Vor einem Jahr ist das Programm COVAX gestartet. Wie hat sich das Programm entwickelt?
2021 war das Jahr, in dem die Covid-19-Impfstoffe weltweit verfügbar wurden. Die Geschwindigkeit, mit der die Impfstoffe entwickelt wurden, sowie ihre Fähigkeit, Todesfälle zu verhindern, sind ein ausserordentlicher Erfolg im Kampf gegen das Coronavirus. Die weltweite Einführung von Impfstoffen war jedoch auch durch grosse Ungleichheiten gekennzeichnet – der Zugang zu den lebensrettenden Impfstoffen war von Land zu Land unterschiedlich. Und die Impfungleichheit hält weiterhin an: Während die Impfquote in Ländern mit hohem Einkommen über 70 Prozent beträgt, sind bloss sechs Prozent der Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen vollständig geimpft.
Eine gewaltige Differenz?
Genau deshalb war es für UNICEF klar, Implementierungspartner der globalen Allianz ACT-Accelerator Partnership (ACT‑A) und deren «Impfsäule», der COVAX-Einrichtung zu werden. Zusammen mit weiteren Organisationen wie Gavi, der Vaccine Alliance, WHO und CEPI stellen wir sicher, dass Impfstoffe auf globaler Ebene gerechter verteilt werden. Wir sind stolz darauf, dass via COVAX bereits 1,19 Milliarden Dosen von Impfstoffen in 144 Länder geliefert wurden.
Wie sieht die Rolle von UNICEF bei ACT‑A aus?
Wie bereits erwähnt, ist UNICEF eine der Partnerorganisationen von ACT‑A. Das Fachwissen, die logistische Infrastruktur sowie die Erfahrung von UNICEF als weltgrösster Akteur bei Impfprogrammen von Kindern wird in allen vier ACT-A-Säulen eingesetzt. Dazu gehören die Lieferung und Bereitstellung von Impfstoffen (COVAX-Einrichtung), die Bereitstellung von Test-Kits und Therapeutika sowie die Stärkung der Gesundheitssysteme. Dazu kommt die Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste sowie die Stärkung der Infektionsprävention und ‑bekämpfung.
Sie haben grosse Erfahrung mit Routineimpfungen.
Als grösster Einzelimpfstoffeinkäufer der Welt verfügt UNICEF über einzigartiges und langjähriges Know-how rund um die Beschaffung und Logistik von Impfstoffdosen. UNICEF beschafft jährlich mehr als zwei Milliarden Dosen für Routineimpfungen von Kindern sowie als Reaktion auf Krankheitsausbrüche im Auftrag von fast 100 Ländern.
Was macht die Covid-Impfung speziell?
Im Bezug auf die Covid-19-Impfung musste UNICEF neue Wege gehen. Denn während einige der Impfstoffe bei Temperaturen zwischen zwei und acht Grad Celsius in Standard-Impfstoffkühlschränken aufbewahrt werden können, müssen andere mRNA-Impfstoffe bei Temperaturen zwischen –60 und –80 Grad Celsius in Ultra-Kühlketten-Gefrierschränken gelagert werden. In vielen Ländern sind die Kapazitäten dafür nicht vorhanden. UNICEF hat diese lebenswichtigen Geräte deshalb bereits an beinahe 70 Länder geliefert. So wird die Kühlkette für den jeweiligen Impfstoff sichergestellt.
Wir können nicht ein Land nach dem anderen gegen die Pandemie impfen. Wir müssen global koordiniert zusammenarbeiten.
Asa Sjöberg Langner, Direktorin Partnerships & Philanthropy bei UNICEF Schweiz und Liechtenstein
Zu Beginn war der Impfstoff weltweit extrem knapp. War eine gerechte Verteilung überhaupt realistisch?
Exportbeschränkungen, Impfstoff-Nationalismus sowie Verzögerungen bei der Herstellung von Impfstoffen erschwerten anfänglich die Arbeit der COVAX-Einrichtung. Als Reaktion darauf halfen immer mehr Geberländer, die Ungleichheit zu überwinden, indem sie ihre Impfstoffvorräte teilten. 40 Prozent der Impfstoffe, die via COVAX im Jahr 2021 geliefert wurden, stammten von Geberländern.
Ist die gerechte Verteilung umstritten?
Heute besteht weitgehend Übereinstimmung, dass eine gerechte globale Verteilung der Impfstoffe der beste Weg ist, um die Covid-19-Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Das Auftauchen der Omikron-Variante führte uns erneut vor Augen, was auf dem Spiel steht, wenn wir zulassen, dass die Ungleichheit beim Zugang zu Impfstoffen weiterhin bestehen bleibt. Wir können nicht ein Land nach dem anderen gegen die Pandemie impfen. Wir müssen global koordiniert zusammenarbeiten.
Hat dieses Argument auch geholfen, um die Verteilung des Impfstoffes innerhalb von Ländern gerechter zu gestalten?
UNICEF verfügt über langjährige Erfahrung in 190 Einsatzländern und Territorien, sowie unsere Partnerschaften und Netzwerke. Dies hat es uns ermöglicht, wirksam für den gleichberechtigten Einbezug von vulnerablen Menschen in nationale Impfpläne einzustehen. In Somaliland zum Beispiel setzte sich UNICEF erfolgreich dafür ein, dass über 50-jährige Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene Zugang zu Impfungen erhalten. Dafür förderten wir Standorte von Impfzentren in der Nähe von Flüchtlingslagern.
Impfskepsis hat in der Schweiz eine höhere Impfquote verhindert. Ist Impfskepsis auch in den ärmeren Ländern ein Thema?
Ja, Fehlinformationen und Gerüchte beeinträchtigen auch die Arbeit der COVAX-Einrichtung. Gemeinsam mit Partnern arbeiten wir deshalb kontinuierlich daran, sicherzustellen, dass Bevölkerungen vor Ort vertrauenswürdige und genaue Informationen rund um die Impfung erhalten und zwar in den Sprachen und Formaten, die sie bedürfen.
Spenden von Unternehmen, Stiftungen und Grossgönnern sind wichtige, lebensrettende Beiträge.
Asa Sjöberg Langner, Direktorin Partnerships & Philanthropy bei UNICEF Schweiz und Liechtenstein
Ist UNICEF auch in der Aufklärungsarbeit aktiv?
Das Zögern bei Impfungen ist ein sehr kontextspezifisches Problem, da jedes Land und jede Gemeinschaft ihre eigenen Probleme hat – es gibt keine Einheitslösung. Deshalb unterstützt UNICEF Länder bei der Erarbeitung von Umfragen und anderen Feedback-Mechanismen, um Bedenken und Einstellungen von lokalen Bevölkerungen genauer zu verstehen. So können massgeschneiderte Kampagnen ausgearbeitet werden, um Bedenken auszuräumen und die Impfbereitschaft zu steigern. Da die Überbringer der Botschaft genauso wichtig sind wie der Inhalt, werden in dieser Arbeit auch religiöse Führungspersonen, lokale Persönlichkeiten und Jugendliche eingebunden.
In den reichen Ländern sind Impfstoffe schon seit Monaten in genügenden Mengen vorhanden. Hat COVAX an Bedeutung verloren?
Nein, die COVAX-Einrichtung ist weiterhin enorm wichtig. Denn niemand auf dieser Welt ist sicher vor Covid-19, solange wir nicht alle sicher sind. Covid-19 hat im zweiten Jahr der Pandemie mehr Menschenleben gefordert als im ersten. Der Weg zur Überwindung der Pandemie ist also weiterhin klar: gerechter Zugang zu Impfstoffen, Tests und Behandlungen für alle.
Was hat COVAX bisher erreicht?
In den vergangenen zwölf Monaten konnte die COVAX-Initiative sehr viel erreichen. Es ist jedoch kaum ein Moment zum Feiern. Wenn wir die akute Phase der Pandemie beenden und eine nachhaltige Wirkung auf die Gesundheitssysteme und die von ihnen abhängigen Gemeinschaften sicherstellen wollen, müssen wir die Arbeit dringend fortsetzen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir unseren Schwung beibehalten, um jedes Land mit niedrigem und niedrig-mittlerem Einkommen mit unserer Unterstützung zu erreichen. Nur so können wir die Ausbreitung des Virus eindämmen, das Risiko neuer Varianten verringern und sicherstellen, dass niemand zurückgelassen wird.
Welche Bedeutung haben Spenderinnen und Spender oder Stiftungen für COVAX?
Im dritten Jahr der Pandemie fokussiert UNICEF sich nun verstärkt darauf, Regierungen bei ihren nationalen Implementierungskampagnen zu unterstützen: Impfstoffe sollen in Impfungen umgewandelt werden, zudem braucht es Diagnose-Kits, Schutzausrüstung und Sauerstoff. Sauerstoffsysteme sind übrigens kosteneffiziente Investitionen, die post-Covid das Leben von Neugeborenen und Müttern retten werden.
Die Unterstützung unserer philanthropischen Partner ist hier entscheidend. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Spenden von Unternehmen, Stiftungen und Grossgönnern sind wichtige, lebensrettende Beiträge. Denn nur gemeinsam können wir unser Ziel erreichen, Menschen auf der ganzen Welt – unabhängig ihres Wohlstands – gleichberechtigten Zugang zu Covid-19-Tests, Behandlungen und Immunisierungsprogrammen zu gewähren. Es ist ein solidarischer Akt. Dazu ist es eine ausserordentliche Gelegenheit, stärkere und widerstandsfähigere Gesundheitssysteme aufzubauen, um auf künftige Krisen besser vorbereitet zu sein.
Gewisse Länder haben die Schutzbestimmungen für Covid-19 bereits gelockert – brauchen UNICEF und COVAX weiterhin Unterstützung?
Die Folgen der Covid-19 Pandemie zwingt Familien in die Armut und gefährdet die Zukunft der Kinder. Denken Sie zum Beispiel nur an die monatelangen Schulschliessungen, an die Jobverluste vieler Eltern und die Auswirkungen auf die mentale Gesundheit einer ganzen Generation von Jugendlichen. Ein paar Zahlen: Aufgrund der Pandemie leben zusätzliche 163 Millionen Menschen mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. Neun Millionen zusätzliche Kinder wurden in die Kinderarbeit getrieben. Über eine Milliarde Schülerinnen und Schüler in Ländern mit tiefem Einkommen waren von vollständigen oder partiellen Schulschliessungen betroffen. Die Schulschliessungen haben besonders gravierende Folgen für Mädchen. Um die Zukunft unserer Kinder zu sichern, muss die Pandemie überall enden, nicht nur in den Ländern mit hohem Einkommen, und zwar so schnell wie möglich. Auch aus wirtschaftlichen Überlegungen ist dies dringend notwendig, um Stabilität und Sicherheit zu wahren. UNICEF bleibt auch nach der Pandemie vor Ort und setzt sich für Kinder ein, damit sie geschützt und gesund gross werden, sich entwickeln und von frühester Kindheit an ihr Potenzial entfalten können.