste erstmals in der über 100-jährigen Geschichten einen Abbau bei der Sozialberatung vornehmen. Was bedeutet das im Alltag?
Bisher haben wir in der Sozialberatung versucht, alle zu beraten, die sich an uns wenden. 2024 mussten wir erstmalig die Anzahl der Stunden, die wir leisten können, eingrenzen. Wir haben uns gewissermassen selbst einen Stundendeckel verpasst. Infolgedessen müssen Menschen mit Behinderungen mit Wartefristen rechnen. Etwas, was wir unbedingt vermeiden wollten.
Was braucht es, um aus diesem Defizit herauszukommen?
Es braucht neue Finanzquellen, und zwar möglichst bald. Von Stiftungen, Unternehmen oder von Privaten. Zudem ist es wichtig, die Menschen dafür zu sensibilisieren, was die Sozialberatung überhaupt macht: nämlich eine solide Basis schaffen, damit Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft nicht behindert werden.
James Guyot
Philanthropie
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