Braucht unsere Gesellschaft Journalismus?
Jede Gesellschaft braucht geprüfte Informationen. Das leistet Journalismus. Er bietet den Zugang zu Informationen, die möglichst nahe an der Wahrheit sind. Das macht ihn zu einem zentralen Element für das Funktionieren einer Demokratie. Journalismus ist das Herzstück. Er ermöglicht es den Bürger:innen, aufgeklärt zu sein, die Vielfalt verschiedener Standpunkte zu verstehen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Eine zweite Dimension wird oft heruntergespielt. Für mich ist sie aber genauso zentral: Journalist:innen stellen die Verbindung zwischen den Bürger:innen, zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in unserem Land und zwischen verschiedenen Gemeinschaften her. Schliesslich gibt es eine dritte Dimension. Der Journalismus hilft den Menschen, sich im Alltag zurechtzufinden, indem er Themen aufgreift, die manchmal als weniger seriös gelten, aber den Erwartungen des Publikums entsprechen; sie sind übrigens Themen, über die in der Familie, unter Freund:innen oder an der Kaffeemaschine diskutiert wird. Es ist auch eine der Aufgaben des Journalismus, Debatten anzuregen.
Dennoch: Heute können Unternehmen, Behörden und Politiker:innen über diverse eigenen Kanäle direkt kommunizieren.
In der Tat sind die Medien heute nur noch ein Informationskanal unter vielen. Die Komplexität hat zugenommen. Die Frage aber ist, wie kann sich dieser Kanal von anderen unterscheiden?
Hat der Journalismus noch ein Alleinstellungsmerkmal?
Ja, denn er erfüllt Ziele und Anforderungen, die sich von denen anderer Produzenten von Inhalt unterscheiden. Insbesondere ist dies in dem grundlegenden Unterschied zwischen Information und Kommunikation. Der Journalismus definiert sich über eine Reihe von individuellen und kollektiven ethischen und deontologischen Grundsätzen, die ihn von anderen Akteuren unterscheiden. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass andere Kanäle, die zum Reichtum unseres Informationsökosystems beitragen, disqualifiziert werden.
Das heisst?
Ich denke da zum Beispiel an die Informationspraktiken der jungen Generation, die manchmal dazu neigt, diskreditiert zu werden. Sie informieren sich zwar weniger über die sogenannten traditionellen Medien, stützen sich aber auf ansonsten sehr relevante Quellen wie populärwissenschaftliche Inhalte, Debattenkanäle usw., die sie in den sozialen Netzwerken finden. Diese Art von Inhalten kann die von Journalist:innen produzierten Inhalte ergänzen. Sie werden unter anderen Bedingungen und außerhalb des klassischen journalistischen Kreislaufs erstellt, nähern sich diesem aber inhaltlich und sogar in ihren Zielen stark an.
Einige Medien arbeiten mit dem Format der Leser:innenjournalist:innen. Braucht es keine journalistische Ausbildung mehr?
Dies ist ein sehr interessantes Thema, das man mit dem in Verbindung bringen kann, was als partizipativer Journalismus bezeichnet wurde. Eine Praxis, die älter ist als die Digitalisierung. Sie hat sich aber in diesem Zusammenhang mit einer wachsenden Nachfrage der Öffentlichkeit nach Teilhabe an Informationen beschleunigt. Die Medien erkannten dieses Bedürfnis schnell und versuchten auf verschiedene Weise darauf zu reagieren, mit Leserreporter:innen, der Einrichtung von Blogs etc. Sie sahen jedoch auch die Gefahr, dass der Eindruck entstehen könnte, es gäbe keinen Bedarf mehr an ausgebildeten Journalist:innen.
Braucht es sie?
Ich bin davon überzeugt, dass Journalist:innen einen wesentlichen Platz einnehmen; sie müssen hingegen ihre Rolle und ihren Mehrwert in einem paradoxen Kontext von Kritik und Infragestellung, aber auch der Anerkennung ihrer Besonderheit besser erklären, wie die ersten Wochen der Covid-19-Pandemie mit einem deutlichen Anstieg ihrer Einschaltquoten deutlich gezeigt haben. Um auf den partizipativen Journalismus zurückzukommen: Er bedeutet nicht, dass die Bürger:innen an die Stelle der Journalist:innen treten. Es geht vielmehr darum, gemeinsam über mögliche Formen der Zusammenarbeit nachzudenken.
Wie kann das funktionieren?
Das Beispiel von Correctiv in Deutschland ist ein gutes Beispiel dafür, wie Bürger:innen an der Herstellung von Informationen beteiligt werden können, in diesem Fall an den Recherchen von investigativen Journalist:innen. Das Team von Correctiv hat Wege gefunden, wie die Öffentlichkeit und Journalist:innen zusammenarbeiten können, ohne die Rollen zu vermischen, und wie sie die verschiedenen Stimmen aufwerten können. Dies ist einer der Schlüssel, verbunden mit einem besseren Verständnis dessen, was die Öffentlichkeit erwartet und wie Journalist:innen und Medien darauf reagieren können. Die Forschung hat nämlich gezeigt, dass zwischen den Vorstellungen der Journalist:innen und denen der Bürger:innen erhebliche Diskrepanzen bestehen. Dies führt zu Unkenntnis und gegenseitigem Misstrauen. Sich für die Erwartungen des Publikums zu interessieren bedeutet im Übrigen nicht, sich damit zu begnügen, vereinfachte Unterhaltungsinhalte anzubieten.
Ist partizipativer Journalismus eine Art des Community Managements?
Der partizipative Journalismus, wie er viele Jahre lang praktiziert wurde, basierte auf dem einfachen Prinzip, dass die Menschen an der Produktion von Informationen beteiligt sind, indem sie bspw. Fotos, Videos oder Texte einsenden, Artikel kommentieren etc. Diese Vision des partizipativen Journalismus hat auf beiden Seiten zu Enttäuschungen geführt. Die Erneuerung der Beziehungen zwischen Journalist:innen und Publikum erfordert heute neue Formen: Zuhören, direkter Austausch, aber auch Bemühungen der Redaktionen, Medien und Journalist:innen, ihre Arbeit besser bekannt zu machen und zu erklären. Dies kann zum Beispiel durch das Öffnen der Türen von Redaktionen geschehen.
Was heisst das?
Journalist:innen müssen mehr und besser erklären, was sie tun und wie sie vorgehen: Warum ein bestimmter Artikel wie produziert wurde, warum eine bestimmte Person oder Institution kontaktiert wurde und eine andere nicht. Es geht also darum, die Leser:innen dafür zu sensibilisieren, was es bedeutet, Informationen zu produzieren, mit all ihren Besonderheiten, aber auch mit ihren Zwängen. Dieser Ansatz soll dazu beitragen, den Journalismus auf zugängliche Weise zu vermitteln. Für die Journalist:innen bedeutet dies, dass sie die Gesellschaft, über die sie berichten, noch stärker berücksichtigen. Es ist eine Form des Journalismus, die darauf abzielen kann, das gegenseitige Verständnis zwischen den Bürger:innen auf der einen Seite und den Journalist:innen und Medien auf der anderen Seite zu verbessern.
Kann dies verhindern, dass sich die Menschen von den Nachrichtenmedien abwenden?
Ja. Teils hört man, dass sich Menschen nicht mehr für Informationen interessieren. Es stimmt. Es gibt diese Nachrichtenmüdigkeit. Menschen, welche die düsteren Nachrichten nicht mehr ertragen – und seit einigen Jahren reiht sich Krise an Krise. Dennoch ist es falsch zu glauben, dass die Menschen nicht mehr an Nachrichten und Informationen interessiert sind, dass sie nicht mehr wissen wollen, was in ihrer Nachbarschaft und in der Welt passiert. Im Gegenteil. Mit der Digitalisierung hat sich der Zugang zu einer Vielzahl an Quellen ungemein vergrössert. Der Informationskonsum ist heute enorm. Im Gegenzug hat sich der Zugang zu Informationen über traditionelle Medien verringert. Hier müssen wir ansetzen, um die Verbindung wieder herzustellen. Wir müssen uns bewusst machen, dass sie ein wesentliches Teil des Informationspuzzles sind für jene, die sich über Fakten, über zirkulierende Meinungen, Debatten und Diskussionen informieren wollen. Zu sagen: Die Leute informieren sich nicht mehr, sie haben sich von den Medien abgewandt, ist zu einfach. So wird die Verantwortung auf die Medienkonsumierenden abgeschoben. Aber ja, die Verbindung wurde zum Teil unterbrochen und muss wiederhergestellt werden.
Aber gerade weil die Menschen heute viele Informationskanäle nutzen und sich in den Sozialen Medien informieren, besteht die Gefahr von Filterblasen und Fake-News. Wo steht die Schweiz bei diesem Thema?
Die Wirkung von Fake-News gibt Grund zur Sorge vor allem für die klassischen Medien. Die Forschung zeigt aber auch, dass wir das Thema in der Schweiz, und global, überschätzen.
«Die Medien sollten erklären, was sie tun.»
Nathalie Pignard-Cheynel
1Wir überschätzen Fake-News?
Das ist ein heikles Thema, bei dem sich persönliche Eindrücke, öffentliche und politische Diskurse mit wissenschaftlicher Forschung vermischen. Letztere, insbesondere in den Sozialwissenschaften, zeigen, dass dieses Phänomen komplexer ist als die Vorstellung einer Flut von Fake News, die uns überrollt und uns mechanisch beeinflusst. Es handelt sich zwar um ein wachsendes Phänomen. Aber viele Studien zeigen, dass Fake News einen begrenzten Personenkreis erreichen und auf ihn einwirken, oft über die von Algorithmen erzeugten Filterblasen. Sie erreichen Menschen, die bereits empfänglich oder sogar von den Theorien, die sie verbreiten, überzeugt sind. Deshalb müssen wir darauf achten, dieses Phänomen nicht zu überschätzen und unbeabsichtigt an seiner Verstärkung mitzuwirken.
Trifft das auch auf die Schweiz zu?
Unmittelbar vor der Covid-Pandemie hatten wir eine Studie initiiert, die uns gezeigt hatte, dass die Desinformation in der Schweiz weniger massiv war als in anderen Ländern, insbesondere in den Nachbarländern. Covid hat diese Beobachtung etwas erschüttert, da sich insbesondere in der Schweiz verschiedene Verschwörungstheorien, beispielsweise im Zusammenhang mit Impfungen, entwickelt haben.
Wie kann man diese Fake News bekämpfen?
Für die traditionellen Medien stellt dies eine große Herausforderung dar. Der Kampf gegen Fake News muss ihnen so sinnlos erscheinen, als würde man versuchen, einen Ozean mit einem Teelöffel auszuschöpfen, auch wenn es sich dabei um den Kern ihres Berufs handelt: die Suche nach der Wahrheit. Der Faktencheck, der darauf abzielt, das Wahre vom Falschen zu entwirren, ist eine Praxis, die in den Medien immer weiter entwickelt wird. Im Rahmen meiner Recherchen habe ich jedoch festgestellt, dass sich junge Menschen kaum für das reine Prüfen der Fakten interessieren. Sie sind der Meinung, dass ein Thema oft komplexer ist, als es scheint, und dass es nicht ausreicht, es als wahr oder falsch zu bezeichnen. Was sie interessiert, ist in die Komplexität des Verständnisses für das Phänomen einzutauchen. Sie erwarten von den Journalist:innen mehr, die verschiedenen Meinungen aufzuzeigen, zu erklären, dass von dieser Seite Fake-News kommen und einzuordnen, weshalb jemand Fake-News verbreitet. Hier gibt es für die Medien viel zu tun. Sie haben bereits begonnen, diese komplexen Phänomene zu entschlüsseln.
Aber besteht nicht die Gefahr, dass Fake-News Glaubwürdigkeit erhalten, wenn man sich zu stark mit ihnen beschäftigt?
Es ist in der Tat eine heikle Aufgabe, zu vermeiden, dass man Fake News Glaubwürdigkeit verleiht, indem man die Fakten überprüfen will. Studien, vor allem aus den USA, zeigen, dass Fake News gerade dann an Bedeutung und Legitimität gewinnen, wenn die traditionellen Medien sie aufgreifen. Selbst wenn es darum geht, sie zur Diskussion zu stellen und einen Faktencheck durchzuführen, wird das Thema paradoxerweise in den Vordergrund gerückt. Fake News erreichen die breite Öffentlichkeit durch die Berichterstattung in den Medien, während sie im digitalen Raum auf bestimmte Kreise beschränkt bleiben können. Dies ist besonders problematisch, wenn einige politisierte Medien sich dafür entscheiden, Fake News «reinzuwaschen», indem sie sie als klassische Nachrichten behandeln.
Was können die Medien sonst noch tun, um Fake News zu bekämpfen?
Eine Massnahme, die zunehmend eingesetzt wird und an der sich die Medien beteiligen, ist die Stärkung der litteracies, insbesondere der Medien- und Informationskompetenz. Dabei geht es darum, die Bürger:innen dabei zu unterstützen, einen kritischen Blick auf Inhalte zu entwickeln. Und auch ihr Wissen über die Informationsproduktion zu verbessern, wie die Medien funktionieren, wie sie finanziert werden, etc. Unwissenheit nährt Misstrauen. Die Medien müssen erklären, was sie tun. Sie dürfen Vertrauen nicht als selbstverständlich ansehen.
Ist das neu?
Das war auch früher schon so, aber durch die explosionsartige Vervielfältigung der Informationsquellen wird diese Anforderung noch stärker. Bei der Vielzahl an Versionen ein und derselben Information wird man dazu angehalten, ständig zu zweifeln. Die Medien müssen daher ihre Arbeitsweise transparent machen. Was ist ihre redaktionelle Linie, wie werden die Themen ausgewählt und aus welchem Blickwinkel werden sie behandelt? Menschen, die mit der Welt der Medien nicht besonders vertraut sind, haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der Journalismus funktioniert. Wenn man auf die Öffentlichkeit zugeht und sie einbezieht, kann dies dazu beitragen, dass die Menschen erkennen, dass der Journalismus unverzichtbar ist und dass die von ihm produzierten Informationen wichtig und relevant sind.
Welche Rolle spielen die Eigentümer:innen von Medienunternehmen? Wäre eine Stiftung als Eigentümerin ideal, um unabhängigen Journalismus zu garantieren?
Es gibt eine Debatte über staatliche Hilfen für den Sektor. Dies ist ein interessanter Weg, aber er erfordert Leitplanken, insbesondere im Hinblick auf die redaktionelle Unabhängigkeit. Die Transparenz muss erhöht werden, insbesondere um zu erklären, wie und von wem die Informationen finanziert werden. Es ist auch wichtig, die Grenzen der Transparenz innerhalb der Medien und mit der Öffentlichkeit zu diskutieren.
Welche Art von Grenzen?
Journalistische Arbeit ist nicht per Definition ein transparenter Akt. Einige Prinzipien, wie der Quellenschutz, können sogar von der Transparenz abgrenzen. Untersuchungen haben auch gezeigt, dass Transparenz in einigen Fällen das Verständnis der Öffentlichkeit beeinträchtigen kann. Es handelt sich also um eine Praxis, die in den Redaktionen eindeutig verstärkt werden kann, wobei ihre Umsetzung und ihre Auswirkungen hinterfragt werden müssen.
Haben die Medien ihre Relevanz durch Infotainment nicht selbst beschädigt?
Diese Behauptung vertritt die Idee eines politischen Journalismus, der als vierte Gewalt im Staat wie ein Wachhund agiert. Das ist natürlich eine sehr wichtige Aufgabe. Allerdings gibt es nicht den Journalismus, sondern eine Vielzahl von Journalismen. Bestimmte Formen des Journalismus, die eher dienstleistungsorientiert, volkstümlich und alltagsorientiert sind, sind ebenso nützlich und wichtig, insbesondere für die Öffentlichkeit. Bei der Art und Weise, wie Informationen aufbereitet werden, bin ich ebenfalls davon überzeugt, dass es möglich ist, bestimmte Themen äußerst ernsthaft anzugehen, aber mit einem anderen Ton, der leichter, menschlicher und intensiver sein kann. Diese neuen Wege können dazu führen, dass die Unterscheidung zwischen Unterhaltung und Information neu überdacht wird. Diese Unterscheidung ist natürlich von entscheidender Bedeutung und bildet die Grundlage für die Arbeit von Journalist:innen, die darin besteht, Informationen zu produzieren. Aber vielleicht sollte man eher Brücken in Betracht ziehen.