Ein Jahrzehnt der Extreme an den Finanzmärkten ist zu Ende gegangen. Niemand hätte Anfang 2010 – die Weltwirtschaft war soeben erst der schlimmsten Rezession der Nachkriegszeit entkommen – prognostiziert, dass die Aktienmärkte einen mehr als zehnjährigen Boom erleben würden. Oder dass in weiten Teilen der Welt Null- und Negativzinsen bald zur Normalität würden und Staaten wie die Schweiz, Deutschland, Frankreich oder Japan Anleihen zu negativen Renditen ausgeben könnten. Negative Nominalzinsen galten noch vor zehn Jahren als eigentliches Ding der Unmöglichkeit.
Prognosen sind schwierig
Diese Erfahrung sollte jeden Kommentator und jede Akteurin an den Finanzmärkten demütig stimmen, wenn es heute wieder darum geht, Prognosen für das neue Jahrzehnt abzugeben. Wir wissen ehrlicherweise nicht, wie sich das Preisgefüge an den Märkten entwickeln wird. Wir können bloss versuchen, einzuordnen, was sich objektiv beobachten lässt, und daraus mögliche Szenarien für die Zukunft auszuarbeiten.
Die zweifellos wichtigste der gegenwärtig observierbaren Tatsachen betrifft das historisch beispiellos niedrige Zinsniveau. Verursacht wird es mit grösster Wahrscheinlichkeit – aber das ist bereits Interpretation – von einem global herrschenden Überschuss an Ersparniskapital beziehungsweise einer global zu geringen Nachfrage nach Investitionskapital. Gründe dafür können in demographischen Entwicklungen oder der abnehmenden Kapitalintensität der Dienstleistungswirtschaft liegen.
Weil der risikofreie Zinssatz wiederum als zentraler Anker für alle Bewertungsberechnungen an den Finanzmärkten dient, begünstigt das niedrige Zinsniveau laufend steigende Preise für riskantere Anlagen wie Unternehmensanleihen, Aktien oder Immobilien.
Als trickreich gestaltet sich nun die Frage, wie lange die Zinsen noch so tief bleiben werden. Die ehrliche Antwort: Wir wissen es nicht. Immer öfter ist derzeit von Seiten der Banken und Vermögensverwalter die Aussage zu hören, die Zinsen würden «dauerhaft tief» bleiben. Das kann durchaus sein, doch die Aussage klingt gefährlich ähnlich wie die Worte des angesehenen amerikanischen Ökonomen Irving Fisher, der im Spätsommer 1929 sagte, der US-Aktienmarkt habe ein «dauerhaft hohes» Niveau erreicht. Wenige Wochen später kam es zum grössten Crash der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte.
In Szenarien denken
Daher die Wichtigkeit, in Szenarien zu denken. Ja, vielleicht werden die Zinsen tatsächlich auf dem gegenwärtig tiefen Niveau verharren. In diesem Fall bleiben Investoren aller Art gezwungen, in die riskanteren Bereiche der Finanzmärkte vorzustossen, um ansprechende Renditen zu erreichen. Das ist eine besonders grosse Herausforderung für Institutionen, die den Wert ihrer Anlagen erhalten sollen und gleichzeitig einen Cashflow benötigen, um ihre Arbeit zu finanzieren. Im «Sweet Spot» dieses Szenarios stehen die Aktien von qualitativ hochwertigen Unternehmen mit soliden Bilanzen. Diese – mittlerweile leider bereits stattlich bewerteten – Unternehmen, ein Beispiel in der Schweiz ist Nestlé, werden am Markt dank ihrer Dividendenrendite von immerhin rund drei Prozent immer mehr als Ersatz für «sichere» Anleihen angesehen.
Gleichzeitig muss man sich mit dem Szenario auseinandersetzen, dass die Zinsen doch nicht dauerhaft tief bleiben. Natürlich, es mag momentan schwerfallen, sich vorzustellen, was die Zinsen in die Höhe treiben könnte. Aber genau das ist es, was man als umsichtiger Investor tun muss: die vordergründig als undenkbar erscheinenden Szenarien durchdenken.
Das «Game Changer»-Ereignis für eine Erhöhung des Zinsniveaus, das gegenwärtig kaum mehr jemand als möglich erachtet, ist ein überraschender Anstieg der Inflation, beispielsweise ausgelöst durch steigende Löhne oder durch eine kräftige Erhöhung des Ölpreises. In diesem Szenario würden in erster Linie die Bondmärkte leiden, besonders Anleihen mit langer Restlaufzeit (Duration), während Aktien und Immobilien immerhin einen gewissen Schutz bieten.
Wer weiss, vielleicht werden wir in zehn Jahren auf die Zwanzigerjahre zurückblicken und uns fragen, wie in aller Welt man Ende 2019 auf die Idee kommen konnte, dass die Zinsen auf einem dauerhaft tiefen Niveau verharren würden.
Mark Dittli ist seit 20 Jahren Wirtschaftsjournalist. Er war unter anderem während sechs Jahren Chefredaktor bei Finanz und Wirtschaft. Fünf Jahre arbeitete er als Korrespondent in New York. Er schrieb ein gutes Jahr für das Online-Magazin Republik. Heute ist er Geschäftsführer und Chefredaktor von The Market. Vor knapp einem Jahr startete das neue digitale Medium. Es richtet sich an Investoren und bietet Einordnung, Analysen und Meinungen zum Geschehen an den Finanzmärkten. The Market ist ein Joint Venture des Gründerteams und der NZZ Mediengruppe. themarket.ch