The Philanthropist: Pro Pallium wurde vor 20 Jahren gegründet. Was gab den Anlass?
Veronika Hutter: Für den Ursprung müssen wir in der Zeit noch ein wenig weiter zurückreisen: Unsere Stiftungsgründerin, Christiane von May, war Anfang der 1990er Jahre als Dolmetscherin in Berlin tätig. In dieser Zeit erkrankte ihr Pflegekind Andrea an Leukämie und verstarb. In ihrem eigenen Erleben in der Palliativ- und auch End-of-life-Phase ihrer Tochter fühlte sie sich wenig begleitet und war der Überzeugung, dass es in der Schweiz sicherlich besser organisiert wäre. Mit Rückkehr in ihr Heimatland wurde allerdings schnell klar: Hier gab es sogar noch weniger Angebote als in unserem Nachbarland.
Anfang der 1990er Jahre war das Thema beinahe nicht existent.
Veronika Hutter, Geschäftsführerin Pro Pallium
So war ursprünglich der Gedanke an ein stationäres Hospiz geprägt. Nach umfassenden Bedarfsabklärungen musste dies jedoch wieder ad acta gelegt werden: Die Familien waren zu Hause mit ihren kranken Kindern, so wie es denn möglich war – schliesslich mussten die Eltern arbeiten und ein stationäres Hospiz ist nicht ohne Weiteres endlos finanzierbar. Auch jetzt zahlt das Krankenversicherungsgesetz in der Schweiz (KVG) nur rund 14 Tage Aufenthalt. Alles darüber hinaus ist oft kaum finanzierbar und müsste über Spenden generiert werden.
Da es Christiane von May darum ging, möglichst viele Familien entlasten zu können – ein stationäres Hospiz hat einfach begrenzte Betten – erweiterte sie ihre Studien um ambulante Entlastung. Schon heute ist das Angebot knapp, und damals war es noch viel knapper. 2005 war es dann so weit: Am 13. Juni 2005 wurde die Stiftung notariell begründet. 2009 konnten dann die ersten Familien entlastet werden, über durch Pro Pallium ausgebildete Freiwillige.
Wie hat sich die Arbeit in dieser Zeit verändert?
Anfang der 1990er Jahre war das Thema beinahe nicht existent. Man sprach lange von lediglich 500 betroffenen Kindern und erst durch verschiedene Studien wurde das ganze Ausmass wirklich klar. Als würde sich langsam der Nebel lichten und die zu erklimmenden Berge würden erkennbar werden. Pro Pallium gab ein Projekt in Auftrag, in welchem insbesondere Pädiater: innen zu Wort kommen sollten, umfassende Interviews mit ihnen und betroffenen Familien wurden durchgeführt. Pädiatrische Palliative Care fand lange Zeit im Medizinstudium nicht statt. Das ganze System ist auf Heilung ausgelegt und nicht auf die Akzeptanz, dass eine Diagnose nicht kurativ ist – sondern palliativ.
Kranke Kinder und noch dazu oft unheilbar und sterbend? Das ist nach wie vor etwas, mit dem die wenigsten umgehen können.
Veronika Hutter
In einem weiteren Punkt kommt hinzu, dass Palliative Care bei Kindern ganz anders ist als Palliative Care bei Seniorinnen und Senioren. Kinder in Palliativsituationen können unter Umständen ein einigermassen normales Leben führen, zur Schule gehen und mit Freunden spielen. Bis möglicherweise ein weiterer Schub kommt, eine Veränderung der Krankheit und diese dann tatsächlich zum Tod führt. Erst dann sprechen wir von der tatsächlichen End-of-life-Phase. Das ist der Gesellschaft nicht bewusst, kein Wunder, wenn das Thema nie stattgefunden hat.
Wie geht die Gesellschaft heute mit dem Thema um?
Wir erleben eine langsame, sehr langsame Enttabuisierung des Themas. Über Krankheit wird allgemein weniger gesprochen – noch weniger als über Geld. Doch kranke Kinder und noch dazu oft unheilbar und sterbend? Das ist nach wie vor etwas, mit dem die wenigsten umgehen können.
Selbstredend ist dies ein natürlicher Prozess. Das Leid der anderen macht die Vulnerabilität der eigenen Gesundheit, der Gesundheit der eigenen Kinder umso präsenter. Und dennoch: Was würde ich mir wünschen, wäre meine Familie betroffen? Dieser Frage darf sich gestellt werden. Und so individuell die Antworten sind, so individuell versuchen wir auf jede «unserer» Familien zuzugehen. Dazu kommt für die Familien, dass es leider nach wie vor eine grosse Versorgungsungerechtigkeit im Land gibt. Stationäre Aufenthalte werden von den Krankenversicherungen gezahlt, doch eine finanzielle ambulante Unterstützung gibt es nicht. Dabei ist mittlerweile durch zahlreiche Studien klar, dass der Grossteil der erkrankten Kinder zuhause lebt und nicht stationär ist. Kein Wunder: Wir sprechen von rund 10’000 betroffenen Kindern. Rein von der Bettenanzahl her ist dies nicht zu stemmen, von der Anzahl der Pflegekräfte ganz zu schweigen.
Familien, so wie es der Gesundheitszustand zulässt, werden nach Hause entlassen. Und dann buchstäblich allein gelassen.
Veronika Hutter
Somit werden die Familien, so wie es der Gesundheitszustand zulässt, nach Hause entlassen. Und dann buchstäblich allein gelassen. Denn wer soll denn betreuen, wer soll alles bezahlen. Organisationen mit Leistungsvereinbarungen dürfen nur bestimmte Zeiten abrechnen und die sind den Familien oft zu wenig. Dort greift Pro Pallium ein und unterstützt, so wie es möglich ist.
Was sind die grössten Herausforderungen?
Den Nachfragen nachzukommen. Wir sind rein spendenfinanziert und dies stellt uns durchaus vor Herausforderungen. Anders als andere Organisationen verzichten wir bewusst auf Leistungsvereinbarungen der Kantone und haben dadurch zwar weniger finanzielle Mittel, doch gleichzeitig ein Mass an Flexibilität, welches wir auf keinen Fall aufgeben wollen: Ziehen sich andere Organisationen nach dem Tod des Kindes zwangsläufig aus der Familie zurück, weil weitere Besuche nicht finanziert sind, bleibt Pro Pallium so lange, wie die Familie uns braucht. Dies kann ein kurzer Zeitraum sein, und oft ein längerer. Diese Möglichkeiten für unsere Familien wollen wir nicht aufgeben und es stellt mich trotzdem oft vor Entscheidungen, welche der nächsten A‑Prioritäten realisiert werden kann, und welche leider pendent gehalten werden muss.
Wir suchen ständig weitere freiwillige Mitarbeitende, die wir ausbilden können. Die Ausbildung, unsere sogenannte Basisschulung, wird nun auch umfassend überarbeitet, um für weitere Zielgruppen attraktiver zu werden: Wir wollen, dass sich mehr Menschen bei uns freiwillig engagieren können, auch Berufstätige und Studierende.
Sie unterstützen Familien mit schwerstkranken Kindern. Was brauchen diese am dringendsten?
Vor allen Dingen brauchen sie Zeit. Vielen unserer Familien fehlt das typische Helfernetz um sich herum. Angehörige leben nicht mehr, waren nie da oder sind zu weit weg. Oft fehlen Gelder, um sich um eine eigene Betreuung zu kümmern – ganz davon abgesehen, dass im Falle einer fest angestellten Person auch die Pflichten eines Arbeitgebers hinzukommen. Und ein Babysitter Service hat Ahnung davon, ein gesundes Kind zu betreuen und hat im besten Fall einen Nothelferkurs belegt. Doch mit einem schwerstkranken Kind umzugehen und die ganze Familie psychosozial zu begleiten, dafür braucht es eine Ausbildung. Zum Beispiel eine wie jene, die Pro Pallium anbietet. Zudem leiden alle Angehörige der Familie und enge Freunde mit. Einmal als Elternteil schwach sein dürfen und sich vorbehaltlos mitteilen fällt bei der freiwilligen Person oder der Regionalleiterin von Pro Pallium leichter und entlastet mehr.
Darüber hinaus sind die Familien von grosser Versorgungsungerechtigkeit betroffen. Dies liegt am «Kantönligeist». Überall ist alles unterschiedlich geregelt. So ist es schon vorgekommen, dass Familien nach der Diagnose ihres Kindes den Wohnort wechselten, da in ihrer Ursprungsgemeinde und ‑kanton bspw. keine IV-Hilfen genehmigt wurden. Im Ort fünf Kilometer weiter jedoch schon. In diesem recht komplizierten Versorgungssystem kennen sich unsere Regionalleiterinnen gut aus, können die Familien beraten und mit weiteren Organisationen vernetzen. Darüber hinaus ist es sehr individuell und auch davon abhängig, welchen Rückhalt die Familie hat und wie viele Geschwisterkinder es gibt.
Wie belastend ist das Thema für Sie persönlich bei der täglichen Arbeit?
Sehr, wobei ich persönlich tatsächlich noch weiter weg bin. Die jeweilige freiwillige Person und selbstverständlich die jeweilige Regionalleiterin sind viel näher dran und sie haben neben der eigenen Trauer auch noch die Trauer der Angehörigen. Natürlich bilden wir die Freiwilligen darin aus, doch die Praxis ist bekanntermassen oft anders als die Theorie.
Dies ist für uns alle immer hart, selbst wenn wir diese Nachrichten leider oft erhalten.
Veronika Hutter
Stirbt eines unserer Kinder, werden alle Mitarbeitenden der Stiftung informiert. Dies ist für uns alle immer hart, selbst wenn wir diese Nachrichten leider oft erhalten. Die Regionalleiterinnen haben anlässlich ihrer monatlichen Sitzung immer ein kleines Ritual, welches sie abhalten. Ich persönlich muss immer tief durchatmen, wenn es wieder so weit ist. Übrigens auch bei allen Themen, die ich in den Sitzungen mitbekomme: Wenn beratschlagt wird, wie einer Familie geholfen werden kann, wie sie am Anschlag ist oder auch, ob wir uns Unterstützung durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) holen müssen. Darüber hinaus bin ich ehrlich: Um meine Arbeit bestmöglich machen zu können, und das heisst, den tollen Mitarbeitenden der Stiftung den Rücken freizuhalten, muss ich mich etwas davon lösen können. Da heisst es dann auch, tief durchatmen und weitermachen.
Sie arbeiten mit Freiwilligen zusammen. Welche Aufgaben können Sie ihnen übertragen?
In Zukunft hoffentlich mehr: Bislang begleiten unsere freiwilligen Mitarbeitenden in erster Linie die Familien. Hierfür werden sie mit unserer eigens konzipierten Schulung ausgebildet. Doch wir wünschen uns mehr: Freiwillige, die bei administrativen Themen unterstützen können und ich persönlich wünsche mir Freiwillige, die uns in der Öffentlichkeitsarbeit unterstützen, in der IT (in der wir viele Projekte pendent haben) und überall, wo es möglich ist. Dies ist ein Thema, das mir seit einiger Zeit durch den Kopf geht und immer mehr Formen annimmt.
Welche Voraussetzungen müssen Freiwillige mitbringen?
Feingefühl und Selbstreflektion. In unserer Ausbildung geben wir viele Dinge mit: Umgang mit Trauer und Tod, Humor mit Kindern etc. Sie erhalten das Handwerkzeug, das es braucht, um Familien zu entlasten und sich gleichzeitig selbst schützen zu können.
Doch eine gewisse Hingabe, die braucht es – ein sich selbst in der eigenen Wichtigkeit zurücknehmen. Wir haben in der Vergangenheit auch schon Interessierte abgelehnt, weil sie unter Umständen sich selbst zu sehr im Fokus hatten oder ihre Begleitung mit einem Missionscharakter gesehen haben. So funktionieren wir nicht, denn in der Begleitung bestimmt die Familie, was sie braucht. Darüber hinaus sind unsere Türen offen. Denn so unterschiedlich «unsere» Familien sind, so unterschiedlich dürfen auch unsere freiwilligen Mitarbeitenden sein.
Wo sehen Sie Anpassungsbedarf bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Ihre Arbeit erleichtern würden?
Durch zahlreiche Studien wurde bekannt, dass es mehr betroffene Familien gibt als seither angenommen. Zeitgleich entwickelt sich die Medizin weiter und es gibt mehr der sogenannten Überlebenden der Neonatologie. Hier sehen wir viele chronische Krankheiten, welche ebenfalls ein Familienkonstrukt schwer belasten können. In Kürze zusammengefasst gibt es drei gesetzliche Bereiche, die den gesundheitspolitischen und demographischen Trends nicht mehr gerecht werden.
Das Parlament sollte unserer Meinung nach bei der Reform der Sozialwerke den Angehörigen endlich faire Betreuungsleistungen anrechnen, die dem monetären Wert der geleisteten Care-Arbeit entsprechen.
Veronika Hutter
Hierzu zählt, dass die Gesundheitspolitik ambulant vor stationär sieht, jedoch Familien mit schwerstkranken Kindern zu Hause im KVG nicht stattfinden. Im Spital wird alles gezahlt, und obwohl es zu Hause viel günstiger ist, bezahlen die Krankenkassen selten für aufsuchende Therapien, Kinderspitex, Entlastung über Nacht, Transporte und schon gar nicht für die Koordinationsarbeit der Eltern. Ambulant ist auch der Selbstbehalt der Medikamente zu bezahlen. In diesem Zusammenhang: Es fehlt eine tragfähige Lösung zur Anerkennung von Betreuungsleistungen der AHV. Um für das kranke Kind sorgen zu können, denn wie gesagt wird von den Kassen die ambulante Betreuung wenig unterstützt, müssen oftmals beide Elternteile ihr Arbeitspensum stark reduzieren. Dadurch werden sie dreifach bestraft: Das Einkommen sinkt, somit die Einzahlungen in die AHV, es kann keine Altersvorsorge aufgebaut werden und oftmals fallen gerade die Mütter unter das BVG-Minimum. Beim Erreichen des Pensionsalters erhalten sie niedrigere Renten. Und dann kommen die ambulanten Kosten hinzu, die von niemandem getragen werden ausser den Familien. Dass Pro Pallium für Entlastung im Alltag sorgt, ist also wirklich das Mindeste.
Das Parlament sollte unserer Meinung nach bei der Reform der Sozialwerke den Angehörigen endlich faire Betreuungsleistungen anrechnen, die dem monetären Wert der geleisteten Care-Arbeit entsprechen. Und der letzte Punkt: Die IV legt wichtige Prinzipien fest, doch die Umsetzung liegt bei den Kantonen. Es gibt so grosse Unterschiede, ob und was die zuständige kantonale IV-Stelle akzeptiert und wo welche Formulierungen in den Gesuchen stehen muss. Auch bei unheilbaren Krankheiten müssen periodische Verlaufsberichte eingereicht werden. In unserem damaligen Projekt berichteten Eltern und auch Fachpersonen von einem bürokratischen Spiessrutenlauf, da sich Ein- und Ausschlusskriterien inklusive der Interpretationen immer wieder verändern. Ab Volljährigkeit kommen dann wieder ganz andere Regeln zum Tragen. Hier ist das Ausmass der ganzen Versorgungsungerechtigkeit in der Schweiz sehr deutlich zu sehen.