Die Menschen in der Schweiz stehen dem Begriff Vielfalt grundsätzlich positiv gegenüber. Ihre Daten zeigen bei allen Themen ein grosses, neutrales Mittelfeld. Trotzdem sprechen die Medien von einer zunehmend polarisierten Gesellschaft. Haben Sie eine Erklärung für diese Diskrepanz?
Die Polarisierung kann zunehmen, ohne dass sie damit schon überhandgenommen hat. Gleichzeitig ist die Polarisierung – oder generell Konflikte – ein Thema, das sich medial gut verkaufen lässt und sich auch auf Social Media nur schon aufgrund der Algorithmen schnell verbreitet. Menschen ärgern sich etwa über Tweets, kommentieren sie und verhelfen damit einer geäusserten Meinung zu noch mehr Aufmerksamkeit. Diese Polarisierung findet dann aber oftmals bei relativ kurzlebigen Aufregerthemen statt, etwa, ob eine Band irgendwo spielen darf oder eine Boxerin wirklich eine Frau ist. Da scheint es medial wirklich so, dass niemand mehr neutral bleibt. Einige Wochen später ist das Thema vergessen.
Bei der Frage zur Einstellung zu spezifischen Gruppen fällt auf, dass die Befragten negative Gefühle haben «gegenüber fiktiven Nachbar:innen, die muslimisch sind, über einen Asylstatus verfügen oder SVP-Sympathisant:innen sind». Was verbindet diese Themen, die negative Gefühle auslösen?
Jede zweite Person mit Sympathie für die SVP hegt negative Gefühle gegenüber Asylsuchenden oder Muslimen. Diese Abneigung führt wiederum zu einer Abneigung gegenüber SVP-Sympathisant:innen vonseiten all jener, die offener gegenüber Minderheiten sind. Es ist eine Intoleranz gegenüber der Intoleranz. Das führt dazu, dass sich einige Rechte ihrerseits quasi als unterdrückte Minderheit sehen, wenn man gewisse Dinge «nicht mal mehr sagen darf» und anscheinend alles toleriert wird, nur ihre Meinung nicht.
Es ist eine Intoleranz gegenüber der Intoleranz.
Jakub Samochowiec ist Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon.
Sie stellen fest, dass jüngere Menschen sehr polarisiert sind gegenüber Minderheiten. Sehen Sie auch Ursachen dafür?
Über Ursachen kann ich nicht sprechen, jedoch über Muster. Was auffällt, ist, dass es vor allem junge Männer mit geringer Bildung sind, die negative Gefühle gegenüber Homosexuellen, Veganer:innen oder Transpersonen haben – also gegenüber jenen Gruppen, bei denen man von einer progressiven Jugend positive Gefühle erwarten würde. Die progressive Jugend wird jedoch von eher gut gebildeten Frauen repräsentiert, die sich für Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit einsetzen. Vielleicht liegt die Ursache dieser Abneigung auch eher in der Frustration, nicht mehr gehört und gesehen zu werden.
Um die Daten zu erheben, haben Sie qualitative Interviews und quantitative Befragungen durchgeführt. Gab es bei den beiden Methoden Unterschiede bezüglich der Ergebnisse?
Bei der qualitativen Methode, also in den Diskussionen, wird eher über Einzelpersonen gesprochen – über den türkischen Nachbarn, die lesbische Verwandte. Während rechtskonservative Menschen in der Umfrage als eher intolerant gegenüber diesen Gruppen wirkten, zeigte sich in den Gesprächen, dass sie gegenüber einzelnen Individuen durchaus positive Einstellungen hatten. Einerseits sind ihre Einstellungen sicher viel komplexer, als einfach alles Fremde zu verteufeln. Teilweise haben Menschen auch schlicht nur mit der Anzahl Mühe und nicht mit einzelnen Individuen. Andererseits kommt da aber sicher auch das Phänomen zum Tragen, dass diejenigen, die man kennt, die «guten Ausländer» sind.
Die Studie kommt zum Schluss, dass viele Menschen in der Schweiz in einer Bubble leben. Zwei Drittel der Armen und der Reichen kennen niemanden aus der anderen Gruppe. Das Gleiche bei den Bildungsschichten: Erkennen diese Menschen, dass sie in einer Bubble leben?
Die meisten Menschen sind sich dessen wohl bewusst. Wobei dieses Bewusstsein oftmals stärker in Bezug auf typische Vielfaltsmerkmale wie Hautfarbe oder sexuelle Identitäten vorhanden ist. Dimensionen wie die finanzielle Situation sind meist weniger präsent, so wie sich auch die mediale Diskussion insgesamt von Klassenthemen hin zu Identitätsthemen bewegt hat.
Wollen die Menschen keinen Kontakt zu denjenigen aus anderen Gruppen?
Solche Menschen gibt es durchaus. Die Mehrheit wäre jedoch offen für Kontakte zu anderen Gruppen. Sie ergeben sich einfach nicht, weil wir oft schon strukturell segregiert sind. Wir wohnen in Nachbarschaften mit tendenziell ähnlicher Vermögenssituation. In der Schule werden wir schon früh in Leistungsstufen eingeteilt zusammen mit denjenigen, die uns ähnlich sind.
Als Individuum kann man sich freiwillig engagieren oder einem Verein beitreten.
Jakub Samochowiec
Ist das Streben nach einem homogenen Umfeld denn nicht normal?
Einerseits stimmt das sicher. Gleichzeitig sind aber auch Neugier, das Streben nach «dem anderen» normal. Dieser Zwiespalt äussert sich darin, dass etwa Deutschschweizer offener sind gegenüber Menschen aus dem Tessin als gegenüber Asylsuchenden. Man macht kleine Schritte in Richtung des Neuen. Und hat man schon Kontakt mit Tessiner:innen, dann kann der nächste Schritt folgen.
Wie lassen sich die Kontakte zwischen den Gruppen stärken und welche Rolle spielen der Arbeitsplatz, die Rekrutenschule oder Vereine?
Der Arbeitsplatz ist neben dem Freundeskreis der Ort, an dem sich viele unterschiedliche Menschen treffen. Am Arbeitsplatz finden sich zum Teil auch Gruppen, die einander gegenüber vielleicht noch Vorbehalte haben. Man kann sich die Arbeitskolleg:innen nur bedingt aussuchen. Ein Arbeitgeber kann jedoch dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Arbeitnehmenden miteinander in Kontakt kommen und die jeweiligen Abteilungen sich nicht abkapseln. Wir haben auch gesehen, dass ärmere und weniger gebildete Menschen auch ein weniger vielfältiges Umfeld haben. Hier kann man mit Sozialpolitik auch den sozialen Reichtum fördern. So hat beispielsweise das 9‑Euro-Ticket in Deutschland dazu geführt, dass sich Armutsbetroffene wieder Reisen zu ihren Freunden leisten konnten. Als Individuum kann man sich freiwillig engagieren oder einem Verein beitreten. Zumindest sind das die Tätigkeiten, die in der Umfrage bezüglich der Vielfalt als die förderlichsten beurteilt wurden. Grundsätzlich scheinen jedoch die meisten Tätigkeiten Vielfalt zu fördern.
Die neue Studie «Gemeinsam verschieden? Die grosse Schweizer Vielfaltsstudie» hat das Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) im Auftrag des Migros-Kulturprozent erarbeitet.