Die Zahlen von Menschen mit psychischen Erkrankungen steigen. Gleichzeitig kommuniziert Pro Mente Sana ihre schwierige finanzielle Situation. Was läuft schief?
Das ist in der Tat ein Widerspruch. Wir alle erleben, dass das Thema der psychischen Erkrankung in unserer Gesellschaft immer wichtiger wird. Wie die anderen Organisationen, die sich um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kümmern, spürt Pro Mente Sana als Dienstleisterin in diesem Bereich eine steigende Nachfrage nach unseren Angeboten. Seit 2018 ist die Tendenz stark steigend.
Wie ist die Entwicklung seit der Pandemie?
Auch seit der Pandemie steigen die Zahlen weiter. Unsere Gesellschaft hat ein Problem: Die WHO spricht vom grössten gesundheitlichen Thema für die Gesellschaft in Westeuropa in den kommenden Jahren.
Die gestiegene Nachfrage während der Pandemie hat unsere Situation nun zusätzlich verschärft.
Muriel Langenberger, Geschäftsleiterin Pro Mente Sana
Die gestiegene Nachfrage nach ihren Angeboten hat zur schwierigen finanziellen Lage geführt?
Pro Mente Sana wird zum Teil von der öffentlichen Hand finanziert gemäss dem Gesetz über die Invalidenversicherung. Wir erbringen unter anderem eine staatliche Leistung vor allem für IV-Rentner:innen. Aber nicht alle Kosten sind gedeckt. Die fehlenden Mittel müssen wir selbst über Spenden, Stiftungen oder andere Marketingmassnahmen generieren. Aber es bleibt ein strukturelles Defizit. Bis jetzt konnten wir dieses über zwei Legate decken, die wir vor vielen Jahren erhalten haben. Diese sind nun aufgebraucht. Sicher haben wir auch Fehleinschätzungen gemacht. Aber die gestiegene Nachfrage während der Pandemie hat unsere Situation nun zusätzlich verschärft.
Hatte die Pandemie auch Auswirkungen auf der Einnahmenseite?
Wir hatten im Pandemiejahr 2020 mehr Einnahmen, sowohl an Spenden, von Stiftungen und auch vom Bund dank des Epidemiegesetzes. Wir dachten, gut, das Thema ist in der Gesellschaft angekommen. Wir waren positiv, dass es nun gelingen würde, die notwendigen Gelder zu finden. Leider ist der Effekt der Pandemie in den Jahren 2021 und 2022 wieder verschwunden. Die Tendenz, steigende Anfragen und Kosten und gleichzeitig weniger Mittel hat unsere Situation verstärkt.
Das Thema der psychischen Beeinträchtigung gewinnt an Bedeutung. Weshalb ist es so schwierig, Spenden zu generieren?
Es ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Das macht es schwieriger, Spenden zu sammeln.
Auch über Geld spricht man in unserer Gesellschaft eher nicht. Weshalb haben Sie bewusst transparent die Situation von Pro Mente Sana kommuniziert?
Die Zahlen sind klar. Wir haben per Ende August zudem einen Zwischenabschluss gemacht und es hat sich gezeigt, dass wir jetzt handeln müssen. Wir müssen strukturelle Massnahmen ergreifen, und das müssen wir kommunizieren. Wir konnten den Zeitpunkt wählen. Dabei wollten wir mutig sein und mit den Menschen über unsere Situation sprechen. Denn wir müssen über die Probleme sprechen. Das gilt genauso für unser Thema: Solange wir nicht über psychische Probleme sprechen, werden wir als Gesellschaft und als Organisation keine besseren Rahmenbedingungen erhalten.
Wie liesse sich die Situation verbessern und das Thema enttabuisieren?
Das beginnt bei uns Menschen. Wir müssen lernen, darüber zu sprechen, zu diskutieren, mit Freunden, in der Familie und insbesondere am Arbeitsplatz. Es kann nicht sein, dass ich wegen Rückenproblemen meinen Arbeitgeber um einen Hochtisch bitte, aber ich es nicht wage, ihn anzusprechen, wenn ich Angststörungen oder depressive Phasen habe. Wir müssen als Individuen das Problem angehen und auch das System anpassen.
Was braucht es?
Die Prävention wird noch wenig von der öffentlichen Hand getragen. Es gibt kein Präventionsgesetz und wenig Mittel. Für die Sensibilisierung wird bereits einiges getan, aber Präventionsarbeit wird kaum von der öffentlichen Hand finanziert.
Es ist für uns nicht der Moment, neue Projekte zu starten. Wir müssen die Basis und die Struktur finanzieren.
Muriel Langenberger, Geschäftsleiterin Pro Mente Sana
Ist das ein Problem für Pro Mente Sana?
Bei der Beratung einer Person, die eine IV-Rente bezieht, können wir rund 80 Prozent der Kosten über die öffentliche Hand decken. Heute kommen aber immer mehr Menschen früher. Das ist positiv. So können wir helfen, bevor sich die Situation verschlimmert, und präventiv wirken. Es braucht also nicht nur Gelder für die Gesundheit, Pflege und Sensibilisierung, sondern auch für die Früherkennung und die «sekundäre Prävention». Hier sind wir auch als Organisation gefordert und müssen noch verstärkt mit den Kantonen verhandeln.
Wie arbeiten Sie mit anderen Organisationen zusammen?
Pro Säule in unserem Geschäftsmodell haben wir ein spezifisches Netzwerk. Wir arbeiten mit Förder- und Partnerstiftungen. Im Bereich Sensibilisierung engagieren wir uns stark mit Gesundheitsförderung Schweiz. In der Prävention arbeiten wir mit der Beisheim Stiftung und vernetzen uns stark mit der Wirtschaft. Viele Unternehmen realisieren, dass die Themen Erschöpfungsdepression und Burnout sie intensiv betrifft und direkte und indirekte Folgekosten haben kann. Dann arbeiten wir mit Dach- und Fachverbänden. Im Recovery-Programm, das Betroffenen auf dem Weg zur Genesung und Reintegration begleitet, sind psychiatrische Kliniken und weitere Institutionen unsere Partner.
Können Stiftungen Pro Mente Sana in der aktuellen Situation zusätzlich unterstützen?
Es haben uns schon Stiftungen kontaktiert, weil unsere Arbeit in ihren Förderbereich falle. Sie haben uns gefragt, ob wir ein Projekt hätten, das sie unterstützen können. Aber gerade das ist das Problem. Es ist für uns nicht der Moment, neue Projekte zu starten. Wir müssen die Basis und die Struktur finanzieren. In der Vergangenheit haben wir vielleicht zu oft Projekte durchgeführt und uns verzettelt. Aber schliesslich ist das eine generelle Fragestellung, mit dem sich der Sektor auseinandersetzt, der Wechsel von einer Projekt- zu einer Strukturfinanzierung.