Was will die SGG mit dem Tag erreichen?
Die Tagung, die zum achten Mal stattfinden wird, bringt Menschen aus Theorie und Praxis zusammen. Einerseits befassen sich fast alle Hochschulen der Schweiz mit den verschiedenen Arten der Arbeit im Privatbereich, in der Wirtschaft, beim Staat, in der Nachbarschaft, in Vereinen und in Organisationen. Andererseits gibt es heute in zahlreichen Organisationen, Vereinen, Alterszentren und Gemeinden qualifizierte Personen, die Freiwillige rekrutieren, begleiten und deren Dienste koordinieren. Der Austausch zwischen Praktiker*innen und Forschenden ist wichtig, damit Trends und Entwicklungen in der Freiwilligenarbeit gegenseitig wahrgenommen und entsprechende Lösungen entwickelt werden können.
In den vergangenen 10 Jahren sind viele Stiftungen im Umweltbereich entstanden. Zeichnet sich diese Tendenz auch bei den freiwilligen Helfer*innen im Pensionsalter ab?
Nein, leider nicht. Aktuell sind lediglich 5 Prozent der Freiwilligen über 60 Jahren in einer Umweltorganisation oder in einem Tierschutzverein tätig. Und von den Personen, die heute keine Freiwilligenarbeit leisten, würden sich nur 9 Prozent in einer solchen Organisation engagieren.
50 Prozent aller Personen im Rentenalter sind freiwillig in Organisationen tätig. In welchen Themenfeldern wirken die Rentner*innen?
12,1 Prozent der Freiwilligen über 60 Jahren engagieren sich in Sportvereinen. Das bedeutet nicht, dass sie einfach im Seniorenturnen mitmachen, sondern dass sie Aufgaben zu Gunsten des Vereins übernehmen. 11,9 Prozent wirken in einer sozialen oder karitativen Organisation, 11,2 Prozent in einem kulturellen Verein und 10,9 Prozent in einer kirchlichen Gruppierung.
Da gibt es noch Potential.
Ja, denn genauso interessant finde ich die Frage, wo sich Freiwillige über 60 Jahren engagieren würden, wenn sie heute keine unbezahlte gesellschaftliche Aufgabe übernehmen.
Wo?
23 Prozent wären bereit, in einer kirchlichen Organisation mitzuwirken, 19 Prozent in einem Quartierverein, 18 Prozent in einer sozialen oder kulturellen Organisation und 16 Prozent in einem Freizeit- oder Spielverein. Wäre ich bei einer Pfarrei angestellt, würde ich folglich heute noch mit Flyern von Tür zu Tür gehen und alle 60+ zu einem Apéro einladen.
Sind es vor allem Themen wie Gesundheit, Nachbarschaftshilfe und Soziales, die von Freiwilligen über 65 Jahren profitieren?
Bisher haben wir von der formellen Freiwilligenarbeit in Organisationen gesprochen. Daneben leistet rund die Hälfte der Personen über 60 Jahren informelle Freiwilligenarbeit ausserhalb von Organisationen. Diese findet vor allem in der Nachbarschaft statt und es geht dabei stark um betreuerische und pflegerische Hilfestellungen. Neben der formellen und informellen Freiwilligenarbeit übernehmen junge Rentner*innen oftmals private Betreuungsaufgaben zu Gunsten ihrer Enkelkinder und/oder ihrer betagten Eltern.
Wie haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine die Rolle der Freiwilligenarbeit verändert?
Zu Beginn der Pandemie wie auch zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine entstanden rasch starke Solidaritätswellen. Das war schon beim Börsencrash vor 15 Jahren und bei der Flüchtlingskrise vor sieben Jahren der Fall. Leider flachen diese spontanen Betroffenheitswellen schnell wieder ab. Bei der Pandemie folgten der Solidaritätswelle, wie schon beim Börsencrash, bereits nach kurzer Zeit Verteilungskämpfe zwischen verschiedenen Interessengruppen. Im Gegensatz zu den spontanen Hilfeleistungen in Notsituationen basiert Freiwilligenarbeit auf Regelmässigkeit und Langfristigkeit.
... diese wurde während der Pandemie unterbrochen
Für die Freiwilligen im Rentenalter war die Corona-Pandemie eine Katastrophe. Der Bundesrat erklärte im März 2020 generell alle Personen über 65 Jahren zur Risikogruppe. Im Lockdown sollten sie alle daheimbleiben und von einem Tag auf den anderen weder Freiwilligenarbeit leisten noch ihre Enkel hüten oder sich um ihre Nachbarn kümmern. Zum Glück hat Eveline Widmer-Schlumpf, als Präsidentin von Pro Senectute postwendend gegen das antiquierte Altersbild des BAG und die entsprechend fragwürdige Covid-Massnahme protestiert.
Die SGG hat kürzlich den Think + Do Tank «Pro Futuris» lanciert. Mit diesem will die SGG die Demokratie stärken und gesellschaftliche Gräben zuschütten. Was ist die Rolle der pensionierten Freiwilligen in diesem Setting?
Es gibt bekanntlich mehrere Gräben in unserer Gesellschaft. Am bekanntesten sind der Röstigraben und der Polentagraben zwischen den Sprachregionen. Bei Abstimmungen sind aber heute die Gräben zwischen den Städten und den Landregionen und zwischen Personen mit mehr oder weniger Bildung signifikanter als die Sprachgrenzen. Bei manchen Themen existieren auch Gräben und Spannungen zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Generationen. Die heute 20-Jährigen übernehmen von den Älteren eine Welt mit hohen Umweltbelastungen. Von den Pensionskassen und Sozialversicherungen werden sie dereinst weniger profitieren als die heutigen Rentner*innen. Wenn Rentner*innen heute Freiwilligenarbeit leisten oder Geld spenden, leisten sie einen wertvollen Beitrag für eine solidarische Gesellschaft.
Die angesprochene Tagung findet am 13. Mai statt. Sind die Workshops partizipativ ausgelegt und wer kann teilnehmen?
Die Tagung der SGG steht allen Interessierten an Freiwilligenarbeit offen. Am Vormittag werden fünf aktuelle Studien über das Engagement der Personen im Rentenalter präsentiert. Die Workshops am Nachmittag bieten Gelegenheit, einzelne Facetten der Freiwilligenarbeit mit Fachpersonen aus Theorie und Praxis in kleineren Gruppen zu diskutieren. In den Workshops geben zu Beginn jeweils 2–3 Fachpersonen kurze Inputs, ehe die Teilnehmenden ihre eigenen Erfahrungen und Fragen einbringen und so ein Austausch entsteht. Zwei Workshops betrachten die Herausforderungen für die Freiwilligenarbeit durch die Corona-Pandemie. Ein Workshop thematisiert die Motivation und Bedürfnisse von Freiwilligen im Rentenalter. Und zwei Workshops gehen der Frage nach, was Gemeinden und Arbeitgeber zur Gewinnung von neuen Freiwilligen über 60 Jahren beitragen können.
Zwei der Workshops and der Tagung vom 13. Mai gehen der Frage nach, wie die Gemeinden und die Arbeitsgeber zur Gewinnung von neuen Freiwilligen über 60 Jahren beitragen können. An welche konkreten Möglichkeiten denken Sie?
Manche Gemeinden organisieren beispielsweise einen jährlichen Anlass für Neu-Pensionierte. An diesen Treffen präsentieren sich lokale Vereine und Institutionen, die Freiwillige suchen. Und zahlreiche Gemeinden informieren auf ihrer Webseite über den Bedarf an Freiwilligeneinsätzen vor Ort. Unternehmen fördern die Freiwilligenarbeit am besten durch flexible Arbeitszeiten. So können Angestellte Erwerbsarbeit nicht nur besser mit ihrer privaten Care-Arbeit vereinbaren, sondern auch mit Freiwilligenarbeit und Milizaufgaben. Manche Unternehmen sensibilisieren Angestellte über 58 oder 60 Jahren bewusst für freiwillige Engagements und stellen ihnen dafür Arbeitszeit zur Verfügung. Manche Unternehmen fördern die Freiwilligenarbeit ihrer Angestellten auch durch firmeneigene Kinderkrippen oder indem sie Freiwilligenarbeit als Weiterbildung anerkennen.
Kann man sich noch zur Freiwilligen-Tagung vom 13. Mai anmelden?
Einige freie Plätze gibt es noch. Auf der Webseite der SGG gelangt man direkt zur Online-Anmeldung.