Das Rote Kreuz verfügt über das grösste Freiwilligen-Netzwerk weltweit: Welche Rolle spielt Freiwilligenarbeit für das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) für die Arbeit in der Schweiz?
Freiwilligenarbeit spielt eine sehr zentrale Rolle dabei. Viele Dienstleistungen des SRK werden von Freiwilligen erbracht. Sie sind das Herz unserer Organisation. Die rund 50’000 Freiwilligen des SRK sind in den 24 Rotkreuz-Kantonalverbänden sowie den vier Rotkreuz-Rettungsorganisationen (Schweiz. Lebensrettungs-Gesellschaft, Schweiz. Samariterbund, Schweiz. Militär-Sanitäts-Verband und Schweiz. Verein für Such- und Rettungshunde) engagiert. Ohne sie könnten viele Dienstleistungen nicht angeboten werden, die verletzlichen und hilfesuchenden Menschen in der Schweiz zugutekommen. Im Namen der Rotkreuz-Kantonalverbände begleiten Freiwillige ältere oder erkrankte Personen zu Arztterminen oder unterstützen bei alltäglichen Tätigkeiten. Sie organisieren Aktivitäten für Asylsuchende oder helfen Kindern aus benachteiligten Familien bei den Hausaufgaben. In den Rotkreuz-Rettungsorganisationen werden Freiwillige in Rettung und Erster Hilfe geschult, um im Ernstfall Leben zu retten.
Sind es vor allem Einzelpersonen oder Unternehmen, die mit ganzen Teams an einer Aktion teilnehmen, die Freiwilligenarbeit leisten?
Bei den erwähnten 50’000 Freiwilligen handelt es sich um Einzelpersonen, die sich freiwillig engagieren. Mitarbeitende unserer offiziellen Partner wie Coop, Helsana oder Novartis können Einsätze im Rahmen von Corporate Volunteering machen, bspw. bei der Aktion «2xWeihnachten». Diese Einsätze sind sehr begehrt. Anderen Unternehmen bieten wir virtuelles Volunteering an, bspw. beim Kartographieren auf «open Streetmap» (bzw. Mapathons).
Gesellschaftlicher Wandel zeichnet sich immer auch im freiwilligen Engagement ab.
Sibylle Baumgartner, SRK
Das SRK ist Mitunterzeichnerin des Manifests Nationale Förderung von freiwilligem Engagement. Wie hat sich die Wirkung des Manifest und das Ziel einer nationalen Förderung weiterentwickelt?
Das Manifest wurde im November 2020 an die damalige Nationalratspräsidentin Isabelle Moret und somit der Politik übergeben. Es enthält vier zentrale Forderungen zur Förderung des freiwilligen Engagements: die Schaffung einer Ansprechstelle auf nationaler Ebene, vermehrte öffentliche Anerkennung, Abbau von administrativen und rechtlichen Hindernissen sowie ein Freiwilliges Soziales Jahr für unter 30-Jährige und einen «Freiwilligen-Urlaub» für Personen über 30 Jahre. Das Manifest wird mittlerweile von 34 national tätigen Organisationen aus dem Freiwilligenbereich unterstützt.
Nach der Übergabe des Manifests hat sich eine Taskforce gebildet aus verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern aus den mitunterzeichnenden Organisationen. Diese plant Massnahmen zur weiteren Umsetzung der politischen Forderungen. Aus unserer Sicht ist es ein grosser Erfolg, dass so viele Organisationen die Forderungen unterstützen und dem freiwilligen Engagement bzw. all den Freiwilligen, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft elementar sind, eine einheitliche Stimme auf politischer Ebene geben.
Verfügt die Freiwilligenarbeit über eine genügend starke Lobby oder sehen Sie noch Potenzial?
Grössere Krisen oder Notsituationen, wie bspw. die Flüchtlingsströme 2015 und 2016, die Pandemie oder die vielen Flüchtenden aus der Ukraine zeigen stets wie wichtig Freiwilligenarbeit und Solidarität ist. Das zivilgesellschaftliche Engagement – sowohl das informelle Engagement von Privatpersonen (bspw. Nachbarschaftshilfe) als auch das formelle Engagement von Freiwilligen im Rahmen von Vereinen und Organisationen – ist eine wichtige Stütze, um mit solch herausfordernden Situationen umzugehen. Freiwilliges Engagement geschieht dabei oft im Verborgenen und ist ausserhalb von Krisen oder Notsituationen wenig sichtbar. Leider wird sie daher oft für selbstverständlich gehalten.
Daneben ist auch die Freiwilligenarbeit mit Trends wie der Digitalisierung konfrontiert. Gesellschaftlicher Wandel zeichnet sich immer auch im freiwilligen Engagement ab. Es ist eine Tendenz spürbar, dass sich Freiwillige weniger längerfristig und regelmässig engagieren möchten. Viele suchen eher spontane, punktuelle oder auch digitale Engagements und möchten stärker mitgestalten, was wiederum Vereine und Organisationen herausfordert. Die Art, wie sich Personen engagieren möchten, ändert sich.
Freiwilliges Engagement geschieht dabei oft im Verborgenen und ist ausserhalb von Krisen oder Notsituationen wenig sichtbar.
Sibylle Baumgartner, SRK
Vor diesem Hintergrund würde ich mir sehr wünschen, dass freiwilliges Engagement eine stärkere Lobby bekommt. Hier gibt es aus meiner Sicht noch viel Potenzial. Die Schweiz würde ohne die vielfach geleistete Freiwilligenarbeit komplett anders aussehen, davon bin ich überzeugt. Wenn wir diese wertvolle Ressource erhalten möchten, muss freiwilliges Engagement attraktiv sein bzw. bleiben. Hierbei spielt die öffentliche Anerkennung und die Unterstützung aus der Politik eine sehr grosse Rolle.
Aktuell fordert der Ukrainekrieg unsere Gesellschaft. Wo setzt das SRK bei den Aufgaben, die es in Zusammenhang mit den Zuflucht Suchenden übernommen hat, Freiwillige ein?
Aktuell unterstützen Freiwillige die kantonalen Behörden sowie das Staatssekretariat für Migration (SEM) in verschiedenen Bundesasylzentren sowie Anlaufstellen beim Empfang von Geflüchteten. Daneben sind viele Rotkreuz-Kantonalverbände daran, bestehende Integrationsangebote (z.B. Sprachkurse, Mentoring) auszubauen oder neu zu entwickeln. Auch hier werden natürlich Freiwillige eingesetzt. Ausserdem werden Freiwillige mit entsprechenden Sprachkenntnissen auch für Übersetzungen und Dolmetschen eingesetzt. Es werden in den nächsten Wochen und Monaten wohl noch weitere Freiwilligeneinsätze entstehen. Wir richten uns in der Entwicklung neuer Angebote stets nach den Bedürfnissen der entsprechenden Zielgruppen.
Verzeichnen Sie in Krisen eine grössere Bereitschaft zur Freiwilligenarbeit?
Ja, während Krisen erleben wir, insbesondere in der Anfangszeit, wenn das mediale Echo noch hoch ist, stets eine grosse Solidarität aus der Bevölkerung und eine grosse Bereitschaft, sich freiwillig zu engagieren. Dies empfinden wir nicht als selbstverständlich und wir schätzen diese Bereitschaft sehr.
Die aktuelle Krise wird sich voraussichtlich aber noch Monate hinziehen und wir sind dankbar für alle, die sich im Rahmen des SRK engagieren möchten.
Sibylle Baumgartner, SRK
Bei einer Krise müssen wir auf viele verschiedene Anforderungen gleichzeitig reagieren, sprich Behörden unterstützen, Angebote ausbauen, bereits bestehende Freiwillige koordinieren und parallel neue Freiwillige aufnehmen und einführen. Gerade zu Beginn einer Krise sind wir deshalb personell besonders stark gefordert und setzen meist Freiwillige ein, die sich bereits vor der Krise engagiert haben, da uns in dieser allerersten Phase die Zeit für die Aufnahme und Einführung neuer Freiwilliger fehlt. Bestehende Freiwillige kennen das Rote Kreuz bereits, sind schon eingeführt und schnell einsatzbereit.
Wir benötigen aber tatsächlich auch zusätzliche Freiwillige, die wir aus besagten Gründen aber erst zeitlich verzögert rekrutieren können, wenn die anfänglich hohe Bereitschaft der Bevölkerung bereits wieder etwas abflaut. Dadurch entstehen für Interessenten teilweise längere Wartezeiten, was nicht ideal ist. Die aktuelle Krise wird sich voraussichtlich aber noch Monate hinziehen und wir sind dankbar für alle, die sich im Rahmen des SRK engagieren möchten. Interessierte können sich sehr gerne an den Rotkreuz-Kantonalverband in ihrem Wohnkanton wenden.