Millio­nen von Gehir­nen mobilisieren

Mit kollektiver Intelligenz lassen sich Lösungen für Probleme wie den Klimawandel finden, sagt Geoff Mulgan, Professor am University College London. Philanthropie könnte dabei eine wichtige Rolle einnehmen. Doch das tut sie bisher nicht.

Heraus­for­de­run­gen wie die Klima­er­wär­mung oder die unglei­che Vertei­lung des Wohl­stands verlan­gen, dass sich unsere Gesell­schaft ändert. Was hindert uns daran, dass wir das schaffen?

Uns fehlt aktu­ell die kollek­tive Vorstel­lung einer besse­ren Zukunft. Viele Menschen können sich eine ökolo­gi­sche Kata­stro­phe vorstel­len oder die tech­no­lo­gi­sche Entwick­lung, nicht aber, wie eine bessere Gesell­schaft, die Demo­kra­tie oder die Wohl­fahrt in 40 Jahren ausse­hen könnte. Wir haben eine Krise der Vorstel­lungs­kraft. Der Phil­an­thro­pie kommt eine entschei­dende Rolle zu, damit wir den Weg aus dieser finden.

Weshalb gerade die Philanthropie?

Fast die einzi­gen, die noch in posi­tive Zukunfts­bil­der inves­tie­ren, sind heute Tech­no­lo­gie­un­ter­neh­men. Univer­si­tä­ten haben ihre Rolle aufge­ge­ben, die sie in diesem Bereich hatten, genauso wie poli­ti­sche Parteien und soziale Bewe­gun­gen. Deshalb ist hier die Phil­an­thro­pie gefor­dert. In England hat bspw. der grösste phil­an­thro­pi­sche Förde­rer das Programm Emer­ging Futures gestar­tet. Lokale Gemein­schaf­ten entwi­ckeln in Projek­ten eine gemein­same Vorstel­lung ihrer Zukunft. 

Wie wich­tig sind diese posi­ti­ven Zukunfts­bil­der für das Finden von Lösungen?

Neben einer effi­zi­en­ten Umset­zung ist vor allem diese gemein­same Vorstel­lung essen­ti­ell, um Probleme zu lösen. Denn ohne die Vorstel­lungs­kraft fehlt die Rich­tung für die Lösungs­fin­dung. Oft stehen wir heute leider genau dort.

Dennoch glau­ben Sie an einen Wandel unse­rer Gesell­schaft zum Positiven?

Ja. Denn ich habe ihn erlebt. Ich habe in Regie­run­gen von Städ­ten und Natio­nen gear­bei­tet, für NGOs Geschäfte entwi­ckelt und eine Stif­tung gelei­tet. In all diesen Funk­tio­nen habe ich erlebt, dass wir Wirt­schaft und Gesell­schaft trans­for­mie­ren können – und zwar ziem­lich grund­le­gend. Wohl über­schät­zen wir oft, was kurz­fris­tig möglich ist. Gleich­zei­tig unter­schät­zen wir, was lang­fris­tig erreicht werden kann. Damit der Wandel aber statt­fin­det, muss jemand die kollek­tive Intel­li­genz organisieren. 

Wer könnte das tun? 

Die Phil­an­thro­pie könnte bei dieser Aufgabe eine bedeu­tende Rolle einneh­men, nur macht sie dies nicht.

Weshalb macht sie das nicht?

Die kurze Antwort: Niemand macht das. 

Und die ausführliche?

Ich beschäf­tige mich seit 30 Jahren mit Net-Zero. Vor 20 Jahren habe ich an der Entkar­bo­ni­sie­rungs­stra­te­gie für England gear­bei­tet, die dazu beigetra­gen hat, die Emis­sio­nen zu halbie­ren. Das Faszi­nie­rende an der Klima­wan­del-Thema­tik ist, dass die Welt gute kollek­tive Diagnose-Werk­zeuge entwi­ckelt hat, wie den 1988 gegrün­de­ten Inter­go­vern­men­tal Panel on Climate Change IPCC. Tausende Wissenschaftler:innen waren invol­viert. Für die Erar­bei­tung von Lösun­gen fehlt dage­gen eine gleich­wer­tige Orga­ni­sa­tion. Zwar enga­gie­ren sich Regie­run­gen und Univer­si­tä­ten ein wenig. Doch insge­samt klafft hier eine Lücke. Bei ande­ren gros­sen gesell­schaft­li­chen Heraus­for­de­run­gen wie der unglei­chen Vertei­lung des Wohl­stands oder bei psychi­schen Gesund­heits­pro­ble­men zeigt sich dasselbe Bild. Wissen und Daten sind welt­weit vorhan­den. Aber wir nutzen sie nicht, um eine Lösung zu finden. Es fehlt die Orga­ni­sa­tion dieser Daten und des Wissens. 

«Die Phil­an­thro­pie hat lange darauf gewar­tet, dass die Instru­mente für diese Metho­den zur Verfü­gung gestellt werden. Nun, jetzt sind sie vorhan­den und können verwen­det werden.»

Geoff Mulgan,
Univer­sity College London

Und hier sehen Sie eine Rolle für die Philanthropie?

Ja. Ich möchte Stif­tun­gen ermu­ti­gen, sich mit diesen Lücken zu befas­sen. Denn die grund­le­gende Orga­ni­sa­tion von Intel­li­genz fehlt insbe­son­dere in den Feldern, in denen sich Phil­an­thro­pie enga­giert. Deswe­gen arbei­tet Phil­an­thro­pie viel weni­ger effi­zi­ent als möglich. Das führt zu einer gros­sen Verschwen­dung von Ressour­cen und bringt Doppelspurigkeiten.

Weshalb nimmt sich Phil­an­thro­pie dieser Aufgabe nicht an?

Es handelt sich um wenig spek­ta­ku­läre Grund­la­gen­ar­beit. Dabei muss nicht alles von einer Insti­tu­tion alleine oder von Grund auf neu gemacht werden. Vieles ist schon da: Neben der Krea­tion ist deswe­gen auch das Kura­tie­ren von Wissen entscheidend.

Das klingt abstrakt. Wie orga­ni­siert man kollek­tive Intelligenz? 

Meist geschieht dies auf drei Wegen. Erstens: Die Menschen werden in die Beob­ach­tung eines Phäno­mens invol­viert, bspw. das Zählen von Vögeln oder die Beob­ach­tung von Sympto­men bei einer Pande­mie. Zwei­tens können sie an der Lösungs­fin­dung parti­zi­pie­ren und Vorschläge machen. Die Welt­raum­be­hörde Nasa nutzt diese Möglich­keit bereits stark. Drit­tens kann man die Öffent­lich­keit bei der Imple­men­tie­rung der Mass­nah­men einbin­den. Bei allen drei Wegen zeigt sich, dass es hilft, wenn viele Menschen ihre Beob­ach­tun­gen und Entde­ckun­gen teilen und in die Lösungs­fin­dung einbe­zo­gen sind.

Und was macht diesen Ansatz so viel besser? 

Wir können damit Millio­nen von Gehir­nen mobi­li­sie­ren und nicht nur ein paar ausge­wählte Professor:innen an Univer­si­tä­ten. Gerade bei komple­xen Frage­stel­lun­gen ist das match­ent­schei­dend. Global funk­tio­nie­ren bereits zahl­rei­che Projekte auf diese Weise. Die Verein­ten Natio­nen haben bereits Acce­le­ra­tor Labs in 100 Ländern lanciert. Auch viele Städte und Länder nutzen Metho­den kollek­ti­ver Intel­li­genz, um Nach­hal­tig­keits­ziele zu errei­chen. Mir scheint es, dass die Phil­an­thro­pie lange darauf gewar­tet hat, dass die Werk­zeuge für diese Metho­den zur Verfü­gung stehen. Sie sind jetzt bereit.

«Ohne die Kraft der Vorstel­lung fehlt uns die Rich­tung, die wir brau­chen, um Lösun­gen zu finden.»

Geoff Mulgan,
Univer­sity College London

Warum führen diese Metho­den zu besse­ren Lösungen? 

Weil wir den Prozess der Problem­lö­sung öffnen. Er wird dadurch objek­ti­ver, weil wir tatsäch­lich erle­ben, welche Antwor­ten wirk­lich eine Wirkung haben. Das alte Modell, einfach einen Univer­si­täts­pro­fes­sor beizu­zie­hen oder eine Regie­rungs­um­frage zu star­ten, ist anachro­nis­tisch. Die Repu­ta­tion einer Insti­tu­tion garan­tiert nicht, dass eine Lösung funk­tio­niert. Trotz­dem tendiert die Phil­an­thro­pie weiter dazu, Gelder an ange­se­hene Univer­si­tä­ten zu spre­chen, an Harvard, Cambridge oder die ETH. Auch wenn an diesen Insti­tu­tio­nen sehr intel­li­gente Menschen arbei­ten, ist diese Methode inef­fi­zi­ent. Die kollek­tive Methode ist offe­ner, objek­ti­ver und inklusiver.

Bergen kollek­tive Metho­den nicht die Gefahr, dass gehört wird, wer seinen Input am lautes­ten einbringt?

Die Lautes­ten, Extro­ver­tier­tes­ten oder Mäch­tigs­ten domi­nie­ren tradi­tio­nel­ler­weise die Lösungs­fin­dung. Dieses Phäno­men zeigt sich sehr konkret auch in Sitzun­gen. Dabei gibt es inter­es­sante Struk­tu­rie­rungs­me­tho­den von Sitzun­gen, um die kollek­tive Intel­li­genz der Gruppe zu maxi­mie­ren. Open Space oder ein World Cafe gehö­ren zum Reper­toire und im Bereich der kollek­ti­ven Intel­li­genz werden viele Metho­den entwi­ckelt, die noch viel weiter gehen. 

Doch es wird nicht ausgeschöpft?

Ich habe eine Umfrage bei Topuni­ver­si­tä­ten und Parla­men­ten gemacht. Sie nutzen diese nicht und auch im Main­stream sind diese Metho­den nicht ange­kom­men. Die Phil­an­thro­pie könnte hier also viel bewe­gen, indem sie diese Metho­dik verbrei­tet und die Nutzung von kollek­ti­ver Intel­li­genz damit verbes­sert. So gibt es heute kaum syste­ma­ti­sche Auswahl­ver­fah­ren, die uns unter­stüt­zen, jene Methode zu finden, die für eine bestimmte Aufgabe die geeig­nete ist. Dabei stünde schon heute Tech­no­lo­gie zur Verfü­gung, welche die kollek­tive Intel­li­genz in Sitzun­gen verbes­sert. Das taiwa­ne­si­sche Parla­ment etwa nutzt das Tool Pol.is. Dieses zeigt die Muster von Meinun­gen in einer gros­sen Gruppe und unter­stützt den Prozess um zu einem Konsens zu gelan­gen. Auch wenn am Ende die Minis­ter und das Parla­ment entschei­den, invol­viert die Regie­rung eine grosse Anzahl von Menschen in die Debat­ten. So beruht der Entschei­dungs­pro­zess auf der kollek­ti­ven intel­li­genz der Gesell­schaft und nicht einer klei­nen Gruppe. Demo­kra­tien mit kollek­ti­ver Intel­li­genz sind eine gesunde Alter­na­tive zu auto­ri­tä­rem Popu­lis­mus, der Macht auf eine Person beschränkt. 

Im Moment redet die Welt eher von künst­li­cher – KI – als von kollek­ti­ver Intel­li­genz. Macht KI die kollek­tive Intel­li­genz obsolet?

Das Gegen­teil ist der Fall. Die meis­ten Appli­ka­tio­nen, die mit Künst­li­cher Intel­li­genz Lösun­gen für soziale Probleme bieten wollen, sind enttäu­schend. Aber die Kombi­na­tion ist effek­ti­ver. Es gibt zwar keine KI, die eine Net-Zero-Stra­te­gie für die Schweiz entwi­ckeln kann. Aber es gibt zahl­rei­che Möglich­kei­ten, kollek­tive Intel­li­genz mit KI zu verbin­den, um die Lösungs­fin­dung zu erleich­tern. Vor einem Jahr habe ich mit Kolleg:innen einen Report für die UN zu kollek­ti­ver Intel­li­genz und KI erstellt. Er enthält verschie­dene Praxis­bei­spiele aus der Flücht­lings­un­ter­stüt­zung, den Kampf gegen die Arbeits­lo­sig­keit oder den Abfall, die zeigen, wie kollek­tive Intel­li­genz und KI zusam­men genutzt werden können. 

Wird KI immer nur Teil der Lösung sein oder ist es denk­bar, dass sie in Zukunft alleine die Lösung ist?

Noch ist KI nicht sehr gut im Lösen komple­xer Probleme. Gut funk­tio­niert sie, wenn sie bei einer Frage auf eine breite Daten­ba­sis zurück­grei­fen kann. Aber auch die Daten sind Teil der Problem­lö­sung. Der Umgang mit ihnen weist Verbes­se­rungs­po­ten­zial auf. 

Was läuft falsch?

Eine Frage­stel­lung, mit der sich unsere Gesell­schaft beschäf­ti­gen sollte ist, wem die Daten gehö­ren, neu orga­ni­sie­ren. Wir brau­chen Daten­in­ter­me­diäre, die diese schüt­zen und zur Verfü­gung stel­len um den sozia­len und öffent­li­chen Wert der Daten zu maximieren.

Eine Aufgabe für Google und Facebook?

Nein. Google oder Face­book wollen die Daten besit­zen und den priva­ten Wert maxi­mie­ren, aber nicht für die Gesell­schaft zur Verfü­gung stel­len um so den öffent­li­chen Wert zu maxi­mie­ren. Es ist wich­tig, dass wir Daten nicht als voll­kom­men privat anse­hen. Wegen der Diskus­sion um diese beiden Pole haben wir Jahre verlo­ren. Wir müssen Insti­tu­tio­nen schaf­fen, die wir brau­chen. Die Insti­tu­tio­nen müssen die Daten, bspw. der Mobi­li­tät oder im Gesund­heits­we­sen, bewah­ren und schüt­zen und gleich­zei­tig zugäng­lich machen. Ich hoffe, dass uns da in diesem Jahr­zehnt gelingt. Auch diese Aufgabe könnte die Phil­an­thro­pie über­neh­men – doch sie spielt hier bisher keine Rolle. 

StiftungSchweiz engagiert sich für eine Philanthropie, die mit möglichst wenig Aufwand viel bewirkt, für alle sichtbar und erlebbar ist und Freude bereitet.

Folgen Sie StiftungSchweiz auf

-
-