The Philanthropist: Welche ökologischen Herausforderungen stellen sich bei der Flüchtlingshilfe?
Andrew Harper: Bei Flüchtlingsströmen bewegen sich bis zu 100’000 Menschen von einem Ort zu einem anderen. Das ist immer eine Herausforderung für die Umwelt. Die Menschen brauchen Verpflegung. Sie brauchen Energie, sie brauchen Wasser. Zudem stammen 90 Prozent der Flüchtlinge weltweit aus Ländern, die an der Frontlinie des Klimawandels liegen.
TP: Das heisst?
AH: Es sind Länder, die bereits stark vom Klimawandel betroffen sind, zum Beispiel durch Dürren. Wir sehen das in Teilen von Somalia, Sudan oder Teilen von Afghanistan. Konflikte in Kombination mit den negativen Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung können es für die Menschen unmöglich machen, in ihrem angestammten Gebiet zu leben.
90 Prozent der Flüchtlinge weltweit stammen aus Ländern, die an der Frontlinie des Klimawandels liegen.
Andrew Harper
TP: Sie flüchten. Wohin?
AH: Über 85 Prozent der Flüchtlinge weltweit sind in Entwicklungsländern untergebracht. Oft mangelt es in diesen Flüchtlingslagern und ‑siedlungen an Infrastruktur, Ressourcen und Umweltstandards. Das hat Auswirkungen auf die umliegende natürliche Umwelt. Wenn die Menschen zum Beispiel keinen Zugang zu anderen Möglichkeiten der Unterkunft und Energieversorgung haben, kann es sein, dass sie Wälder abholzen, um ein Dach zu bauen oder weil sie Feuerholz als Energiequelle benötigen.
TP: Wie können Sie die Belastung für die Umwelt verringern?
AH: Wir müssen die Flüchtlingsströme antizipieren, damit wir besser vorbereitet sein können. Gerade in den armen Regionen ist es wichtig, frühzeitig in die Umwelt und den Zugang zu Energie zu investieren, in dem Moment, wenn die Menschen in einem neuen Gebiet ankommen. Bislang haben wir uns stark auf Wasser und Hygiene, Gesundheit und Bildung konzentriert. Aber das reicht nicht mehr aus. Die Umwelt muss geschützt werden. Unterdessen verstehen wir besser, wie der Schutz der Umwelt auch die Menschen schützt und die Verwundbarkeit reduziert. Auch kann der Schutz der Umwelt dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Flüchtlings- und Aufnahmegemeinschaften zu verbessern. Wenn die Flüchtlinge die meisten Bäume in einem bestimmten Gebiet abholzen, um ihre Grundbedürfnisse abzudecken, kann dies zu Spannungen mit der Gemeinschaft des Gastlandes führen, die auf dieselben natürlichen Ressourcen angewiesen ist. Für alle Flüchtlingsgruppen hoffen wir das Beste, nämlich dass diejenigen, die in ihre Heimatländer zurückkehren wollen, dies in Sicherheit und Würde tun können. Wir müssen uns jedoch auch auf das Schlimmste vorbereiten. Der Klimawandel und die Verschlechterung der Umweltbedingungen lassen die Chancen auf eine mögliche nachhaltige Rückkehr für viele Flüchtlinge rapide schwinden.
TP: Ist Umweltschutz auch ein Anliegen der Flüchtlinge selbst?
AH: Wie jeder andere Mensch schätzen auch Flüchtlinge die Umwelt, in der sie leben. Vor allem indigene Völker verstehen die Bedeutung des Umweltschutzes. Aber wir müssen sicherstellen, dass sie die Wahl haben, umweltverträgliche Entscheidungen zu treffen. Denn wenn die einzige Möglichkeit, ein Dach über dem Kopf für die Familie zu haben, darin besteht, einen Baum zu fällen, wird man das tun. Wir müssen also dafür sorgen, dass es angemessene Unterkünfte und Zugang zu sauberen alternativen Energiequellen zu Brennholz gibt. Das ist die Aufgabe des UNHCR.
Eine verbesserte Umwelt- und Energieplanung, insbesondere die Bereitstellung von sauberen Kochalternativen, wirkt sich auch positiv auf die Gesundheit und die Lebensgrundlagen aus.
Andrew Harper
TP: Das kostet?
AH: Wir konzentrieren uns traditionell auf Nahrung, sanitäre Einrichtungen, Hygiene und Unterkünfte – Umweltbelange werden umgesetzt, wenn noch Geld übrig ist. Aber davon müssen wir wegkommen. Wir müssen von Anfang an einen gewissen Betrag für die Umwelt zurücklegen. Auf lange Sicht zahlt sich das aus. Zum Beispiel hilft eine nachhaltige Standortplanung, die Landdegradation und die Gefährdung durch Erdrutsche und Überschwemmungen zu verringern. Das reduziert das Risiko weiterer Vertreibungen. Eine verbesserte Umwelt- und Energieplanung, insbesondere die Bereitstellung von sauberen Kochalternativen, wirkt sich auch positiv auf die Gesundheit und die Lebensgrundlagen aus. Umweltschutz trägt zudem zur Würde der Flüchtlinge bei. Das Gefühl von Würde und eine Perspektive für die Zukunft zu vermitteln ist viel anspruchsvoller als Schutz allein.
TP: Führt die zunehmende Bedeutung der Umweltthemen zu neuen Allianzen?
AH: Bei der Hilfe vor Ort ist es wichtig, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen. Daher werden wir weiterhin mit Regierungen, NGOs, Stiftungen und anderen Akteuren mit lokaler Präsenz zusammenarbeiten. Im Hinblick auf neue Allianzen werden Kooperationen mit akademischen und wissenschaftlichen Einrichtungen immer wichtiger. Aber auch der private Sektor ist entscheidend. Mit seinen finanziellen Mitteln, seinem Know-how und seinen Ressourcen bringt dieser Sektor einen entscheidenden Faktor in die Projekte ein. Wir hatten noch nie so viele Daten, aber wir müssen zusammenarbeiten, um sie richtig und effizient zu nutzen. Wenn wir das tun, können wir antizipieren, wo der Klimawandel die größten Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit haben wird, wo der Kampf um Ressourcen zu Konflikten führen wird, wo gewaltsame Vertreibungen wahrscheinlich sind. Dieses Wissen können viele national und international Akteure nutzen, um die Vorbereitung und die Anpassungen an den Klimawandel zu verbessern.
TP: Macht die internationale Gemeinschaft bereits genügend?
AH: Die internationale Gemeinschaft hat keine andere Wahl, als proaktiver zu sein. Es macht keinen Sinn, mit der Reaktion zu warten, bis die Menschen anfangen, als Flüchtlinge die Grenzen zu überqueren. Die internationale Gemeinschaft muss zusammenarbeiten und strategisch Daten nutzen, um zu sehen, wo die Klimaauswirkungen signifikant sein werden, bspw. wo es Überschwemmungen geben wird oder welche Regionen vom steigenden Meeresspiegel betroffen sein werden. Dies würde uns in die Lage versetzen, uns besser auf das vorzubereiten, was kommen wird und daran zu arbeiten, die Widerstandsfähigkeit zu stärken und Anpassung derjenigen zu verbessern, die am meisten betroffen sein werden. Es ist unsere Aufgabe als UNHCR die Verletzlichsten zu schützen. Niemand von uns kann es sich leisten, im Kampf gegen den Klimawandel zurückzustehen. Wir müssen einsehen, egal wie ambitioniert wir sind, es reicht nicht, was wir heute machen. Das Tempo des Klimawandels ist deutlich höher als das unserer Massnahmen dagegen. Aktuell müssen wir uns beeilen, um das Grösserwerden dieses Abstands zu bremsen. Wir müssen uns bewusst werden, dass es keinen Menschen geben wird, der durch den Klimawandel nicht betroffen sein wird. Und vor allem wird es jene geben, die stärker betroffen sein werden als andere. Für diese Menschen setzen wir uns ein.
Wir müssen einsehen, egal wie ambitioniert wir sind, es reicht nicht, was wir heute machen.
Andrew Harper
TP: Nutzen sie dazu auch Kooperationen mit dem privaten Sektor?
AH: Die Privatwirtschaft ist ein großartiger Partner für uns. Wir arbeiten oft mit Unternehmen oder Stiftungen zusammen, um wirklich etwas zu bewegen. Wie bereits erwähnt, helfen uns die finanziellen Mittel und das Know-How, die Extrameile zu gehen. Mit der «Brighter Lives for Refugees»-Kampagne hat uns die IKEA Stiftung zum Beispiel geholfen, Solarlicht in die Flüchtlingslager zu bringen, um sie sicherer zu machen und den Strom für das Licht von brennstoffbetriebenen Generatoren auf Solar umzustellen. Wir arbeiten auch mit dem lokalen Sektor vor Ort zusammen. Aber wir brauchen dort Marktmechanismen. Denn es kann nicht nur darum gehen, in einem Flüchtlingslager Bäume zu pflanzen und die Leistung daran zu messen. Die Fragen, wem gehören sie, was kann die Gemeinde damit machen, sind entscheidend. Nur so kann man die Bäume als einen Vermögenswert begreifen. Wir haben in Flüchtlingslagern Wasser und Energie frei verfügbar gemacht. Alles wurde einfach genutzt. Das ist nicht nachhaltig.
TP: Soll es etwas kosten?
AH: Wir wollten in Uganda ein Flüchtlingslager mit Energie und Internet versorgen. Wir haben lokale Anbieter angefragt, doch das Interesse war nicht vorhanden, weil sie kein Geschäft sahen. Also haben wir eine Fokusgruppe gegründet und wir erfuhren, dass jede Familie bereit war, drei Dollar pro Monat für Internet zu zahlen. Als wir den Anbieter dies erzählten und darauf hinwiesen, dass in dem Lager 100’000 Familien leben, waren sie plötzlich interessiert. In der Folgewoche haben drei von vier angefragten Anbietern die Infrastruktur aufgebaut.
TP: Was war die Wirkung?
AH: Die Akzeptanz bei der Regierung für das Lager stieg, weil die lokale Wirtschaft profitierte. Und für die Flüchtlinge war es die Chance, aktiver zu werden, ihre Gemeinschaft und ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Gibt man Flüchtlingen Internet und Energie, gibt es nichts, was sie nicht machen können. Plötzlich gab es 3000 Shops. Menschen wollen nicht herumsitzen und warten. Sie wollen einen Beitrag leisten. Internet ermöglicht ihnen den Zugang zu Bildung. Und das meint nicht nur klassische Bildung. Es kann auch einfach ein Youtube-Video sein, das zeigt, wie man ein Motorrad repariert. Es hilft, das Wissen zu vergrössen.
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