Sie wollen den Austausch mit dem Publikum fördern und dieses integrieren. Wie gelingt das?
Indem wir mit den Zuschauer:innen in einen Dialog treten und nicht einfach nur senden, sondern auch zuhören. Das passiert einerseits im Theateralltag, nach den Vorstellungen und an der Bar. Die Leute erzählen, was sie gesehen haben und was sie bewegt. Das passiert ganz unmittelbar. Oftmals reagieren die Leute positiv. Manchmal bringen sie auch Kritik an. Ursina Greuel und ich leiten das «sogar Theater» als Co-Leiterinnen; eine von uns ist immer anwesend bei den Aufführungen und im Gespräch mit dem Publikum.
Anderseits versuchen wir, den Austausch bereits in der Programmplanung und während des künstlerischen Prozesses im Blick zu haben. Die Vermittlung unserer Themen und Stücke wird nicht delegiert an eine Vermittlungsperson, sondern dafür sind alle zuständig. Also auch die Schauspieler:innen, die Autor:innen, das Bar-Team usw. Zu all unseren Stücken führen wir Publikumsgespräche, bei denen die Zuschauer:innen, die Spielenden und die Autor:innen auf Augenhöhe über die Themen des Stücks sprechen. Unsere beiden aktuellen Stücke «Ja oder Nein – eine Partei im Kreuzverhör» und «Und dann fing das Leben an – eine türkisch-schweizerische Einwanderungsgeschichte» geben viel zu reden und die Leute nehmen das Gesprächsangebot gerne an.
Wir versuchen den Austausch bereits in der Programmplanung im Blick zu haben.
Tamaris Mayer, Co-Leiterin «sogar theater»
Mit Formaten wie den Kaltlesungen, dem SPOIZ-Festival für Kinder und unserem jährlich stattfindenden Quartierprojekt binden wir die Zuschauer:innen und die Anwohner:innen aktiv ins Theaterprogramm ein; sie können mitreden und mitgestalten. Und dann gibts auch noch den «sogar» Chor mit 40 Sänger:innen, die einmal pro Woche singen und Teil des «sogar theaters» sind.
«Theater ist ein Gespräch mit der Gesellschaft» gilt als Richtungsweisung für Ihr Theater. Was verstehen Sie unter Gesellschaft?
Mit Gesellschaft meinen wir die Welt, die uns umgibt, hier und heute – über alle Sprachgrenzen und soziale Umfelder hinaus. Auch sogenannte Randgruppen und Menschen ohne grosse Lobby sollen auf unserer Bühne wahrgenommen und gewürdigt werden. Darum stehen in unserem Programm die Themen Feminismus, Migration und Perspektiven von gesellschaftlichen Minderheiten im Zentrum. Neben Stücken auf Hochdeutsch und Mundart sind auch mehrsprachige Texte, Akzente und die gewachsenen Sprachen von Migrant:innen zu hören.
Neben diesem künstlerischen Fokus gibt es das Begleitprogramm «sogar zäme» – das «sogar theater» soll für möglichst viele Menschen offen sein. Dazu gehört ein integratives Bar-Modell, bei dem Menschen hinter der Bar arbeiten, die Deutsch lernen. Weiter findet sechs Mal pro Jahr ein Sprachtisch statt – ein Stammtisch für Deutschlernende. Menschen, die Deutsch lernen, kommen mit ihren DaZ-Lehrer:innen [Deutsch als Zweitsprache] ins «sogar theater», schauen sich ein Stück an und sprechen danach in einem niederschwelligen Gespräch darüber.

Seit letztem Jahr bieten wir pro Spielzeit zwei Aufführungen für gehörlose und hörbehinderte Menschen an. Diese werden simultan übersetzt in Gebärdensprache. Bei diesen Aufführungen wird die Theaterbar von Gehörlosen bedient. Die Zuschauer:innen können ihr Getränk in Gebärdensprache bestellen – mit Hilfe einer speziellen Getränkekarte. So soll eine Sensibilisierung auf beide Seiten stattfinden.
Nächste Woche führen Sie das Stück «Und dann fing das Leben an» als Tasteinführung für Sehbehinderte auf. Wie kann ich mir diese vorstellen?
Eine Tasteinführung richtet sich an Blinde und Sehbehinderte, welche die visuellen Aspekte eines Theaterstücks oder Leseabends nicht erfassen können. Eine halbe Stunde vor der Aufführung treffen sich die Zuschauer:innen und die beteiligten Schauspieler:innen auf der Bühne des sogar theaters. Die Zuschauer:innen haben nun die Möglichkeit, das Bühnenbild zu ertasten und die Requisiten in die Hand zu nehmen. Weiter beschreiben die Schauspieler:innen, wie sie aussehen und welche Kleidung sie im Stück tragen. So können die Sehbehinderten die Stimmen, die sie dann während des Stücks hören, mit der jeweiligen Schauspieler:in in Verbindung bringen, und können sich ein Bild machen von der Szenerie.
Eine Tasteinführung richtet sich an Blinde und Sehbehinderte, welche die visuellen Aspekte eines Theaterstücks oder Leseabends nicht erfassen können.
Tamaris Mayer, Co-Leiterin «sogar theater»
Es ist das erste Mal, dass wir im «sogar theater» eine Tasteinführung machen. Wir sind gespannt auf die Rückmeldungen der Zuschauer:innen; es ist ein Lernprozess, den wir mit den Beteiligten gemeinsam gehen und vielleicht unterwegs anpassen müssen. Unser Ziel ist es, ein bis zwei Theaterstücke pro Spielzeit für Blinde und Sehbehinderte zugänglich zu machen.
Gegründet wurde sogar 1998 im Kreis 5, nahe der Drogenszene in Zürich. War das Theater eine bewusste Auseinandersetzung mit diesem Umfeld?
Als Peter Brunner und Doris Aebi das «sogar theater» gründeten, gab es im Kreis 5 und darum herum weit und breit keine Kultur. Die Gegend war geprägt von Junkies, Dealern, dem Strich an der Langstrasse usw. Dem wollten die Gründer:innen etwas entgegensetzen – sogar theater sollte hier stattfinden, in einem Hinterhof an der Josefstrasse 106.
Heute ist die Situation ganz anders als damals – Kulturorte gibt es gleich mehrere im Kreis 5. Aber auch wir versuchen, auf unser Umfeld zu reagieren. Die multikulturelle Nachbarschaft, die vielen Sprachen, die wir auf der Strasse und in der Migros hören, die Migrant:innen, die hier leben oder ein Geschäft betreiben – all das fliesst ein in unser Theaterprogramm.
Sie haben auch ein Manifest formuliert. Wie ist dieses entstanden? Welche Rolle spielt das Manifest für die Arbeit des Theaters?
Es dient als Leitfaden und Kompass für alle, die im und ums «sogar theater» herum arbeiten. Um dem Publikum auf Augenhöhe begegnen zu können, braucht es Offenheit, Ehrlichkeit und Verletzlichkeit. Nur so lassen sich auch die feinen und leisen Impulse aus der Gesellschaft wahrnehmen. Diese Grundhaltung spiegelt sich in der künstlerischen Arbeit, den Begegnungen mit dem Publikum sowie im Umgang miteinander. Dies wurde in besagtem «stillen Manifest» festgehalten.
Die Bedeutung von Text und Literatur steht im Fokus. Verlieren diese in unserer Gesellschaft an Bedeutung?
Genau, das «sogar» ist ein literarisches Theater. Allerdings definieren wir Literatur möglichst weit: Nicht nur schriftliche Texte gehören dazu, sondern auch mündliche. Spoken Word, Lyrik, mehrsprachige Texte, Verbindungen Wort und Klang, Musiktheater – all das findet Platz im «sogar theater»!
Ich denke nicht, dass das Lesen oder Texte insgesamt an Bedeutung verlieren. Doch die Texte wandeln sich, und mit ihnen die Vorstellung davon, was Literatur ist. Und das ist gut so. Es gibt viele neue Formen, in denen sich gerade junge Menschen ganz selbstverständlich bewegen.
Wie stellen Sie das Programm zusammen?
Wir realisieren bis zu drei Eigenproduktionen pro Spielzeit. Dazu kommen Gastspiele und Koproduktionen. Am Montag findet ein- bis zweimal pro Monat ein Spoken-Word- oder Leseabend statt. Das gibt dem Programm eine Struktur und liegt innerhalb unserer finanziellen Möglichkeiten.
Zu den eigentlichen Programmpunkten kommen wir auf ganz unterschiedlichen Wegen. Erst einmal lesen wir viel! Theaterstücke oder andere Texte, die wir zum Teil von Autor:innen zugeschickt bekommen. Weiter bekommen wir Gastspielanfragen von Regisseur:innen und freien Theatergruppen – wir prüfen alles sorgfältig, lesen die Texte und entscheiden dann, ob sie literarisch und künstlerisch gut sind und thematisch zu unseren Schwerpunkten passen.
Die Texte wandeln sich, und mit ihnen die Vorstellung davon, was Literatur ist.
Tamaris Mayer, Co-Leiterin «sogar theater»
Wichtig für das «sogar theater» sind auch Kooperationen, mit denen wir einen Teil des Programms gestalten: Aktuell steht ein «WortWechsel» an, ein literarischer Austausch zwischen dem afghanischen Dichter Jafar Sael und dem Schweizer Spoken-Word-Künstler Jurzcok 1001, der in Zusammenarbeit mit dem Verein Weiter Schreiben entstanden ist. Weiter gibt es eine regelmässige Zusammenarbeit mit dem Literaturfestival «Zürich liest» und dem «unerhört! Jazzfestival» sowie mit dem Magazin «Reportagen», mit dem wir zwei- bis dreimal pro Jahr einen Diskussionsabend machen. Dazu kommt das Musiktheater-Kollektiv ox&öl – die einmal pro Jahr eine Produktion bei uns realisieren.
Wie ist es gelungen, als Kleintheater fast 25 Jahre finanziell zu bestehen?
Die Finanzierung des «sogar theaters» war, ist und bleibt eine Herausforderung! Zwar erhält das Haus seit 2008 Subventionsgelder von Stadt und Kanton Zürich. Allerdings decken diese nur rund einen Drittel des Gesamtbudgets ab. Das heisst, dass wir den grossen Rest über Ticket- und Bar-Einnahmen, Stiftungen, Spenden und Gönner:innen finanzieren müssen. In den letzten Jahren ist uns das immer wieder gelungen. Doch dafür ist ein stetiges Weibeln und Sprechen nötig! Im «sogar theater» kümmern wir uns zu dritt ums Fundraising, auf ganz verschiedenen Ebenen.
Sehr glücklich sind wir über den grossen und treuen Verein «sogar theater» mit seinen knapp 800 Mitgliedern, die das Theater nicht nur finanziell, sondern auch ideell unterstützen (für 50 Franken können auch Sie Mitglied werden!). Weiter pflegen wir einen Kreis von rund 40 Gönner:innen, die das Theater mit jährlichen Beiträgen von 500 bis 3000 Franken unterstützen.
Wir müssen den grossen Rest über Ticket- und Bar-Einnahmen, Stiftungen, Spenden und Gönner:innen finanzieren.
Tamaris Mayer, Co-Leiterin «sogar theater»
Für die künstlerischen Produktionen und die Finanzierung des Begleitprogramms «sogar zäme» stellen wir Anträge an Stiftungen! Wenn es also unter den Leser:innen Stiftungsrät:innen oder Privatpersonen gibt, die das «sogar theater» unterstützen möchten, dann freuen wir uns über eine Kontaktaufnahme!